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Forschungsinstitut Brenner-Archiv

Rezensionen von Bernhard Sandbichler

 

 


Bernhard Aichner, Totenfrau. Thriller.
München: btb 2014

"Endstation Dreckschwein"

Bernhard Aichner ist am Zenit angekommen und strahlt. Am Bücherhimmel gibt es ja viele Gestirne, manche sieht man mit freiem Auge nicht, andere leuchten so stark, dass sie einen unübersehbar blenden, viele changieren irgendwo dazwischen. Wie es dazu kommt, ist jeweils interessant. Wie also kommt es bei diesem Autor zum unübersehbaren Funkeln?

Genre
Beginnen wir mit dem Genre. Seit Jahren boomen Krimis und Bernhard Aichner hat das längst erkannt und sich mit seinen Max-Broll-Krimis eingereiht. Er hat das ganz anders gemacht als etwa jetzt die Büchner-Preisträgerin Sybille Lewitscharoff mit ihrem Killmousky. Er weiß, was ein gut konstruierter Plot ist, wie man mit den Nerven von Lesern spielt, wie man ihren Intellekt nicht beleidigt. Kurz: Anders als seine Kollegin nimmt er das Genre ernst. Mit der Totenfrau schlägt er ein neues Kapitel seiner Buchkarriere auf. Geplant war ein Thriller, der marktmäßig noch ein wenig höher hinaus wollte. Er landete in Georg Simaders Agentur copywrite. Auf der Frankfurter Buchmesse 2012 wurde klar: Da haben sich zwei gefunden. „Aichner“ steht momentan also ganz oben auf einer Liste von an die 50 Autoren (edle Federn wie Helmut Böttiger, Alina Bronsky, Stephan Thome oder Jan Costin Wagner, Unterhaltsames und eben auch Krimi-/Thriller-Kaliber wie Anne Chaplet oder Wolfgang Kaes), die mit „(Johannes) Zacher“ endet – was, wie auf der Homepage des Berlin Verlags zu lesen ist, „das Pseudonym eines preisgekrönten Filmemachers und Krimiautors“ sei. Jedenfalls: Ausgewählten Verlagen wurde das Manuskript angeboten, fünf ritterten nach Lektüre von Exposee und erstem Kapitel ums Ganze, das „im Winter 2013“ zu Ende geschrieben war. Regina Kammerer, Verlagsleiterin bei btb, hatte sich am „nachhaltigsten“ interessiert, was auch bedeutet: Als Repräsentantin des Branchenriesen Random House hat sie immer einen dicken „Scheck“ zur Hand. Das war schon 1996 so, als btb, gegründet als Qualitäts-Taschenbuchreihe, selbst für hochliterarische DebütantInnen wie Bettina Galvagni (Melancholia) Vorschüsse bot, bei denen traditionelle Verlage wie dtv oder Fischer TB nicht mithalten konnten (und wollten). Die Startauflage liegt hier bei 50.000 Exemplaren, eine ziemlich beeindruckende Zahl, die klarmacht, dass der Verlag weiß, wohin er will. Dennoch: Das Feld ist keineswegs bereits bestellt. Wenn man den randomhouse.de-Newsletter vom März 2014 erhielt, waren bereits hier sieben Genre-KollegInnen gelistet, und einer darunter war John Grisham. Geht man über das eigene Verlagshaus hinaus, verzigfacht sich die Konkurrenz. Aber: Der Einverkauf im Buchhandel war gut, die Totenfrau landete auf den österreichischen Bestseller-Listen zwischen dem neuen Glattauer und dem Dauerbrenner Jonassen. Und sie blieb vorläufig dort.

Materie
Rein äußerlich kommt das Buch in schmuckem schwarzem Gewand daher, weiße und rote Typographie machen klar, dass es sich um eine black story gewichtigen Umfangs handelt, gerade so viel, als gut in der Hand liegt. Ein Lesebändchen ist angebracht, nur für den Fall, dass man das ganze Buch nicht ohnedies auf einen Sitz ausliest.

Content
Die Krimiflut ist also noch nicht verebbt und füllt - übrigens gemeinsam mit historischen Stoffen von „Borgia“ bis „Sarejevo“ - verlässlich das breite, internationale Leserbecken auf. „Social Fiction“ könnte als nächste Sprudelquelle folgen, wissen die Fachleute - und die kommen in diesem Fall nicht von der Literatur, sondern vom Film. Aber zurück zum Inhalt: Den kann man getrost von http://www.100-beste-bestseller-buecher.de/ abschauen, um nicht zu sagen: „abgucken“. Dort wird deutschen LeserInnen Bernhard Aichner: Totenfrau folgendermaßen empfohlen:
„Ein dunkler Thriller diese Woche auf Platz 2 der österreichischen Büchercharts: Totenfrau von Bernhard Aichner. Protagonistin ist Frau Blum, die uns zunächst als liebevolle und fast gütige Person vorgestellt wird. Von Beruf Bestatterin ist sie eine hingebungsvolle Mutter mit Humor und Herz. Als ihr Mann - ein Polizist - bei einem Unfall ums Leben kommt, gerät ihr Leben aus den Fugen. Sie selbst sieht, wie ihr Mann überfahren wird und der Täter Fahrerflucht begeht. Als sie durch Zufall herausfindet, dass der Unfall kein Unfall war, sinnt sie auf Rache. Kalt und mit der Präzision einer Maschine prüft sie die Hintergründe und schlägt dann unerbittlich zu. Ingrid Noll schreibt: ‘Die Totenfrau von Bernhard Aichner ist ein äußerst spannender, atemlos geschriebener Thriller. Ich konnte ihn nicht mehr aus der Hand legen.’ Das ist schon mal richtig. Der Schreibstil ist schnell, geradezu atemlos.”
Das ist auch schon mal wichtig, was Frau Noll hier sagt. Eine andere Dame meint: „Sie denken, Lisbeth Salander ist tough? Warten Sie, bis Sie  die Totenfrau gelesen haben…” Und eine dritte: „Endlich: eine Kampfansage an unsere skandinavischen Krimis.” Das sind nun alles keine Branchen-Nobodys, deren Sprüche Buchrücken und -klappe zieren: Die eine spricht für Rizzoli, die andere für Cappelen Damm, einen italienischen respektive norwegischen Branchenriesen. Eine amerikanische, eine britische, eine französische, eine griechische, eine niederländische, eine polnische und eine spanische Übersetzung werden erscheinen, und alle bei aussichtsreichen Verlagen! Das muss mit dem Inhalt zusammenhängen, und ein wenig wohl auch mit dem Verkaufsgeschick der btb-Leute. Christian Berkel liest übrigens das Hörbuch - auch nicht schlecht. Aber am meisten liest wohl der Autor selbst: Es gibt eine ganz fette und urlange Terminliste, für deren Abarbeitung man schon ziemlich robust sein muss. Ja, und um Filmrechte wird auch gedealt. Alles am Laufen also.

Stil- und Traditionsfragen
Schon einmal überlegt, einen Menschen umzubringen? Nicht im Affekt, wo man hinterher Indizien und Beweise und Alibis zurechtschustern muss, sondern geplant. Blum stellt fest: „Sie hatte das so oft im Fernsehen gesehen, in Büchern gelesen.” Ein Beispiel: „Wenn du nicht willst, dass deine Geschichte ins Fernsehen kommt, dann hör jetzt gut zu. Ich weiß alles … Es gibt Beweise, und diese Beweise liegen bei einem Notar. Wenn ich mich nicht bei ihm melde, wird er die Unterlagen an die Medien geben. Hast du das verstanden?“ (Blum) Vorbild: „Solltest du jemals wieder Kontakt zu mir aufnehmen, dann landen Kopien dieser CD bei jeder Zeitungsredaktion in Stockholm. Kapiert?“ (Salander) Bei Stieg Larssons Lisbeth ist es nicht anders als bei Aichners Brünhilde: Auch sie hat sich Tricks abgeschaut: „Guckst du dir Insider auf TV3 an? Solche Rucksäcke wie diesen hier benutzen die cleveren Reporter, wenn sie etwas mit versteckter Kamera aufnehmen wollen.“ Im wirklichen Leben ist es eben wie in Filmen und Büchern oder umgekehrt oder in Filmen und Büchern wie in Filmen und Büchern. Das hat Bernhard Aichner legitimerweise mitgedacht. Stilistisch ist Aichner von Larssons unprätentiösem Erzählstil weit entfernt. “Bei Aichner fliegt man atemlos hinterher. Weil Aichner wie mit einer Nähmaschine ansatzlose Sätze in die Seiten schlägt. Selten sind sie länger als fünf Wörter. Selten sind die 51 Kapitel länger als fünf Seiten. Reflektiert wird wenig, moralisiert gar nichts, gesehnt, gefühlt ein bisschen zu viel. Psychologie findet kaum statt“, konstatiert die Literarische Welt. Was natürlich nur sehr teilweise stimmt, aber immerhin gut klingt. So einfach gestrickt ist das Ganze nämlich nicht, dieses Sog entwickelnde Präsens, dieses hechelnde Perfekt, diese schnappatmigen Satzellipsen und duellierenden Dialoge. Blum ist auch keine „Jeanne d'Arc der neuen Selbstjustiz”. Ihr Rechtsempfinden ist nicht neu, sondern vielmehr alt. Der abgrundtiefe Furor von Aichners Heldin kommt aus einem Urgrund im Autor selbst: Er hat, so erzählt er freimütig auf einem Video, Der Graf von Monte Christo gelesen. Und darin geht es nun um einen ziemlich groß angelegten Rachefeldzug. Daher kommt offenbar Blums feeling. Mich selber hat das an Michael Kohlhaas denken lassen, und abgesehen davon an ein weiteres Kleistsches Motiv. Der offiziell ermittelnde Innsbrucker Polizist ist nämlich der Mörder von Blums Mann. Hier lässt Der zerbrochene Krug grüßen. Wobei: Der Ermittler heißt nicht Adam, sondern Massimo Dollinger. Mit diesem letzten Brandopfer, das er abgibt, ist Blums Rachedurst dann gestillt: Endstation Dreckschwein.

Wenn alles gut gegangen ist, und das hoffe ich, hat sich ihr Mörderreigen für Bernhard Aichner richtig gelohnt. Gratulation! 

