Rezensionen von Bernhard Sandbichler
- Bernhard Aichner, Totenfrau [Juli 2014]
- Irene Heisz, Julia Hammerle, Tirol - hoch hinaus und tief verwurzelt [Juli 2014]
- Judith W. Taschler, Roman ohne U. [Juli 2014]
- Norbert Gstrein, Eine Ahnung vom Anfang [Jan. 2014]
- Christoph W. Bauer, In einer Bar unter dem Meer [Jan. 2014]
- Herbert Rosendorfer, Die Kaktusfrau [Dez. 2012]
- Margit Knapp, Die Überwindung der Langsamkeit [Dez. 2012]
- Judith W. Taschler, Sommer wie Winter [Aug. 2011]
- Bernhard Aichner, Die Schöne und der Tod [Aug. 2010]
- Josef Oberhollenzer, Der Traumklauber [Juni 2010]
- Raoul Schrott, Die Blüte des nackten Körpers [Mai 2010]
- Christoph W. Bauer, Der Buchdrucker der Medici [Jän. 2010]
- Erika Wimmer, Die dunklen Ränder der Jahre [Okt. 2009]
- Alois Hotschnig, Im Sitzen läuft es sich besser davon [Okt. 2009]
- Sabine Groschup, Tim und die Blumen [Aug. 2009]
- Ulrich Ladurner, Solferino [Aug. 2009]
- Heinz Gappmayr, auswahl [Aug. 2009]
- Thomas Schafferer, lyrik rocks [Mai 2009]
Thomas Schafferer, jahrzehnt ligurien
Thomas Schafferer, fujiyama hinter dächern – 4013 stunden ...
Thomas Schafferer, Kaiserschmarrn - Reinhold Messner, Torre. Schrei aus Stein [April 2009]
- Georg Paulmichl, Der Georg [April 2009]
- Jeannine Meighörner, Starkmut [März 2009]
Sonja Ortner & Verena Wolf, Als ich Ander Hofer traf [März 2009]
Jochen Gasser & Norbert Parschalk, Andreas Hofer [März 2009] - Homer, ILIAS [März 2009]
- Christoph W. Bauer, Graubart Boulevard [Jan. 2009]
- Walter Klier, Leutnant Pepi zieht in den Krieg [Sept. 2008]
- Hans Platzgumer, Weiß [Mai 2008]
- Angelika Rainer, Luciferin [Mai 2008]
- Irene Prugger, Schuhe für Ruth [März 2008]
- Anton Holzer, Die andere Front [Nov. 2007]
- Raoul Schrott (Hg.), N. C. Kaser – Elementar. Ein Leben in Texten und Briefen [Okt. 2007]
- Ruth Oberrauch (Hg.), Appetit auf Lesen [Sept. 2007]
- Gerhard Ruiss/Oswald von Wolkenstein, Und wenn ich nun...[Aug. 2007]
Oswald von Wolkenstein, Lieder [Aug. 2007] - Paul Flora, Wie's halt so kommt [Aug. 2007]
- Alois Schöpf, Vom Sinn des Mittelmaßes [Juni 2007]
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Ingrid Strobl, Ich hätte sie gerne noch vieles gefragt [Dez. 2006]
Bernhard Kathan, Nichts geht verloren [Dez. 2006] -
Oswald Egger, Prosa, Proserpina, Prosa [März 2005]
Raoul Schrott, Weissbuch [März 2005] - Raoul Schrott, Khamsin [Juli 2002]
Bernhard Aichner, Totenfrau. Thriller. Bernhard Aichner ist am Zenit angekommen und strahlt. Am Bücherhimmel gibt es ja viele Gestirne, manche sieht man mit freiem Auge nicht, andere leuchten so stark, dass sie einen unübersehbar blenden, viele changieren irgendwo dazwischen. Wie es dazu kommt, ist jeweils interessant. Wie also kommt es bei diesem Autor zum unübersehbaren Funkeln? |
Irene Heisz, Julia Hammerle, Tirol - hoch hinaus und tief verwurzelt. Von Zugspitzblick bis Aguntum. Magische Zahlen für Reisende |
Es gibt Robert Walsers Mikrogramme Aus dem Bleistiftgebiet und Daniil Charms Miniaturen aus dem Archipel Gulag; es gibt Italo Calvinos Cosmicomics aus den unendlichen Weiten der Science Ficton und Claudio Magris‘ Microcosmi aus den Détails der großen Welt; es gibt schließlich Ingo Schulzes Simple Storys aus der ostdeutschen Provinz und Judith Hermanns Geschichten aus dem Berlin der 1990er-Jahre; und endlich – um regional näher zu rücken – gibt es Irene Pruggers Erzählungen am Scheideweg der Geschlechter und, ja, jetzt gibt es Christoph W. Bauers Erzählungen „In einer Bar unter dem Meer“. Warum werden sie gerade dort erzählt? (Denn „In einer Bar unter dem Meer" ist keine titelgebende Story, sondern der Titel von Bauers erstem Erzählungsband. Das Meer kommt nur als „Dahingeplätscher, das Emira ans Meer denken ließ“ vor, und die Bar durchaus oberirdisch als „Stammkneipe“ etwa, die eine Figur „ansteuerte“, ein gewisser Landmann, der „eine Frau in seinem Rücken laut und deutlich ‚Arschloch‘ sagen hörte.“) Nun, man mag sich die Literatur wie ein riesengroßes Meer vorstellen. Leicht möglich, dass ein Autor die Orientierung verliert ob der Weite. Oder aber er sondiert die Lage und nimmt das Steuerrad in die Hand, um von lyrischen und prosaischen in epische Gewässer zu gelangen. Wer kundig ist, wird einen guten Lotsen anheuern, Tschechow etwa, der seinen Figuren folgt und Umstände dann weglässt und verknappt. Und die Bar „unter dem Meer“? Hier muss es jedenfalls ruhig zugehen, hier lässt es sich gut beobachten, eventuell auch, wie andere Meereskundige dieses elementare Reich durchpflügen. Warum aber überhaupt sollte man so ein Aufheben machen um Erzählungen? Einfach deshalb, weil es noch immer und wieder das Klischee gibt, dass Literatur-Aficionados Erzählungen nicht kaufen und nicht lesen. Warum eigentlich, bitte schön?! Es ist eine ungemeine Lust, Erzählungen zu lesen, so auch diese, weil sie auf kleinem Raum große Vielfalt zulassen. Die Schwedische Akademie hat heuer eine «Meisterin der zeitgenössischen Kurzgeschichte» nobilitiert, sie ist, so wollen es die Medien „die kanadische Antwort auf Tschechow“. Sie ist „eine Meisterin der Knappheit“ (Die Zeit) sowieso, „Melancholie färbt ihre Sprache“ (Tagesspiegel), „stupende Menschenkenntnis“ und ein „denkbar abwechslungsreicher, technisch höchst entwickelter, dennoch scheinbar simpler“ Erzählstil sind ihre Atouts (Die Welt). Munro, so sagt Jonathan Franzen, habe Tschechow sogar übertroffen – und der war doch nun wirklich kein Anfänger! Wie auch immer, und zurück zum 'jungen Mann und dem Meer': Bauer bleibt in jedem Fall auf hoher See, das hier ist nichts Seichtes. Mit der ihm eigenen Bescheidenheit würde er sich – angesichts der genannten Meister – sicher als Geselle einstufen, aber die hier abgelieferten Erzählungen sind beileibe nicht bloße Gesellenstücke. Munro mag im besten Sinn altmeisterlich sein, Bauer ist im besten Sinn neumeisterlich. Er verkörpert nicht Klassisches, sondern kommt doch viel eher von der coolen Lakonik der Amerikaner. An den alten, immer wieder neuen Raymond Carver erinnert das, mit einem bissig witzigen Schuss T. C. Boyle: „In einer Bar unter dem Meer“ das reimt sich ja nachgerade auf „Wenn der Fluß voll Whisky wär“. Aber nein, es ist nicht so wie bei Bauers Filmemacher in der Erzählung „Full Shot“, der „froh war, seine Ausbildung in den USA gemacht zu haben.