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Irene Heisz, Julia Hammerle, Tirol - hoch hinaus und tief verwurzelt. Von Zugspitzblick bis Aguntum.
Meßkirch: Gmeiner 2014

Magische Zahlen für Reisende

“Neapel” oder wahlweise “Rom sehen und sterben” ist ein irreführendes geflügeltes Wort. Patricia Schultz hat den Sager schon vor Zeiten vertausendfacht: 1000 Places to see before you die heißt ihr millionenfach verkaufter Wälzer. 36 ist eine weitere Zahl, die im Sektor Reiseempfehlungsliteratur auftaucht, vom Taschenverlag in rot gefärbtes Leinen gebunden, auf das in seriöser Fraktur der Schriftzug “The New York Times” geprägt ist. Es geht um 125 Wochenenden in Europa, welche diverse schreibende Kapazunder des Traditionsblattes den LerserInnen auf 4 bis 6 Seiten in Wort und Bild anempfehlen - schließlich sind die Wochenend-Trips auf jeweils 36 Stunden Aufenthalt anberaumt.

Neuerdings gesellen sich zu diesen magischen Zahlen noch 66 und 11. Es handelt sich nicht um ein neues Parfum, sondern um ein “Lesebuch für Einheimische, Besucher und Neugierige”, das 66 Lieblingsplätze und 11 Ausgehtipps einer Region vorstellt, selbstverständlich in Wort und Bild. Die Region heißt für dieses Mal Tirol, die Autorin Irene Heisz, die Fotografin Julia Hammerle. Außen kommt das Softcover noch in Hochglanz daher, innen findet sich ein Werkdruckpapier, ganz so, wie es sein soll und fachmännisch bezeichnet würde “mit natürlicher Anmutung, mit augenfreundlicher  Färbung und griffsympathischer Oberfläche”. Kurz: Ein ideales Papier zum Lesen.

Was äußerlich vielversprechend ist, hält inhaltlich stand: Auf den linken Seiten wunderbare Fotos, auf den rechten wunderbare Texte. Man findet durchwegs Aufnahmen, die den aussagestarken Moment gesucht, erwartet und gefunden haben; liest gebannt Schreibporträts, die an stilistischer Griffigkeit, sachlicher Präzision und persönlicher Zuneigung nichts zu wünschen übrig lassen. Dass es um beidseitige Lieblinge geht, spürt man, und für die gibt es obendrein noch 77 gewitzt formulierte Titel!

Das Gestaltungsprinzip links/rechts kommt, soweit ich sehe, dem einer Tiroler Kulturzeitschrift nahe. Hier findet sich diese Dualität - wie erwähnt - sechsundsechzigmal und noch elfmal für jene Ausgehtipps, die Tirols einzige Groß-, Haupt- und natürlich Weltstadt betreffen, nämlich Innsbruck. Irene Heisz hat diese unlängst als “besenreine Kleinbürgerstadt” tituliert - an anderem Ort freilich. Und auf diesen 67. Ort wollte ich noch außertourlich hinweisen: Er ist eine Kolumne, heißt “Heisz serviert”, ist auf http://www.zauberfuchs.com/ zu finden und könnte durchaus ein Lieblingsplatz werden.

Man wird sicherlich ruhig sterben, selbst wenn man nicht alle diese 67 Lieblingsplätze besucht hat. Niemand wird schließlich so unverfroren sein, zu behaupten, dass man seine Ruhe erst finden wird, wenn man dieses Buch bzw. diese Online-Kolumne gelesen hat. Aber wer weiß? Ich würde es nicht darauf ankommen lassen.  

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Judith W. Taschler, Roman ohne U.
Wien.
Picus Verlag 2014, 330 Seiten 

Problematische Ironie des Schicksals

Am Dienstag, 17.06.2014, hielt Sigurd Paul Scheichl, emeritierter Professor für Österreichische Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck, seine Abschiedsvorlesung. Darin war unter anderem vom Wohl und Wehe der Germanistik die Rede. Zum Wehe der zukünftigen Germanisten-Generation gehöre, dass ihr das genaue Lesen zugunsten des Schauens abhanden gekommen sei, was Scheichl unter anderem daran festmachte, dass in schriftlichen Arbeiten der Studierenden vermehrt der Begriff “Hauptdarsteller” anstelle von “Hauptfigur” auftauche.

Das kam mir nun wieder in den Sinn, als ich den Satz “Sie fachsimpelten lange über Autoren, Bücher und ihre Charaktere.” in Judith Taschlers neuem Roman las. Unmittelbar vorher wurde in diesem Gespräch zwischen den zwei lesenden Romanfiguren Katharina und Philipp allerdings nach der “absoluten Lieblingsfigur” gefragt (Philipp: Humbert Humbert in Nabokovs Lolita, Katharina: Wilbur Larch in Irvings Gottes Werk und Teufels Beitrag). Der Begriff Charaktere wiederum brachte mich auf den vornehmlich in der angloamerikanischen Literatur verbreiteten “All persons fictitious disclaimer”: “All characters appearing in this work are fictitious. Any resemblance to real persons, living or dead, is purely coincidental.”

Ganz zu Beginn des Romans wird im Übrigen die - um einen weiteren Begriff zu verwenden: Protagonistin vorgestellt: “Die Hauptfigur ist eindeutig Katharina Bergmüller.” Gut zu wissen. Wer lässt es uns wissen? Ein allwissende/r Erzähler/in. Der/Die erzählt hier zumeist aus einer  Charakter-Perspektive. Ein Satz wie “Sie war zwei Jahre älter als er und sah umwerfend aus, sie haute ihn buchstäblich um.” könnte einen aber doch stören, selbst wenn das quasi sprachlich authentische Gedanken des Charakters sein sollten. Vielleicht auch dieser: “Es ist unnötig zu erwähnen, dass er ihr gefiel, er hatte ihr schon im Interalpen-Hotel gefallen, sie stand auf große dunkelhaarige Männer mit Brille.” Er wird übrigens in Klammern beigefügt, weil offenbar - wie auch in Folgendem - der/die Erzähler/in eo ipso/ea ipsa spricht: “Stephanie empfahl ihm das Interalpen-Hotel, das sich dreißig Kilometer westlich von Innsbruck, mitten im Wald, befand, wir erinnern uns daran.”

Dieses den/die Leser/in vereinnahmende Erinnern des/der Erzählers/in ist nun tatsächlich ein Wenig-Brisantes-Wiederholendes, weil bereits an anderem Ort aus Figuren-Perspektive mitgeteilt, und das passiert häufig. Ob diese inkonsequent kokettierende Erzählweise einer linearen überlegen ist, wage ich zu bezweifeln. Die vorgestellten Charaktere im Übrigen laufen nicht Gefahr, Menschen realiter zu gleichen, dazu sind sie zu papieren. Ausgenommen von diesen beiden Kritikpunkten sind die in das so Erzählte eingearbeiteten Passagen aus dem titelgebenden Roman ohne U. Ein Roman ohne E war schon: Der Franzose Perec hat ihn geschrieben und der Deutsche Helmlé unter dem Titel Anton Voyls Fortgang übersetzt. Im Spanischen ist es ein Roman ohne A, im Russischen einer ohne O geworden. Dabei handelt es sich nicht bloß um einen „lipogrammatischen Roman“ (Helmlé). Perec geht es auch um das Bewusstsein literarischer Fiktionalität. Und der französische Titel, La Disparition, bezieht sich auch auf das Verschwinden von Perecs Mutter im Holocaust. Außerdem lassen sich ohne E auch schöne Sätze formulieren wie: „Olga sang manchmal Schumann. Olgas Stimmorgan tönt silbrig in Nachtluft.“

Etwas davon findet sich auch hier im Roman ohne U: “Inmitten von Soldaten und Hunderten von abgemagerten Häftlingen steht ein majestätischer Flügel im Schnee. Davor sitzt ein Mädchen, das in einem dunkelblauen Kleid Schumann spielt. Schumanns ‘Kinderszenen’.” Es ist die 19-jährige Ludovica, die in Wien aufgewachsen und nach Kriegsende 1945 von den Sowjets verschleppt worden ist. Einer der abgemagerten Häftlinge ist Thomas. (“Was für ein schöner Name für einen Helden!”) Sie treffen auf dem Marsch in Stalins Archipel GULAG aufeinander. Ludovica wird die Torturen nicht überleben; Thomas kehrt 1965 zurück und schreibt ihre gemeinsame Geschichte auf. Er ist der Ich-Erzähler des Romans im Roman: “Die Schreibmaschine finde ich in meinem alten Zimmer, ich streichle über die Tasten. Das U ist kaputt.”

Ausgehend von diesem Manuskript werden ihre beiden Lebensfäden mit jenen der Hauptfiguren unserer Tage verwoben, ohne dass diese wüssten, in welche Beziehungen sie sich bereits vor dessen Auftauchen verstrickt hatten. Ludovica und Thomas erscheinen heroisch, während ihre Nachfahren in diesem Heroismus ironisch gebrochen werden: Bei den Bergmüllers geht es schließlich bloß um das Kitten einer gescheiterten Ehe! Die große Desillusion nimmt der/die allwissende Erzähler/in auf den letzten Seiten in einer unnötigen Parenthese vor. Insgesamt hinterlässt all das den schalen Eindruck gewollter Konstruktion. In dieser Erzähllandschaft mag man thematisch zwar einiges erfahren, aber die Tatsache, dass es sich bloß um leidlich hübsch aufgestellte Kulissen handelt, schmälert diese Erfahrung doch erheblich.  

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Norbert Gstrein, Eine Ahnung vom Anfang. Roman.
München: Carl Hanser Verlag 2013  

Eine Ahnung vom Glück

Wir Österreicher leben in Zeiten der Schulreform. Demnächst wird alles anders, alles neu, alles besser: das Dienstrecht, die Unterrichtenden, die SchülerInnen. Jeder weiß: Es muss sein. Der schulische Zustand (die Lehrer-Gewerkschaft!) ist himmelschreiend! Und die Experten, also fast alle, schreien es auch zum Himmel: Früher war es nicht besser! Vermutlich werden Bücher wie Das fliegende Klassenzimmer oder Der Schüler Gerber oder Die Klosterschule oder Der Musterschüler oder Der Zögling Törleß oder Jakob von Gunten exotisch werden. Die Altvorderen müssen es den nächsten Generationen ausdeuten: Was Frontalunterricht war und was Zucht und was Ordnung und was ein Internat. Und überhaupt: Vielleicht müssen sie demnächst klären, was ein Buch ist. Denn auch das ist ein Gegenstand, der reformiert wird, und über die Grenzen Österreichs hinaus.

Mit diesen brennenden Themen der Jetzt-Zeit hat Norbert Gstreins neuer Roman nichts gemein. Zum einen: Sein Erzähler ist ein Gymnasiallehrer, der „bald zwanzig Jahre im Schuldienst“ ist, ein in sich Ruhender, für den „die Dinge auf festem Grund standen“ und der die „Brüchigkeit“ der Existenzen um ihn mit verständnisvollem Interesse notiert: eine „komfortable Haltung“, gerade so altmodisch wie „die beiden Anzüge, die ich mir in Istanbul hatte machen lassen“. Umgekehrt taxieren ihn diese Existenzen mit belächelnden oder verwunderten oder auch lauernden Blicken. Zum andern muss man sagen: Norbert Gstrein ist ein kluger Autor und er hat einen wunderbaren Roman geschrieben. Mehr noch: Es ist ein ganz und gar schönes Buch, das man da in Händen hält, optisch und haptisch ein Glücksfall! Schön, dass es Bücher noch gibt.