“ Gute Plots, gekonnter Schnitt, rasant wechselnde Stillagen – das sind durchaus auch europäische Tugenden. Vielleicht sollte man einfach dazusagen, dass diese Erzählungen sehr originell, wohl überlegt und keinesfalls abgekupfert sind. Es macht wenig Sinn, hier Geschichten nachzuerzählen oder Passagen zu zitieren – man käme aus dem Zitieren gar nicht mehr heraus. Hier findet man einen kleinen Kosmos von 19 Geschichten, subtil vernetzte Erzählstoffe, die man unbedingt zur Lektüre empfehlen kann. Bauer liest auch noch sehr gut, daher auch Lesungen besuchen! Das Schönste aber überhaupt ist, und das spürt man bei jeder Zeile: Dieser Autor wird nicht stehen bleiben, er wird sich noch weiter entwickeln.
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Raoul Schrott, Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren. |
Unlängst hat der Pariser Autor Eric-Emmanuel Schmitt in der Innsbrucker Buchhandlung Wiederin gelesen und wurde vom Publikum gefragt, wie er denn zum Schreiben kam – ein wahrer Klassiker unter Publikumsfragen an einen Autor. Bei Schmitt war's so, dass er a) als Autor eigentlich eine Folge des frustrierten Komponisten, der er auch war, ist; und b) schon immer geschrieben hat, wobei: Zuerst war bei ihm alles Geschriebene leer, erst nach einem mystischen Bekehrungserlebnis in der Sahara (er war vorher Atheist gewesen) füllte es sich mit Sinn. Jetzt ist er Bestseller-Autor. Ich denke mir, dass Thomas Schafferer, ganz wie sein Kollege Schmitt, b) schon immer geschrieben hat. Initiationserlebnisse in der Wüste dürften ihn aber wenig kratzen. Was ihm zu Sahara einfällt? Na, zum Beispiel unter dem Titel leger: „ob im saharasand/oder schneegestöber/bleiben sie immer/entspannt und leger // hier gibt Bestseller-Autor ist Thomas Schafferer noch keiner, vorerst erscheinen seine zahlreichen Bücher mit freundlichen Vorwörtern und in Verlagen mit fantasievollen Namen. Auch nahm seine Schriftstellerkarriere nicht den Umweg a) über den frustrierten Komponisten. Schafferer ist laut Selbstauskunft (Fußballer-)Schriftsteller-Maler-Konzeptkünstler-Kreativkopf, und das zufrieden und immerzu in einem. Er liebt die Pose und ist überhaupt mutig, um nicht zu sagen rotzfrech: Andere, womöglich ältere Zeitgenossen würden sich eventuell in Grund und Boden genieren, ihr Innerstes derart filterlos herauszuschreiben, ins Netz zu stellen oder/und zwischen Softcover-Buchdeckel zu drucken. Aber: Es gibt auch nichts Gutes, außer man tut es. Und Thomas Schafferer tut es eben. Ab den Hut vor so viel Mut! Richtig stimulierend kann zum Beispiel Schafferers lyrik rocks wirken, dieses Kalauern, das er so gut beherrscht. Beispiel: „ein einziger blick in die dorfdisko genügt: alles foxtrottel“ (trott); oder: „wussten sie schon, dass geisterfahrer total entgegenkommend sind?“ (übrigens schnell noch was...); oder: „kommt der begriff 'fungieren' aus der pilzzucht?