Der Romananfang ist konventionell, aber genauso gekonnt kalkuliert wie etwa der Anfang seiner frühen Erzählung Anderntags: „An einem Nachmittag, plötzlich, wie ohne mein Zutun, stand der erste Satz da, keine Zeile lang. Ich hatte begonnen.“ So unversehens kommt auch der Gymnasiallehrer dazu, diese Geschichte aufzuschreiben, am Ende des Romans, der tatsächlich „eine Ahnung vom Anfang“ spiegelt: scheinbar einfach komponiert, aber eben genial. Was dazwischen erzählt wird, ist „ganz und gar herausgefallen aus der Zeit“. Es ist in drei Teile gegliedert (Damals im Sommer, Der Reverend, Draußen am Fluss, und einen kurzen Schlussteil, Nach allem – In das dunkelste Blau), die Welt einer Provinz, in der sich ein Direktor Aschberner, Pfarrer Bleichert, ein „grimmiger Verweser der ewigen Wahrheit“, ein Inspektor Hule oder ein Herr Frischmann von der lokalen Presse tummeln – nicht ganz unähnlich dem Universum, ja: des Räuber Hotzenplotz oder der Pippi Langstrumpf? Natürlich: Es ist dies auch eine Geschichte des Lesens, in der so gewichtige Werke wie Der Kinogeher von Walker Percy, Der große Gatsby von Scott Fitzgerald oder Himmel über der Wüste von Paul Bowles vorkommen. Es geht um „diese literarische Sehnsucht und dieses literarische Glück. Sich in einer Situation vorzustellen, wie man sich später daran erinnern würde, nur um dann zu erkennen, dass man das, woran man sich erinnerte, nicht mehr haben konnte … Man schob den Augenblick in die Zukunft, um von dort aus alles in der Vergangenheit zu haben, in der es dann verloren war, und was einem blieb, ging auf in der bleierne Schwebe der Melancholie.“

Beides, die tief bohrende Reflexion und das abenteuerlich flirrende Paradies, gehen ungestelzt und kitschfrei ineinander auf. Beim Lesen ergeht es einem nicht viel anders als dem Erzähler, der die Familie des Reverends englisch sprechen hört: „Sie sprach englisch, doch mir kam es eher vor, als würde sie eine Sprache aus einer anderen Zeit sprechen. Es hätte aus einem mittelalterlichen Versepos stammen können, und ich wäre ein Ritter gewesen, der nach langer Irrfahrt nach Hause kam und vor der Lösung des Rätsels stand, das ihn um die ganze Welt getrieben hatte.“ Norbert Gstrein hat eine scheinbar einfache Geschichte mit scheinbar einfachen Mitteln erzählt. Wenn das Wort nicht so abgedroschen und daher unpassend wäre, könnte man meinen: eine gelungene Reform.  

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Christoph W. Bauer, In einer Bar unter dem Meer. Erzählungen.
Innsbruck, Wien: Haymon Verlag 2013


Erzählungen. Erzählungen? Erzählungen!

Es gibt Robert Walsers Mikrogramme Aus dem Bleistiftgebiet und Daniil Charms Miniaturen aus dem Archipel Gulag; es gibt Italo Calvinos Cosmicomics aus den unendlichen Weiten der Science Ficton und Claudio Magris‘ Microcosmi aus den Détails der großen Welt; es gibt schließlich Ingo Schulzes Simple Storys aus der ostdeutschen Provinz und Judith Hermanns Geschichten aus dem Berlin der 1990er-Jahre; und endlich – um regional näher zu rücken – gibt es Irene Pruggers Erzählungen am Scheideweg der Geschlechter und, ja, jetzt gibt es Christoph W. Bauers Erzählungen „In einer Bar unter dem Meer“.

Warum werden sie gerade dort erzählt? (Denn „In einer Bar unter dem Meer" ist keine titelgebende Story, sondern der Titel von Bauers erstem Erzählungsband. Das Meer kommt nur als „Dahingeplätscher, das Emira ans Meer denken ließ“ vor, und die Bar durchaus oberirdisch als „Stammkneipe“ etwa, die eine Figur „ansteuerte“, ein gewisser Landmann, der „eine Frau in seinem Rücken laut und deutlich ‚Arschloch‘ sagen hörte.“) Nun, man mag sich die Literatur wie ein riesengroßes Meer vorstellen. Leicht möglich, dass ein Autor die Orientierung verliert ob der Weite. Oder aber er sondiert die Lage und nimmt das Steuerrad in die Hand, um von lyrischen und prosaischen in epische Gewässer zu gelangen. Wer kundig ist, wird einen guten Lotsen anheuern, Tschechow etwa, der seinen Figuren folgt und Umstände dann weglässt und verknappt. Und die Bar „unter dem Meer“? Hier muss es jedenfalls ruhig zugehen, hier lässt es sich gut beobachten, eventuell auch, wie andere Meereskundige dieses elementare Reich durchpflügen.

Warum aber überhaupt sollte man so ein Aufheben machen um Erzählungen? Einfach deshalb, weil es noch immer und wieder das Klischee gibt, dass Literatur-Aficionados Erzählungen nicht kaufen und nicht lesen. Warum eigentlich, bitte schön?! Es ist eine ungemeine Lust, Erzählungen zu lesen, so auch diese, weil sie auf kleinem Raum große Vielfalt zulassen. Die Schwedische Akademie hat heuer eine «Meisterin der zeitgenössischen Kurzgeschichte» nobilitiert, sie ist, so wollen es die Medien „die kanadische Antwort auf Tschechow“. Sie ist „eine Meisterin der Knappheit“ (Die Zeit) sowieso, „Melancholie färbt ihre Sprache“ (Tagesspiegel), „stupende Menschenkenntnis“ und ein „denkbar abwechslungsreicher, technisch höchst entwickelter, dennoch scheinbar simpler“ Erzählstil sind ihre Atouts (Die Welt). Munro, so sagt Jonathan Franzen, habe Tschechow sogar übertroffen – und der war doch nun wirklich kein Anfänger!

Wie auch immer, und zurück zum 'jungen Mann und dem Meer': Bauer bleibt in jedem Fall auf hoher See, das hier ist nichts Seichtes. Mit der ihm eigenen Bescheidenheit würde er sich – angesichts der genannten Meister – sicher als Geselle einstufen, aber die hier abgelieferten Erzählungen sind beileibe nicht bloße Gesellenstücke. Munro mag im besten Sinn altmeisterlich sein, Bauer ist im besten Sinn neumeisterlich. Er verkörpert nicht Klassisches, sondern kommt doch viel eher von der coolen Lakonik der Amerikaner. An den alten, immer wieder neuen Raymond Carver erinnert das, mit einem bissig witzigen Schuss T. C. Boyle: „In einer Bar unter dem Meer“ das reimt sich ja nachgerade auf „Wenn der Fluß voll Whisky wär“.

Aber nein, es ist nicht so wie bei Bauers Filmemacher in der Erzählung „Full Shot“, der „froh war, seine Ausbildung in den USA gemacht zu haben.“ Gute Plots, gekonnter Schnitt, rasant wechselnde Stillagen – das sind durchaus auch europäische Tugenden. Vielleicht sollte man einfach dazusagen, dass diese Erzählungen sehr originell, wohl überlegt und keinesfalls abgekupfert sind. Es macht wenig Sinn, hier Geschichten nachzuerzählen oder Passagen zu zitieren – man käme aus dem Zitieren gar nicht mehr heraus. Hier findet man einen kleinen Kosmos von 19 Geschichten, subtil vernetzte Erzählstoffe, die man unbedingt zur Lektüre empfehlen kann. Bauer liest auch noch sehr gut, daher auch Lesungen besuchen! Das Schönste aber überhaupt ist, und das spürt man bei jeder Zeile: Dieser Autor wird nicht stehen bleiben, er wird sich noch weiter entwickeln.

  

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Herbert Rosendorfer, Die Kaktusfrau.
Erzählungen.
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2012
  

Rosendorfer geht – und bleibt doch 

Rosenbach ist eine Künstlerin und Beuys-Schülerin, Rosenberg, Alfred, ab 1923 Leiter des „Völkischen Beobachters“, die Rosenbürstenhornwespe etwa 1 cm groß und Herbert Rosendorfer Schriftsteller und Jurist. Diese zufällige Reihenfolge sieht Band 12 des Brockhaus 1998 vor. Der Stein-Satz „Rose is a rose is a rose is a rose“ hat nichts von dieser Zufälligkeit, und auf ihn anspielend könnte man durchaus (und nicht zufällig) den Grund-Satz „Rosendorfer is a Rosendorfer is a Rosendorfer is a Rosendorfer“ prägen. Er trifft zu. Seit Rosendorfers erste Erzählung Die Glasglocke 1956 in Wort im Gebirge veröffentlicht wurde, sind viele Bücher dieses Autors erschienen, bis hin zum vorliegenden postumen Erzählungsband vom Oktober 2012. Dass dieses letzte Buch, Die Kaktusfrau, ein echter Rosendorfer ist, so echt, wie es Die Glasglocke Jahrzehnte früher war, ist unverkennbar. Rosendorfers Kaktusfrau hat so richtig gar nichts von einer Esther Greenwood, jener literarischen Figur, die in der Glasglocke eine Rolle spielt, aber eben in einer ganz anderen…

     Die Frauen, die in diesem Erzählungsband titelmäßig auftreten – Das Mädchen mit dem Nasenringelchen, Die junge Wasserträgerin, Die Heimat der grünlichen Schwestern, Die Jung- und Die (bereits erwähnte) Kaktusfrau –, haben so richtig gar nichts von Selbstzerfleischung, Bekenntnis und permanenter Innenschau Plath’schen Zuschnitts. Diese Frauen, und nicht nur diese in Titeln angeführten Frauen, treten gern bar auf, sei es bar jeder Kleidung, also nackt, sei es bar jeder Persönlichkeit, also typenhaft. Irgendwie. Wie? Nehmen wir das weibliche Personal der Erzählung mit dem Titel Steinmann. Da haben wir zunächst einmal die sprechend benamsten: Herrn Zeppers Mutter, Erna Witwe Zepper geborene Silberwastl; dann Fräulein Hirschler; schließlich eine Gattin, die von einer Schlange attackiert wird: „Sie (die Schlange) biß die Gattin eines Parlamentsabgeordneten, die gerade auf der Kundentoilette eines Kaufhauses saß, wohin sich die Schlange verirrt hatte. Durch den Biß quoll die Parlamentariergattin zu etwa der zweieinhalbfachen Dicke auf, weshalb der Parlamentarier sich weigerte, sie weiterhin als seine Ehefrau anzuerkennen“; und endlich eine Geliebte, eine „Schriftstellerin namens Müller (nicht zu verwechseln mit der bekannten Autorin Hingerta Müller, der Verfasserin des berühmten Bestsellers Rapunzels Schamhaar)“, die eine Gasexplosion „durch ein Wunder“ überlebt: „Sie wurde aus dem Haus gefegt, wobei sie allerdings durch den Luftdruck restlos entkleidet wurde. Sie stand nackt vor den Trümmern des Hauses, als die Feuerwehr kam, und hielt das Manuskript ihres Romans krampfhaft vor ihre Blößen“. Und so weiter.