“ ((etymo) logisch). Das sind richtige Schenkelklopfer, und wie gesagt keine schlechten. Prosaisch aufgelöst findet man das in den Kaiserschmarrn-Kurzgeschichten, kabarettartigen Satiren und Probierstücken. Kehren wir aber zum Vergleichen mit Kollegen zurück: Wie Goethe hat Schafferer eine Italienreise hinter sich, bzw. wieso eine? Es sind mehrere! Schafferer liefert hoch gespannte Erlebnislyrik davon, erste Einträge am 9. September 1992, letzte am 31.12.2006. Und selbstredend werden sie publiziert: zunächst im Eigenverlag, dann im Verlag pyjamaguerrilleros, schließlich im perspektivenverlag zu Kösching. In der Herausgabe seiner eigenen Schriften ist Schafferer nicht weniger akribisch wie der alte Goethe, ordnet neu, kommentiert, ebnet den Zugangsweg für den/die zeitgenössische/n Leser/in und die zukünftige Forschung. Wo, darf man im Übrigen zwischendurch fragen, hat eigentlich Goethe seine Erlebnis-Lyrik publiziert? Na, zum Beispiel in der "Iris", einer "Zeitschrift für Frauenzimmer", oder im handschriftlich verteilten "Tiefurter Journal" oder im "Teutschen Merkur", ja, und die "Römischen Elegien", "zwar schlüpfrig und nicht sehr dezent [...], aber zu den besten Sachen" gehörend (Schiller), gingen an die "Horen". Die besten Sachen von Schafferer – literarische Readymades gepaart mit foto-/grafischen (und hier fällt mir zum Vergleich nur der Name Schlingensief ein) – gehen an die Edition BAES. Es handelt sich um die Online-Tagebuch-Projekte 2005 stunden im netz und 2008 stunden im netz, die ursprünglich als Weblog auf www.schafferer.net erschienen. Obwohl das Buch sehr schön gemacht ist, gehören diese Dinge durchaus ins Netz. Denn Leserkommunikation wird in Bälde ohnehin übers Netz stattfinden. »Künftig«, meinte Jürgen Jeffe von der ZEIT in seinem Beitrag zum Welttag des Buches am 23. April 2009, »braucht ein Buch einen Autor, aber ein Autor kein Buch. Zumindest keines von Gewicht, das hergestellt, verpackt, verschickt und verkauft werden muss.« Schafferer gehört längst dieser buchlosen Generation an, auch wenn er hier einen Stapel von geschätzten anderthalb Kilo abliefert. Und er ist auf dem richtigen Weg. |
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»Geht doch nach Byzanz, da braucht ihr nichts zu wissen!« »spreitete« – diese Wortbildung verdanken wir übrigens dem Hopkins-Übersetzer und Lyriker Peter Waterhouse. Fallmerayer nun hat mit Übersetzer-Deutsch nur insofern zu tun, als Passagen seines »Berg Athos« in Klang und Ton an den deutschen Nachdichter Homers denken lassen, an Johann Heinrich Voß mithin. Das mag auch daran liegen, dass der Neuausgabe des »Glanzstücks seiner orientalischen Reisetexte« (NZZ, 05.07.2003) in der Edition Rætia eine CD beiliegt. Wie Gert Westphal hier Ausschnitte des Textes liest, kommt jener Intensität nahe, mit der Thomas Holtzmann die Voss’sche Odyssee-Version rezitiert.2) Schade nur, dass Westphal lediglich eine halbe Stunde liest (wo Holtzmann sich über 6 CDs ausbreiten darf)! Aber nun zurück vom Hörbüchlein zum Textbuch, das über 16 wunderbare S/W-Fotos von Wolfgang Pfaundler, 4 lakonische Stiche von Paul Flora (davon einer doppelt), ein ausführliches Nachwort der Herausgeberin Ellen Hastaba, und vor allem – auf 23 plus 43 Seiten schön gesetzt – Fallmerayers »Hagion-Oros oder der heilige Berg Athos«, Teil 1 plus 2, enthält. Wie Voss vermag er hier schwärmerische (und in seinem Fall orientalisierende) Idyllen zu bieten; aber seine satirisch-pointierte Feder stellt ihnen immer wieder okzidentale Anti-Idyllen gegenüber. Sie weisen ihn dann eben doch als Nachfolger Heines aus, ohne dass man freilich die spöttische Schärfe schmeckt, mit der dieser seine »Reisebilder« zuweilen überwürzt. Solcherart Polemik behielt Fallmerayer seinen Tagebüchern vor. Geschrieben hat der Byzantinist und Orientalist dieses und weitere »Fragmente aus dem Orient« zunächst für die seinerzeit weit verbreitete »Augsburger Allgemeine Zeitung«. Wiewohl er dem Feuilleton-Publikum gegenüber vorgab, diese Reiseepisoden direkt aus dem Tagebuch zu übernehmen, ist ebendiesem zu entnehmen, dass ihr Verfasser »sinnt und liest [und] auf der Hofbibliothek de fontibus nachsucht«, um seinen Elaboraten nur ja den gehörigen Schliff zu geben. Nach der ersten Lieferung des Athos-Fragments an die AAZ darf Fallmerayer so in sein Tagebuch notieren: »Der Artikel thut große Wirkung, ist Gegenstand aller Gespräche, selbst zu uncultivirten Geistern drang der Ruf, quod felix faustumque sit!« Für die Buchausgabe 1845 bei Cotta schließlich überarbeitet er die Fragmente teilweise nochmals. Sie sollte ihm höchstes Lob eintragen: »Um 6 Uhr warme Conferenz mit dem Kronprinzen [Maximilian], Dank und Enthusiasmus für die Vorrede und für das ganze Werk; große Wirkung, tiefer Eindruck; – gnädiger als je; Analyse der Vorrede und Beweise großer Huld.« Derartige Strebsamkeit sollte, so möchte man meinen, dem orientalischen Bohemien Fallmerayer eigentlich widerstreben. 1837, als die Lebensumstände den »Professor der Allgemeinen Geschichte am K. B. Lyceum zu Landshut«, der sich zuerst mit seiner umfänglichen Studie über die »Geschichte des Kaisertums von Trapezunt«, 1827 3), einen guten Ruf erworben hatte, für Jahre von jeglicher Lehrverpflichtung entbanden, hatte er sich ins Tagebuch geschrieben: »möchte [...] viel Geld um wie ein Afghane mit Niemanden etwas zu schaffen zu haben [...] Ich hätte nie geglaubt, dass ich nach dem arbeitsamen zehnjährigen Landshuterleben ohne Beschäftigung den Tag hinbringen könnte! Im Orient habe ich diese Kunst gelernt.« Wie solche Kunst aussieht? »Geht doch nach Byzanz, da braucht ihr nichts zu wissen!«, rät Fallmerayer dem Bildungsbürger des Okzident in Teil 2. »Wir haben eine Tyrannei der Bildung, des Progresses, der Doctrin, des feinen Tones und sind vor Allem genöthigt ›Esprit‹ zu haben und die neueste Wandelscala akademischer Geschmackssentenzen und Salondekrete über Wortconstruction, Bedeutung und Syntax zu kennen, um zu jeder Stunde ›auf der Höhe des Moments‹ zu seyn. Ach, welche Pein!« Fallmerayer, so suggerieren Text und Biografie des Autors, befand sich lieber auf der Höhe des Berges Athos, wo »es keine Akademie [gibt], keine Autoren, keine fortschreitende Bildung und Niemand liest ein Buch« – was für den gesamten Orient gilt, mithin auch für den Hagion-Oros. Nun, nicht jeder vermag sich derartig Eigenbrötlerisches zu leisten, und die Mönche vom Heiligen Berg Athos halten sich ja auch für Auserwählte, die untereinander freilich gleich sind: »Der Einsatz ist ja für alle gleich und morgen – das weiß der Diener – kann er an Reichthum und Macht über euch [europäische LeserInnen] stehen, was im hierarichisch gegliederten Zustande der abendländischen Gesellschaft unmöglich ist.