     Ganz klar: Dieser Steinmann ist nicht das beste Stück im Buch. Und es gibt wohl auch sonst noch so einige Ausrutscher. Richtig ist freilich auch, dass Rosendorfer hier wie immer seine Qualitäten hat: seine fantastischen Absurditäten, seine surreale Mythologie und ketzerische Theologie, seine Satire, frei von jeglichem Pathos. Er kann gar nicht anders, er muss – schreiben, und so schreiben, wie er immer schon geschrieben hat: das Erhabene vom hohen Sockel nehmend und auf dem Studiertisch bloß stellend. So ergeben sich für ihn und uns Leser neue Perspektiven. Die beste Erzählung im Buch ist – ganz in diesem Sinn – gar nicht von Rosendorfer, sondern von Gogol. Rosendorfer lässt sie einen Juristen erzählen, einen gewissen Jewgraf Konstantinowitsch Tichonov. An jedem Satz merkt man, wie fein geschliffen die Spitzen dieses Autors sein können und wie gut er fremde Töne zu imitieren vermag.

     Viel hat er also geschrieben, dieser Rosendorfer, und nicht Weniges wird originell bleiben, gerade was seinen Blick auf Tirol betrifft (das auch in diesem Buch hier und dort auftaucht). Kein Wunder, dass so knorrig-verschmitzte Herren wie Wolfgang Pfaundler, Paul Flora oder Otto Grünmandl die virtuos verschraubte Satire dieses Schriftstellers und Juristen hoch schätzten. Ob er deswegen ein (Süd-)Tiroler Autor ist? Horst Seehofer, der ihm 2010 den Corine-Buchpreis verlieh, meinte ja damals, dass Rosendorfer „mit seiner hintergründigen Komik und seinem subtilen Humor den Bayern aus der Seele“ spreche. Das sollte zumindest aus literarischer Perspektive kein Stein des Anstoßes sein. Es gilt ja: „Rosendorfer is a Rosendorfer is a Rosendorfer is a Rosendorfer“. 

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Margit Knapp, Die Überwindung der Langsamkeit.
Samuel Finley Morse – der Begründer der modernen Kommunikation.
Hamburg: mareverlag, 2012, 190 Seiten
  

Vom Langsamen im Geschwinden 

Man darf sich diesen Samuel Finley Morse nicht als Gegenteil eines John Franklin vorstellen: Der eine überwindet, der andere entdeckt die Langsamkeit. Der eine versucht im reißenden Druck des Zeitstroms zu überholen, der andere schwimmt gegen ihn an. Allein mit solcher Beschreibung geraten Bild- und Sinnhaftigkeit aneinander. Was bleibt, sind zwei Buchtitel: jener geniale,  „Die Entdeckung der Langsamkeit“, von Sten Nadolnys Welterfolg über den englischen Seefahrer und Nordpolforscher, und der darauf anspielende, „Die Überwindung der Langsamkeit“, von Margit Knapps Biografie des „Begründers der modernen Kommunikation“, so der Untertitel.

Was Bücher anlangt, hat die Schwazer Autorin, bislang einige herausgebracht – literarische Reise-Anthologien, Biografisches, Kulinarisches, Gesellschaftliches  –, und vornehmlich viele gelesen bzw. lektoriert, lange für Wagenbach, jetzt für Rowohlt. Der Reiz am Erfinder der Morse-Telegrafie und des Morse-Alphabets dürfte dessen hierzulande wenig bekannte Persönlichkeit gewesen sein: der konservativ protestantische Amerikaner, Befürworter der Sklaverei und Pazifist, als Familienmensch und Künstler gleichermaßen erfolgreich wie gescheitert. Der Aufbruch ins amerikanische Zeitalter, die Atmosphäre des 19. Jahrhunderts, diesseits und jenseits des Atlantiks, politisch, künstlerisch und technisch, werden hier klar vorstellbar und lebendig. Wie Nadolny schöpft Knapp aus allen verfügbaren Quellen, gestaltet ihre Figur in Zitaten aus vorhandenen Briefen, Tagebüchern und Zeitungsberichten: nicht fiktional, sondern plastisch, mit historischem, psychologischem und nicht zuletzt technischem Gespür.

Den Draht zum Leser, der in die Vergangenheit blicken möchte, um Bezüge zur Gegenwart herzustellen, hält diese Biografie Kapitel für Kapitel. Es geht um Morses Lebensziel, das er mit beeindruckendem unternehmerischem Wagemut und zäher Beharrlichkeit verfolgt: Nachrichtenübermittlung in Echtzeit über den Atlantik. Es ist eine Errungenschaft, die ihn auf eine Ebene stellt mit Zeitgenossen wie den Mathematiker und Astronomen Carl Friedrich Gauß oder den Naturforscher und Weltvermesser Alexander von Humboldt, die ihrerseits den Geist des Erzählers Daniel Kehlmann beflügelt haben. Humboldt und Morse haben einander übrigens ebenfalls getroffen, was nur zeigt, wie klein die Welt bei aller Größe ist. Und die Tatsache – dies bleibt nachzutragen –, dass Morse die Langsamkeit überwand, ist selbst einem langsamen Prozess geschuldet, den Morse mit Franklin teilt: dem Prozess des Grübelns und Nachgrübelns.

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Judith W. Taschler, Sommer wie Winter. Roman.
Wien: Picus Verlag 2011. 200 Seiten


Eine unglückliche Tiroler katholische Kindheit

Judith Taschler ist mit „Sommer wie Winter“ ein spannender kleiner Roman gelungen. Das Kleine bezieht sich auf zwei Aspekte: auf Satz und Buchformat einerseits, und andererseits darauf, dass der Roman weniger traditionelle Erwachsenen- als Jugend-Literatur ist. Eine solche Klassifizierung ist keinesfalls ein ästhetischer Abstrich. Autoren wie Mats Wahl oder Andreas Steinhöfel sind schließlich hoch geschätzte Zeitgenossen. Steinhöfels Coming-of-Age-Saga „Die Mitte der Welt“ (1998) schaffte es, wenn ich mich recht entsinne, nach Erstpublikation bei Carlsen ins Literaturprogramm des Suhrkamp-Verlags; umgekehrt kam Peter Schwaigers Adoleszenz-Roman „Vito“ (1999) als Erwachsenen-Literatur auf den Markt, während die dtv-Ausgabe sich eindeutig an jugendliche Leser wandte. Es gibt also Werke, welche die Demarkationslinie zwischen erwachsen und jugendlich überschreiten, und „Sommer wie Winter“ ist eines davon.

Wie Schwaiger übrigens deckt Taschler ihre Geschichte eines Verbrechens in Protokollform auf, wobei sich bei ihr sechs von sieben Familienmitgliedern in „kleinen“ Therapiesitzungen mitteilen, sodass eine geglättete Umgangssprache zu Wort kommt, keine überinstrumentierte Literatursprache. Im Zentrum stehen Alexander Sommer, 19 Jahre, und seine Lebensgeschichte bis zum Zeitpunkt der Aufdeckung eines grausamen Familiengeheimnisses. Schlimmer als eine normale unglückliche Kindheit, schreibt McCourt in „Die Asche meiner Mutter“, sei „eine unglückliche irische Kindheit, und noch schlimmer die unglückliche irische katholische Kindheit“. Judith Taschler hat jedenfalls das Ihre dazu getan, eine unglückliche Tiroler katholische Kindheit als nicht weniger schlimm zu rekonstruieren: ein Pflegekind auf einem Bauernhof mit Gästebetten und Familienanschluss, viel Stallgeruch und Dorfmief – Sölden im Ötztal vor dem Russentourismus, Mitte der 1970er-Jahre bis Anfang 1990, die Zeit der Therapiegespräche.

Trotz der Distanz des Geschehens zu unserer Zeit bieten Taschlers Protagonisten großes Identifikationspotenzial, und die gewählte Erzähltechnik gewährleistet einen Grisham-Effekt, dem man sich hingeben kann (auch wenn dieser einer additiven Steigerung des „schlimmen“ Schicksals geschuldet ist). Taschlers Konzept ist jedenfalls aufgegangen. Ihr  Debüt ist mittlerweile in der dritten Auflage. Die Autorin war in diesem Jahr für den Franz Tumler-Literaturpreis für zeitgenössische deutschsprachige Romane nominiert. Ein schöner Achtungserfolg!

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Raoul Schrott, Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren.
München: Carl Hanser Verlag 2011. 528 Seiten
 

Keine Neuro-Revolution
 
„Gehirn und Gedicht“, ein gemeinsames Buch von Raoul Schrott und Arthur Jacobs, ist ein enzyklopädischer Wurf mit dem scholastischen Anspruch einer summa – vorhandenes Wissen glossierend, paraphrasierend und debattierend. Der Bogen führt über 375 Seiten alphabetisch von A bis Z, anschließend über weitere 150 von römisch eins bis zwölf. Die Struktur des Werks ist dialogisch, allein schon, weil zwei Autoren ans Werk gegangen sind. Der eine steht als Dichter, Übersetzer und Dozent der Vergleichenden Literaturwissenschaft für das Gedicht, der andere als Professor für Allgemeine und Neurokognitive Psychologie an der FU Berlin für das Gehirn – womit das Wissensgebiet abgesteckt ist.
 
Als Schrott die Samuel-Fischer-Gastprofessur an der Freien Universität Berlin innehatte, bestritt er seine Antrittsvorlesung im Herbst 2008 noch mit Ernst Pöppel, der als einer der wichtigen Hirnforscher unserer Zeit gilt. „Schrotts Nachdenken über Funktion und Rolle der Poesie hatte ihn schon vor einiger Zeit in Kontakt mit Pöppel gebracht, der über Bewusstsein, Kognition und Neurophysiologie forscht. Eine Verbindung, aus der zurzeit ein gemeinsames Buch entsteht, das Ende kommenden Jahres erscheinen soll“, war und ist auf http://www.fu-berlin.de/campusleben/lernen-und-lehren/2008/081106_raoul_schrott/index.html zu lesen. Daraus ist offensichtlich nichts geworden, jedenfalls spielt nunmehr Jacobs jene Rolle des supervidierenden Sekundanten, die der von Neugier getriebene, im positiven Wortsinn dilettierende Raoul Schrott auch schon bei anderen Sachbuch- und Übersetzungsprojekten Fachwissenschaftlern wie Robert Rollinger, Professor für Alte Geschichte und Altorientalistik in Innsbruck, zugedacht hat. Schrotts Textbeiträge haben mehr traditionell essayistischen Charakter, die Jacobs traditionell wissenschaftlichen. Wobei: punktgenau auseinanderzudröseln sind diese beiden  Hälften nicht. Auch wenn sie typographisch getrennt aneinandergereiht werden, laufen sie ineinander.

Warum überhaupt diese Neugier auf das neurobiologische Fundament des Gedichts? Das mag wohl auch mit dem  grassierenden „Neuro-Pop“ zu tun haben, zu dem der oben genannte Ernst Pöppel mittlerweile offensichtlich auf Distanz gegangen ist, nachdem  er doch selbst ein Buch geschrieben hat mit dem Titel „Zum Entscheiden geboren. Hirnforschung für Manager“. Einer seiner Kollege, Martin Korte, hat ein anderes solches Buch vorgelegt: „Wie Kinder heute lernen. Was die Wissenschaft über das kindliche Gehirn weiß. Das Handbuch für den Schulerfolg“; ein dritter und nicht minder prominenter, Gerhard Roth, verfasste eines mit dem Titel „Bildung braucht Persönlichkeit: Wie Lernen gelingt“; ein vierter schließlich, Stanislas Dehaene, ist mit „Lesen. Die größte Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen passiert“ bereits recht nahe an unserem Buch.

Diese vier zumindest sind ehrlich genug, mit ihren neurowissenschaftlichen Erkenntnissen keinen falschen Enthusiasmus in punkto praktischer Erkenntnis und Umsetzung zu entfachen. Die Themen, die sie behandeln, sind brisante Themen der Zeit; der Zeitgenosse möchte wissen, warum was wie funktioniert und vor allem, wie man die Funktion schneller besser machen kann. Die Frage ist: Will dies der Zeitgenosse auch im Fall des Gedichts wissen? Die Antwort ist: ja. Schneller besser wird dadurch nichts, das Buch rollt aber  Fundamentales in Bezug auf Literatur, von Lesekompetenz bis Trope,  neu auf. Die Botschaft für die Dichter selbst  bleibt Schrotts bekanntes Credo:  Wer den Sprung in die Dichtung wagt, soll ihren Ursprung kennen. So weit, so gut. Und selbstverständlich wäre es schön, wenn das hier Verhandelte – „neuro“ hin oder her – Eingang in die schulische und universitäre Lehre fände. Gegen die polemisiert Schrott beharrlich, im Wissen, dass beide Systeme sehr konservativ sind.
 
Eine dritte Leserschicht neben Dichtenden und Lehrenden von der Dichtung – den Leser schlechthin nämlich – kann man sich für dieses Buch aber gar nicht zahlreich genug wünschen, einfach weil Lesen sinnvoll ist und Gedichtelesen sowieso. Fragt sich, ob der beachtliche Umfang dieses Readers zum Lesen verführt, das neurobiologische Kraut macht er jedenfalls nicht fetter: Die meisten Erkenntnisse sind relativ banal und so allgemein, dass sie für die Poetik kaum Einsichten bringen, die erfahrene Interpreten nicht längst schon von sich aus gemacht hätten. Traditionelle Interpretationen finden sich im Übrigen auch in diesem Buch, und es sind nicht die schlechtesten.

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Bernhard Aichner, Die Schöne und der Tod.
Innsbruck/Wien: Haymon Taschenbuch 2010. 249 Seiten 

Me too

Nur in angemessener Kürze soll hier ein produktionsästhetisches Phänomen verhandelt werden, das der Ökonom als «Me-too-Produkt» bezeichnet. «Me-too-Produkte» sind Marktfolger-Produkte. Jahrhunderte nach prototypischen Geschichten über kriminelle Schuld und Sühne – Schiller (!), Hoffmann, Poe, Stevenson, Doyle oder Glauser – dachte man sich also etwa bei Suhrkamp «me too» und zog mörderische Seiten auf, eine neue Taschenbuch-Reihe mit Kriminalromanen: «deutsche Erstausgaben und Originalausgaben, erstklassig übersetzt, von international bis regional, vom Thriller bis zum klassischen Whodunit, von zart bis hart». In Verlagsdeutsch auf den Punkt gebracht heißt das dann: «Am Anfang war der Mord». Das hatte man sich bei Haymon schon viel früher gedacht, 1994 nämlich, als man Kurt Lanthalers «Tschonnie-Tschenett»-Romane ins Programm nahm. Dafür dachte man dort erst später, 2008, an ein anderes Me-too-Produkt, Taschenbücher – als einziger Verlag in Österreich, und schön sind sie außerdem geworden. Selbstverständlich gibt es in der neuen TB-Reihe Krimis, zuletzt von Kurt Bracharz und Thomas Askan Vierich. Die Herbstsaison 2010 startet nun mit Bernhard Aichners «Die Schöne und der Tod» als Spitzentitel.
     Die Zeiten, da Krimis in deutschen Landen als triviale Genreliteratur verschrien waren, sind längst vorbei, und es ist überhaupt nicht mehr despektierlich, als Autor sein Geld dort zu verdienen, wo sich seit Jahren ein Gutteil belletristischer LeserInnen tummelt. «Me too», so denkt sich also vielleicht auch Bernhard Aichner, der sich mit drei Romanen, zwei Erzählungsbänden und vier Bühnenstücken bereits einen beachtlichen Namen erarbeitet hat. Er geht die Sache gleich richtig keck an, möchte – so ist einem Interview, auf das man sich von seiner Homepage aus einlinken kann, zu entnehmen – den beiden international erfolgreichsten österreichischen Krimi-Autoren, Alfred Komarek und Wolf Haas, den Rang ablaufen, und sein Protagonist soll auch gleich in Serie gehen. Es ist daher nicht ganz unspannend zu verfolgen, wie und ob das gelingen wird.

Zur Ausgangslage: Aichners Serienhelden sind der Totengräber Max Broll und der ausgediente Fußballstar Baroni, beide Mitte 30. (Ein Pompfünebrer und ein Fußballer als Ermittler? Das mag auf den ersten Blick schräg sein. Aber wenn man bedenkt, dass Akif Pirincçi Katzen, Leonie «me too» Swann Schafe, Carsten Sebastian «me too» Henn Hunde  und ein gewisser Arne «me too» Blum Schweine ermitteln lässt?) Aichners menschliche Ermittler sind irgendwo in einem Dorf des österreichischen  Westens geboren und dort leben sie auch, obwohl sie Wiener Großstadtluft geatmet haben, der eine als Publizistikstudent und Journalist, der andere als gefeierter Fußballprofi. Mitten in ihre bohemienhafte Idylle platzt der Titel gebende Tod der schönen Marga und des jungen Dennis. Das bulimische Fotomodel ist in Wien in den Tod gesprungen, in ihrem Heimatdorf auf Max‘ Friedhof begraben, dann aber aus ihrem Grab entwendet worden. Eine Mediensensation! Und Max‘ Gehilfe Dennis ist erfroren. Obwohl: Weil die Leichenstarre ausbleibt, zeigt sich schließlich, was Max vermutete: Fremdeinwirkung, erschlagen – und erst später scheinbar erfroren aufgefunden. «Du sollst deine Finger davon lassen», sagt Max‘ Stiefmutter Tilda, die die Ermittlungen in dieser Angelegenheit offiziell führt. Aber da ist es eigentlich schon vorbei, in diesem ersten Kapitel, das Aichner mit «Null» überschreibt. Wirklich abhalten hat sie Max nicht können. Der will alles wissen, schließlich steckt er tief drin, weil ihn eine unglückliche Liebe mit  Margas Schwester Emma verbindet. Baroni folgt seinem besessenen Freund Max bis in die Wiener Rotlicht-Szene und taucht für ihn im eisigen Wasser des Dorfsees.
     Aichner, erzähldramaturgisch gewieft, legt einen ziemlich rasanten Show-down hin, ein Kapitel genügt, dann ein sanfter Abspann auf harmonischen zwei Seiten – aus. Dieser Schlussdrive ist gut getimt, und was in den 22 Kapiteln dazwischen erzählt wird, verfolgt man mit Spannung. Wie erzählt wird? Im Stil eines Drehbuchs. Aichner montiert Dialog- und Handlungspassagen, die ohne prosaische Umschweife die Geschehnisse raffen. Sätze werden elliptisch zugespitzt, können schon einmal auf bloße Namen verknappt sein, und ziemlich häufig bleibt der Erzählerblick fasziniert auf einem anaphorischen «wie» hängen: «Wie ihre Stimme plötzlich da war. Wie sie wieder verschwand. Emma.».
     Um bei dieser Stilvorgabe zu bleiben: Wie das alles gut funktioniert. Wie man sich doch noch entschließt, bis zum Schluss zu lesen, obwohl es schon dunkel und spät ist. Wie man sich vorstellen kann, dass in diesem «verschissenen Dorf» (Emma) und diesen Figuren noch mehr Geschichten stecken. Wie man sich das als Leser wünscht. Aichner. You too.

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Josef Oberhollenzer, Der Traumklauber. Eine Erzählung in 52 Träumen.
Wien–Bozen: Folio Verlag 2010


Der nicht mit dem Wolf tanzt


Josef Oberhollenzer ist ruppig und widerständig, was Sprachpflege anlangt. Er pflegt nämlich nur seine eigene Sprache. Wolf Schneider ist da ganz anders, um nicht zu sagen das Gegenteil. Der pflegt die Sprache der anderen, ist »Sprachpapst« (Bastian Sick) und »Lehrmeister der guten Sprache« (FAZ). Gibt es ein kleinstes gemeinsames Vielfaches zwischen diesen beiden? Nun, ein verlegerischer Zufall will es, dass neue Bücher von beiden im letzten Frühling erschienen sind. Josef Oberhollenzers »Der Traumklauber. Eine Erzählung in 52 Träumen« ist – unschwer festzustellen – ein Stück Literatur. Mithin Geschriebenes. Mithin kein Geschwätz. Über Geschwätz und Geschriebenes liest man in Wolf Schneiders »Deutsch für junge Profis. Wie man gut und lebendig schreibt« (Rowohlt Berlin 2010):
»Wo nicht das schiere Geschwätz regiert, da wollen wir unsere akademisch-bürokratischen Ideale pflegen. Nichts in allem Geschriebenen ist eben seltener als diese drei:
   - der klare Wille zur fairen Information,
   - die Kenntnis der Mittel, die es dafür anzuwenden gilt,
   - die Bereitschaft, in die Anwendung dieser Mittel Ehrgeiz und Zeit zu investieren.«
Diese drei, ich finde sie im »Traumklauber«. Was durchaus als Lob gedacht ist. Freilich: Ich möchte mit dieser Feststellung keineswegs »unsere akademisch-bürokratischen Ideale pflegen«. Ich möchte mir lieber anschauen, wie denn Josef Oberhollenzer diese Trias auf den »Traumklauber« anwendet.