« Die Zeit hier ist überhaupt stehen geblieben, und »käme jetzt St. Athanasius, der Hagion-Oros-Reformer, wieder aus dem Grabe in seine Laurakolonie zurück, er fände seine Mönche noch auf derselben Stelle geistiger Gymnastik, wo er sie vor 900 Jahren verlassen hat. Selbst die halbvollendete Phrase, bei der ihn der Tod überraschte, könnte er zu Jedermanns Verständniß im Style seiner Zeit ergänzen.« Schier unglaublich, was sich dort abspielt, ist für uns heutige wie für Fallmerayers damalige LeserInnen, die er – im Stil des gebildeten Essays – gern direkt anspricht: »Glauben Sie wohl, daß man sich unter diesen Umständen auf dem Hagion-Oros viel kümmere, was Hr. Prellerus in Dorpat über die Fragmente des alten Grammatikers Praxiphanes diputire, oder daß man Dr. Wall aus Oxford lese, von dessen großem Werke über die Erfindung des ABC eben erst ein Theil der Einleitung in drei Oktavbänden zu nicht mehr als 1500 Seiten erschienen ist?« Da dürfen wir dem Autor schmunzelnd beipflichten: Nein, das kümmerte die Athos-Mönche wohl einen feuchten Kehricht. Und auch wir wenden den Blick vom Westen zum Osten und lesen heute anstelle von Prellerus und Dr. Wall viel lieber, was Fallmerayer über den Athos zu erzählen weiß. (1)Gerard Manley Hopkins. Journal (1866–1875) und Frühe Tagebücher (1863–1866). Aus dem Englischen von Peter Waterhouse. Salzburg/Wien: Residenz 1994, S. 59 |
Der weite Horizont dort oben ------------------------------------------------- (1)Barbara Higgs und Wolfgang Straub: Wegen der Gegend Tirol. Literarische Reisen durch Tirol. (Eichborn 1998) und Bernhard Sandbichler: Europa erlesen. Tirol. (Wieser 2000). |
Raoul Schrott, Das Geschlecht der Engel, der Himmel der Heiligen. Zwei frohe Botschaften - zwei strenge Fragen. Dieses Buch springt dem Betrachtenden aufgrund seiner Ausstattung ins Auge und liegt dem Lesenden wohlgewichtet in den Händen. Es vereint Bild und Text. Die Texte hat Raoul Schrott im südirischen "Bishop's Luck, Cappaghglass, Mai 99 - August 00" verfasst. Es sind einerseits die in 20 römisch nummerierte Kapitel geordneten Texte von "Das Geschlecht der Engel", welche Angelografisches mit Liebes-Episteln, Botschaften von oben also mit solchen von unten kreuzen; (der Ich-Erzähler, ein "Heiliger zum Schein", räsoniert u.a. vom Tresen in Hacketts Pub aus;) andererseits sind da Kürzest-Viten unter dem Titel "Der Himmel der Heiligen" versammelt, die eine lapidar-groteske Hagiografie darstellen und einen direkten Zusammenhang mit den Illustrationen herstellen. Diese, insgesamt 34 und ebenfalls im Zeitraum 1999/2000 entstanden, sind von Arnold Mario Dall'O. Er kombiniert verschiedene Techniken schichtenweise: Zeichnung, Foto, Siebdruck, Linolstempel, Übermalung. Diese oberflächliche Mehrschichtigkeit birgt durchaus auch den inhaltlichen Reiz der Mehrdeutigkeit; der Druck einer Schichte auf PVC bewirkt übrigens den semitransparenten Charakter. |