Zunächst zur »fairen Information«.
Was ist das denn?
Naja, also wenn man dem Schriftsteller Peter Handke vertrauen wollte: »Träume sind der Ursprung der Literatur.« So bekennt er in einem Interview. Lässt Oberhollenzer also seinen traumlosen Traumklauber gehörte, gejagte, gesammelte fremde Träume erzählen, so erhalten wir Leser quasi Informationen aus dem Ursprung der Fiktion. Birnbaumtraum, Katzentraum, Strudelteigtraum, Realitytraum, Traumtraum, Traumfälschung, usw. 52 Traumkomposita insgesamt. Und Traumliteratur, unbestritten, ist etwas vom reiz- und geistvollsten überhaupt. Denken wir an einen romantischen Träumer der Weltliteratur, Joseph von Eichendorff. Den verkehrt Oberhollenzers »nullträumer« gehörig: »Auf jeden Fall habe man ihm schon eine schiere unzahl von flugträumen erzählt; kaum sei vom träumen die rede gewesen, sei vom fliegen die rede gewesen, kaum erzähle einer einen traum, erzähle er einen flug. Unendlich langweilig, unendlich erbärmlich diese vervielfachung, diese wiederholung, dieses wieder und wieder, dieses und, und, und: eine massenpsychose, nächtens, im schlaf.« Also »Mondnacht« zum Beispiel: »Und meine Seele spannte/Weit ihre Flügel aus,/Flog durch die stillen Lande,/Als flöge sie nach Haus.« So Eichendorff 1837. Und Oberhollenzer? »so wunderbar, ach, so schön! O wie unendlich leicht (wie vogelschwer) schwebte ein jeder in den lüften so dahin – – und stürzte dann ab; stürzten am ende immer ab und wachten auf. Ja, so –; wie Ikaros, so?« Diese Nächte mit ihren Träumen des 21. Jahrhunderts – sie sind kein »abklatsch« von damals. »vielfältigkeit und pracht« der Träume, ja, die gibt es, aber »das träumen sei politisch geworden«, meint der Traumklauber einmal. Nur zum Beispiel.

Dann zur »Kenntnis der Mittel, die es dafür anzuwenden gilt«.
Hören wir einmal hin:
»Er selbst, wenn er geträumt hätte, habe er gedacht, hätte es gewußt.« Da haben wir den Eichendorffschen Konjunktiv wieder. Aber der ist der indirekten Traumerzählung geschuldet, nicht der Möglichkeit. Schön ist, wie sich diese Konjunktiv-Sätze entschachteln, wie ein Traum, den man langsam entschlüsselt. Das ist Prinzip in Oberhollenzers Prosa, die sich über zahlreiche Zeilen windet und die man lesend aufdröselt wie eine russische Puppe, in der eine russische Puppe ist, in der eine russische Puppe ist und so weiter.

Schließlich zu »Ehrgeiz und Zeit«.
Die hat dieser Autor auf sein Geschriebenes ebenfalls verwandt. Allerding  ganz anders als im Sinn des Erfinders des eingangs erwähnten Dreischritts. Wolf Schneider verkündet in seinem Buch folgenden Rat an »Schreiber, die gelesen werden wollen«: Zwischen 160 bis 350 Zeichen lang dürfe er sein, der erste Satz. Für Oberhollenzer (zugegeben, der schreibt nicht wie ein Journalist für den Tag) gilt das nun gar nicht. Bei ihm kann es schon einmal vorkommen, dass sich der erste Satz über 2.900 Zeichen zieht. Was noch lange nicht heißt, das dieser Autor schlecht und tot schreibt. Vielmehr trifft man sich dann doch bei jenem Qualitätskriterium, das auch Wolf Schneider als oberstes anerkennt: »Nichts geht über einen aufregenden ersten Satz.« Insofern: Man darf diesem Buch viele Leser wünschen.

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Raoul Schrott (Übertragung, Nachwort, Anmerkungen), Die Blüte des nackten Körpers. Liebesgedichte aus dem Alten Ägypten.
München: Carl Hanser Verlag 2010

 
Vaut le voyage


Borges, Jorge Luis Borges, einer der großen Leser und auch Rezensenten des vergangenen Jahrhunderts, berichtete  anlässlich seiner Buchbesprechung einer englischen Übersetzung der ältesten Lieder der Welt: „Etwa 1916 beschloss ich, mich dem Studium der orientalischen Literatur hinzugeben. Als ich mit Begeisterung und Gläubigkeit die englische Übersetzung eines bestimmten chinesischen Philosophen  las, stieß ich auf diesen denkwürdigen Passus: ‚Einem zum Tode Verurteilten macht es nichts aus, am Abgrund zu wandern, denn er hat mit dem Leben abgeschlossen.‘ An dieser Stelle brachte der Übersetzer einen Asterisk an und teilt mir mit, seine Übersetzung sei der eines rivalisierenden Sinologen vorzuziehen, der folgendermaßen übersetzt habe: ‚Die Diener zerstören die Kunstwerke, um nicht ihre Schönheiten und Mängel beurteilen zu müssen.‘ Da hörte ich zu lesen auf. Ein mysteriöser Skeptizismus hatte sich in meine Seele geschlichen.“
     Klar ist freilich auch, dass einem das Lesen dort vergehen kann, wo in Bezug auf Übersetzung zu korrekt vorgegangen wird, denken wir nur einmal an die Einheitsübersetzung der Bibel. Arnold Stadler, Büchner-Preisträger des Jahres 1999, schreibt im Nachwort zu „Die Menschen lügen. Alle“ und andere Psalmen: „Wo wird so gelebt, gesprochen und verstanden wie in dieser Einheitsübersetzung? Darin wollte ich diesen Texten möglichst treu sein, indem ich versucht habe, die Psalmen als Gedichte wiederzugeben. Ein tödlich genauer Wortlaut, wie ihn eine philologisch höchst präzise Wiedergabe darstellt, bedeutet vielleicht auch eine Übersetzung zu Tode: das Ende des Gedichts.“ Psalm 116, 1-9 liest sich also so bei ihm: „Ich liebe ihn,/denn er hörte mich./Er erhörte mich, genau an dem Tag, an dem ich/zu ihm schrie!/Ich war vom Tod umschlungen./Die Todesangst beherrschte mich./Ich saß im Dreck./Da schrie ich zu Gott./Rette mich! Schrie ich.“
     Mit diesen beiden Aspekten sind wir, thematisch und übersetzungstechnisch, bei Raoul Schrott angekommen, denn: hier geht es um Liebe und um Gedichte. „bruder, liebster, mein herz stellt deiner liebe nach/und allem was sie erschuf;/lass mich singen davon“, so hat es jemand niedergeschrieben auf Papyrus, den Papyrus Harris II. Bernard Mathieu vom Institut Français d’Archéologie Orientale hat diesen mit anderen Überlieferungsträgern – Kalksteinscherben und eine Vase – reich kommentiert in seiner Edition La Poésie Amoureuse de l’Égypte Ancienne veröffentlicht, und darauf beruhen Schrotts Nachdichtungen. Und auch bei ihm finden wir den Kommentar. Etwa wenn es da heißt: „einzig ein kuss von dir, nase an nase/ließe mein herz wieder klopfen –“, so lesen wir als Fußnote 3: „Der Nasenkuss stellt die Interpretation des Wortlauts – ‚der Geruch deiner Nase, wenn du allein bist, belebt mein Herz wieder neu‘ – dar. Die Nasen aneinanderzureiben galt als übliches Zeichen der Zuneigung; das Wort ‚Kuss‘ wurde mit dem Zeichen der Nase geschrieben.“
     Das ist Dichtung und allenfalls erläuternde Rivalität, sehr alte Dichtung im übrigen, und diese alte Dichtung hat viel mit der Kunst der Schrift zu tun, Hieroglyphen, die in diesem Buch auf mehreren Seiten original abgebildet sind, neben rotbraun kolorierten Motiven, die den Ton angeben, exotische Frauenfiguren zumeist. „Bilder und Buchstaben“, so schreibt Ernst Gombrich auf einer Seite seiner berühmten Geschichte der Kunst, „sind im Grunde Blutsverwandte“, und auf der anderen: „Wenn man vom Herkommen in der Kunst redet, muss man bei den alten Ägyptern anfangen. Von dort ‚kommt die Kunst her‘.“ Die hier vorliegende Kunst hat nichts Pyramidales, sie ist Bruchstück und es gilt, was Schrott im Nachwort feststellt: „Die spezielle Kunstsprache dieser Lieder, mit ihrem artifiziellen Vokabular und oft noch unklaren Tempusformen der Verben, sind der Grund, weshalb es kaum Texte gibt, bei denen die Übersetzungen so weit voneinander abweichen.“ Eine literaturgeschichtliche Einordnung wagt Schrott dennoch und sie lautet: „Ihren literaturgeschichtlich einzigartigen Rang erhalten diese Liebeslieder durch den nuancierten Ausdruck subjektiven Gefühlslebens. Sie sind weit weniger formelhaft gehalten als etwa die sumerischen Gesänge einer Enheduanna oder Illumiya fast ein Jahrtausend früher und selbst noch individueller als die Lieder der Sappho 700 Jahre später, mit der sich gemeinhin der Beginn der ‚modernen‘ Liebeslyrik ansetzen lässt.“
     Wenn einer also, ein Leser nämlich, mit diesem Autor eine Reise tut, so kommt er, kann man sagen, weit herum; und man darf auch sagen: Vielleicht ist es ganz gut, wenn er ein wenig von Borges‘ mysteriösem Skeptizismus im Reisegepäck dabei hat. Dann aber kann er auf Spuren im Meersand der Übersetzungen stoßen, die ihn erstaunen machen könnten.
     Ein Beispiel: 1. „meine augen auf die gasse gerichtet/auf seine schritte horchend im staub/schau ich den ganzen tag hinüber zur tür/in der hoffnung mein liebster tritt ein.“ 2. „Ich will doch aufstehn/und herumgehen in der Stadt,/in den Gäßchen und auf den Plätzen/will ich suchen,/den mein Atem liebt./Ich suchte ihn/und fand ihn nicht … Da fand ich,/den mein Atem liebt,/ich packte ihn/und ließ ihn nicht los,/bis ich ihn heimbrachte/ins Haus meiner Mutter/und ins Gemach der,/die mich empfing.“ 3. „welch ein glück in der erfüllung dich zu sehen/in deiner kammer, schöner mann –/dein arm um den hals, die hand an meinem busen/deine liebe groß und hart in mir/… ich war bei meinem liebsten in seinem gemach./mein herz ist glücklich nun über alles maß -“.
     1. und 3. sind Ägyptisch und in Schrotts Übertragung.
2. aber ist Hebräisch und eine Übertragung von Klaus Reichert. Reicherts Vorlage ist das Hohelied Salomos. Man merkt – und darin sind sich die vergleichende Literaturwissenschafter einig: Im Hohenlied wirkt die altägyptische Liebeslyrik nach. Man merkt aber auch, was Reichert zu seiner Übertragung ausführt: „Ich habe versucht, die alten Buchstaben mit den Sinnen neu zu lesen. Nachzufühlen, nachzuhorchen, was sie sagen und wie sie es sagen. Darüber werden Wirkungsgeschichte und historische ‚Bedingungen‘ eher zu einer Verlegenheit oder einem Abwehrgestus. Die Übersetzung möchte Wieder-Gabe sein: der Versuch, etwas zurückzugeben von dem, was mich in diesen Zeilen immer neu in Atem hielt.“ Mir scheint, diese Herausforderung der Wieder-Gabe uralter Gefühle um die Liebe ist Raoul Schrott in diesem wunderschön gestalteten Buch sehr gut gelungen.

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Christoph W. BauerDer Buchdrucker der Medici. Erzählung.
Innsbruck–Wien: Haymon Verlag 2009. 150 Seiten


Hin und wieder trifft es sich, dass die Göttinnen und Götter umgehen und dies und jenes unter den Menschen tun – nicht nur bei den alten Griechen und Römern, sondern auch noch in unseren Tagen. Die alte Mnemosyne hat so dem alten Michael Wagner, dem Gründer der Wagner’schen, ein Buch in die Hand gedrückt. Es ist die Geschichte vom Buchdrucker der Medici, eine Hommage an den in Deubach bei Augsburg geborenen Druckergesellen, der nach Innsbruck walzt und dort sein Glück macht. Der Autor Christoph W. Bauer hat sie verfasst. Am 11. Oktober 1639, liest man darin, ist Wagner „am Ziel“: Er hat in Maria Gäch seine goldene Witwe gefunden. Im März stirbt ihr Mann, der Innsbrucker Buchdrucker und -händler, im August teilt sie mit Wagner Tisch und Bett, im Oktober stellt Claudia de’ Medici die Gewerbekonzession aus.
     In seiner Erzählung, in der „alles so gewesen sein könnte“, schießt Bauer weit über dieses Ziel hinaus. Es ist ihm – um ein wenig im fußballerischen Bild zu bleiben, das diesem Autor ja keinesfalls fremd ist – lediglich Anstoß zu einem Historienspiel, dessen Erzählball in eleganten Passes und Flanken, munteren Dribblings und Volleys strategisch vollendet übers Feld zieht.
     „Welch schönes Endziel für des Mannes Streben: Das Werk, gegründet durch der Vater Hand, stark übers Wechselspiel des Glücks zu heben, bis, was einst Hoffnung war, Erfüllung fand“ – nach Lobhudelei, wie sie Angelika von Hörmann zur Übernahme von Druckerei und Buchhandlung durch Eckart Schumacher 1898 verfasste, nach panegyrischen Versen, die Bauer seinen Michael Wagner gerührt lesen lässt, klingt das hier alles nicht. Bauers Protagonist erlebt sich auf diesen Seiten über dreieinhalb Jahrhunderte und kommentiert dabei das Historienspiel von Druck- und Schreibkunst, Verlag und Buchhandel, Haus und Stadt in angemessener soziologischer Schärfe. So entsteht ein Panorama in acht Abteilungen (je mit Schwabacher-Initiale), durch das sich immer wieder Wagners Spuren ziehen, ganz so wie es in der kürzesten, der letzten Abteilung heißt: „Er bleibt. Und wer immer die Buchhandlung betritt, wird damit rechnen müssen, ihn anzutreffen, den Buchdrucker der Medici, Michael Wagner.“
     Der kundige, so gar nicht putzige, jedoch immer wieder augenzwinkernde Blick des Chroniqeurs führt uns vor, dass nichts einfach nur so ist, sondern irgendwoher kommt. Das eben ist die vornehme Aufgabe der Geschichtsschreibung, die Bauer hier leichtfüßig, aber nie leichtfertig betreibt. Selbstverständlich hat der Autor Archivalien recherchiert, Druck- und Verlagsprodukte der Wagner’schen gelesen und Gespräche geführt. Das so Erzählte hat Hand und Fuß, vornehmlich aber auch einen schriftstellerischen Kopf, der es fein gesponnen und spannend zugleich präsentiert. Wie seine literarischen Vorgänger, „Im Alphabet der Häuser“ aus 2007 und „Graubart Boulevard“ aus 2008, mag auch dieses Buch zwar kein buchhändlerischer Schnelldreher sein; dass es als Longseller in den Regalen seiner Stammbuchhandlung und darüber hinaus bleibt, ist ihm aber jedenfalls zu wünschen.

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Erika Wimmer, Die dunklen Ränder der Jahre.

Wien und Bozen: Folio Verlag 2009

„Theater ist Totenbeschwörung“, hat Thomas Oberender, Schauspielchef der Salzburger Festspiele, unlängst in einem STANDARD-Interview gesagt und von Figuren wie Ödipus gesprochen, die “Figuren von monströser Verdrängung“ sind. Immer wieder treten sie auf, „eine endlose Wiedergängerei.“
     Es ist Spätsommer 2009, und eben ist ein neuer Roman von Erika Wimmer erschienen, ein Roman, sprachmächtig und stilsicher, ein reifes Werk voller Spannung, die das Erzählfeuer geschickt entfacht und stets lodern lässt, indem die Handlung nach einer fein komponierten Erzähldramaturgie enthüllt wird. Wenn die handelnden Personen dann beinah ganz enthüllt und also halbnackt dastehen, sind sie tatsächlich Wiedergänger von Figuren wie Ödipus: die eine, Theresa, eine Frau von ungefähr 50 Jahren, und der andere sowieso, ein gewisser Jeanluc Cornu, ein Mann über das siebte Lebensjahrzehnt hinaus. Beide taumeln durch die flirrende Hochsommerhitze Montpelliers und glauben alles von sich und einander zu wissen, ohne sich und einander freilich auch zu kennen. Familienbande verknüpfen sie eng, aber der Erzählknoten ist so geschürzt, dass die Tochter ihren Vater über eine weite Strecke, über Jahrzehnte erst, über diesen schließlich doch in Erfahrung gebrachten Namen – Jeanluc Cornu – aufspüren muss.
     Der weite Erzählkosmos, den die Autorin nach und nach ausbreitet, spielt sich in den langen Stunden ab, die an jenem Tag und in jener Nacht und an jenem Morgen, da sich Vater und Tochter endlich begegnen, verstreichen. Zu Beginn geht es uns wie Theresa mit den vergangenen Zeiten, in denen sie nicht gelebt hat: Wir haben wie sie „im Grunde keine Ahnung“, „nur die Bruchstücke aus Erzählungen, nur die zwei Fronten im Kopf und eine Emotion dazu.“ Kapitelweise erfahren wir diese Bruchstücke jeweils aus der Perspektive des Vaters bzw. der Tochter.
     Die Toten, die sie beschwören, sind Frieda, Theresas Mutter, mit der die Tochter stets das Bett geteilt und an die sie sich gebunden hat (beinah wie Norman Bates in Hitchcocks Psycho an die seine): „Und jetzt liegt Frieda wieder neben ihr. Gemieft hat sie ja immer schon, aber jetzt ist sie auch noch tot und mieft ihrem Zustand entsprechend sehr stark.“ Und Cornu, damals Lukas Peer, ein Wehrdienstverweigerer aus feiner Wiener Familie, hat gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hin einen erschlagen, der den in Tirol Untergetauchten verraten hätte können. Er hat sich dann nach Südfrankreich abgesetzt, „er musste ein Nazi und er musste ein Verbrecher gewesen sein“. So erklärt sich das seine Tiroler Tochter Theresa, er aber hat sich als Franzose eine Widerstandskämpfer-Biographie zurechtgelogen.
     Jetzt, wo er angetrunken in irgendeiner Bar Montpelliers sitzt, jetzt, wo er sich umbringen will, gilt: „Wenn er umkippt, dann fallen sie über ihn her, die vermoderten Gestalten, die er schon jahrzehntelang mit sich herumschleppt. Was sich einmal bedeckt hielt, kommt jetzt hervor.“ Eine ganze Familie ist da, die ferne in Wien und die Nahe in Frankreich, und dann natürlich diese Österreicherin, die ihn an diesem Tag besuchen kommen will. Und die trifft den Herumirrenden nicht an, sodass sie an einander vorbeihalluzinieren. Diese Halluzinationen der blind Handelnden schaukeln sich heftig auf, aber beide kommen schließlich mit dem Leben davon. Theresa wird von Gabriel, ihrem südländischen Verehrer, aufgefangen, der gestrandete Cornu von seiner südfranzösischen Familie. Theresa aber bleibt die schreckliche Erkenntnis nicht erspart: „Sie erkennt die Frau und erstarrt. Wie durch einen Nebel beobachtet sie die Szene, wie sich ihr Vater auf den Sitz fallen lässt und langsam die Tür zuzieht, wie seine Tochter um das Auto geht, einsteigt und gleich darauf den Wagen in Bewegung setzt, ihn im Rückwärtsgang aus der Parklücke manövriert. Sie dreht den Kopf zur Seite, für einen Augenblick stehen sie parallel nebeneinander.“
     Obwohl diese Schlussszene die Wucht der Tragödie illustriert, kommt der Roman keinesfalls nur schwer daher. Dunkel ist sein Inhalt, zugegeben, und das Präsens der Gegenwart reibt sich immer scharf am Präteritum und Perfekt der Vergangenheit. Aber dieses Dunkle steht auf der soliden, erhellenden Erzählbasis von Zeit und Ort: Zeitgeschichte über zwei Generationen, Ortskenntnisse über mehrere Staatsgrenzen hinweg. Das Ganze ist von solcher Souveränität, dass auch Anekdotisches einfließen kann. Da gibt es zum Beispiel diese Geschichte von „den beiden Engländern dort drüben“, die meines Erachtens die Genialität von Thomas Bernhards „Stimmenimitator“ erreicht. Oder: Cornu ist gerade völlig ausgelaugt im Hotel, in dem auch seine Tochter logiert, angekommen; da fällt der Blick der Erzählerin nach draußen auf die allmählich unter Hitzeschleiern zum Erliegen kommende Stadt. Und da gleitet dieser Blick von der Frau mit dem Rollstuhl auf die fünf Halbstarken vor dem Bahnhof, schlüpft in ein Wohnhaus und hört die vor Lust schreiende Prostituierte, streift die beiden rauchenden Mädchen, die über Fabian zischeln, und den Algerier auf der Place de la Comédie, dem die Tränen kommen; „weiter drüben, auf der Promenade du Peyrou, sitzt eine faltige Frau im ärmellosen Hauskittel auf dem Steinboden“ und so weiter. Das ist mindestens so grandios wie der Einstieg in Jean-Pierre Jeunets „Fabelhafte Welt der Amélie“. Keine Abwertung des jüngeren Mediums Film, aber ein aktueller Beweis: Was der Film kann, kann gute Literatur schon längst. 

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Alois Hotschnig, Im Sitzen läuft es sich besser davon. Erzählungen.
Köln: Verlag Kiepenheuer und Witsch 2009

Endlicher Ernst

Zu Zeiten, da David Foster Wallaces „Unendlicher Spaß“ in Deutsch postum auf 1552 Seiten ausgewalzt und mit Musils „Mann ohne Eigenschaften“ (FAZ) oder Manns „Zauberberg“ (Der Spiegel) verglichen wird, erscheint auch Alois Hotschnigs schmaler Band mit sechs Erzählungen auf knapp 140 Seiten. Drei Jahre nach seiner letzten Sammlung „Die Kinder beruhigte das nicht“ zeigt Hotschnig damit zwar nicht, „dass Literatur mehr kann, als Geschichten erzählen“ (FAS), aber immerhin, dass sie auch das kann, nämlich eben Geschichten erzählen. Es ist keine Turbo-Literatur, die nach vor treibt, sondern in einer Art Schubumkehr Tempo drosselt, um dort genau hinzuschauen, worüber das Rasante hinwegsieht: eine Welt des Leerlaufs, deren unwerte Protagonisten auf der Stelle treten.

Es ist eine paradoxe Welt der statischen Mobilität, mit Menschen, die im Sitzen nichts und auch im Stehen nichts versäumen, eine Welt als Wartezimmer, ganz so, wie es der letzte Satz der letzten Erzählung sagt: „Im Sitzen läuft es sich besser davon.“ (Nebenbei: Welcher Autor findet so wunderbare Titel für seine Erzählungen wie Alois Hotschnig? Höchstens Max Goldt.) Fluchtbewegung heißt hier: „Er steht in den Rosen. Er steht in den Rosen und steht.“ Wenn es so einem besser geht, folgt daraus: „Dann trippelt er auf dem Stand und kommt nicht vom Fleck ... Dann steht er nur noch und steht.“ Räumliche Bewegung bedeutet zeitliche Dehnung: „Im vierten Stock dauern die Tage noch länger, wo sie schon im zweiten nicht aufhören wollen.“ Eine Reise machen, sich selbst auf den Weg machen, abhauen: Hier endet es absurd im Lebensmittelgeschäft als „von den Regalen herunter ins Meer springen“.

Absurde Gespräche über Zustände:
„Ich soll mich umgebracht haben? Das hätte mir meine Ärztin aber gesagt. Warum sollte ich das denn getan haben? Klaus.
Ich kann dir das doch nicht sagen, Ludwig. Du hast dich umgebracht. Du wirst deine Gründe haben. Es heißt, du hast dich erschossen.
Ich habe mich erschossen. Das erklärt, warum sich keiner mehr blicken lässt. Ich habe keinen Kontakt mehr, weißt du.“

Ludwig kontaktlos, Herr Hauser ortlos:
„Herr Hauser, bei uns Ärzten sind Sie am falschen Ort, soll der Arzt zu ihm gesagt haben, Sie sind vollkommen gesund. Das hat ihn doch ziemlich gekränkt. Seitdem ist er auf der Suche nach dem richtigen Ort, wie er sagt.“

Und die, die mit einem reden, verständnislos:
„Wenn es Paul nicht gut geht, weil er gesund ist, wie du sagst, dann müsste es ihm doch gut gehen jetzt, wo es ihm schlecht geht, weil ihm nichts fehlt. Oder verstehe ich da etwas nicht?“

Für diese unspektakuläre regressive Welt, für die wir anderen harte Namen bereithalten – Demenz, Depression, Alzheimer, Parkinson – und der wir mit Heim und Dreigang-Menüs, mit phantastischen Hemmern – Effectin, Madopar, Motilium, Adamon – begegnen, für sie hat Alois Hotschnig hier einen virtuos-armen Wortschatz entwickelt, eine Prosa povera. Zumeist wird montiert, zuweilen aphoristisch zugespitzt. Dann auch anekdotisch erzählt, wie in der Geschichte von der heilenden Kraft der Bisse des Hundes Karl. Was man nicht über dieses Buch sagen kann: „Wer es gelesen hat, ist danach ein anderer“, wie DIE ZEIT von Wallace gemeint hat. Sondern: Wer dieses Buch gelesen hat, wird ganz auf sich selbst zurückgeworfen. Aber er kennt diese Anderen besser.

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Sabine Groschup, Tim und die Blumen.
Wien: Czernin Verlags GmbH 2009

Kunstkiller Test

Seit Jahren boomen Krimis in den Buchläden, und immer schon waren Krimis als Genreliteratur reizvoll für avantgardistische Ansätze. Zwei historische Marksteine, was österreichische Literatur betrifft: H.C. Artmanns Die Jagd nach Dr. U. oder ein einsamer Spiegel, in dem sich der Tag reflektiert und – weil diese Feststellung auch fürs Kino gilt: Niki Lists Müllers Büro. Die Materie ist aus diesem Grund aber auch schon etwas abgegrast, und als Neuling auf der Krimi-Spielwiese muss man sich schon was einfallen lassen. Im besten Fall was Neues.

Nehmen wir einmal an, man kennt Hergés abenteuerlichen Comic-Reporter Tim; »Tim und die Picaros« oder »Tim und die Alpha-Kunst« – das könnte durchaus anregend sein. Aber »Tim und die Blumen«? Sabine Groschup, geboren 1959 in Innsbruck, Künstlerin, Filmemacherin und Autorin in Wien und Berlin, lässt uns diesbezüglich ins Leere laufen. Ihr Tim gleicht zwar, wie wir zu Beginn erfahren, »diesem Tim mit seinem Struppi«, heißt aber Minko, ist Mitte 30 und Fotograf und dödelt hundelos und eher unbedarft durch den Plot ihres neuen, nach »Teufels Küche« und »Alicia und die Geister« dritten Romans. Die Blumen, das sind hier Frauen, die Namen wie Orkide, Hortensia oder eben Fiore haben. »Wir tragen sie in unserem Herzen«, meint der italienische Polizist Giacinto am Schluss des Romans – »und trank einen großen Schluck. ›Unsere Blumen!‹«

Aha, im Herzen also. Irgendwie geht es im Roman ja auch um Körperteile. Denn irgendwo gegen Ende, als sich die dunkle Mordsgeschichte lichtet, stellt Hortensia fest: »Er ist ein Monster! Mein Vater ist ein Monster! Ich verstehe noch immer nicht ganz, warum er das tut. […] Er sammelt für sich ästhetisch wertvolle Körperteile, die er dann symbolträchtig verarbeitet: Kowalskys schön geformte Füße, außerordentlich strahlend blaue Augen, die ultramarin in der Sonne leuchteten.« Damit ist die Katze aus dem Sack: Ein gefährlicher Serienkiller geht um, ein Künstler-Spinner. Warum er tut, was er tut – wir erfahren es nicht ernstlich. Und Tim, der nur irgendwie zufällig in den Dunstkreis Giacintos und seines Personals geraten ist, ist froh, dass er selbst »nichts besonders auffällig Schönes« an sich hat. Irgendetwas freilich scheint es mit seinen Schultern auf sich zu haben. Der Buchrücken zitiert die erwähnte Szene, und Tims Reaktion ist: »Tim schüttelte sich, vor allem seine Schultern, und dachte wieder einmal traurig an Orkide, die ermordet wurde, weil sie im falschen Moment am falschen Ort war.« Gleich anfangs trifft Tim »ein harter kumpelhafter Schlag von hinten auf das Schulterblatt«. Von hinten? Tatsächlich wäre es ganz schön auffällig, diesen Schlag von vorne zu bekommen. An anderer Stelle zuckt der Held die Schulter, also: nicht die Schultern, nicht die Achseln, nein: eine Schulter. Das (wie auch das Schulterschütteln) versuche ich mir vorzustellen. Ganz zum Schluss wird es anatomisch wieder normal, Giacinto, der italienische Polizist, der Tim anfangs von hinten auf das Schulterblatt gehauen hat, klopft, bevor er seinen blumigen Schlusssatz sagt, dem titelgebenden Tim einfach auf die Schulter, ohne dass präzisiert würde, ob von hinten oder vorne.

Der Mörder heißt übrigens Oliver Fink, was bei Figuren, die hier mit Namen wie Ferdinand Goodpastor oder Sonja Mutu aufwarten, noch angeht. Altmeister Georges Simenon hat die Namen seiner Figuren Telefonbüchern entnommen, aber vermutlich ist realistisches Handwerkszeug in Bezug auf diesen Roman der falsche Parameter. Stilistische Unbeholfenheit und gestelzte Dialoge könnten ja durchaus gewollt passiert sein. »Die Morde verlören dann auch ihren Sinn«, überlegt Tim gegen das Ende hin. Wenn sie nicht irgendwie mit Kunst zu tun hätten, muss man ergänzen. Und linearer Erzählrealismus verlöre auch seinen Sinn, wenn er nicht irgendwie mit Kunst zu tun hätte. 

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Ulrich Ladurner, Solferino. Kleine Geschichte eines großen Schauplatzes.
St. Pölten und Salzburg: Residenz Verlag 2009. 140 Seiten

„Süß ist es, sich in der Welt der Vorfahren herumzutummeln, Worte und Taten der Alten erinnernd durchzugehen“, steht im Egesippus. Und weil der schulmeisterlich gebildete Adalbert Stifter zur Mitte des 19. Jahrhunderts so empfindet, zitiert er aus dieser historischen Schrift: „Diese Dinge empfindend erschien es mir nicht zwecklos, den Spruch des Egesippus an die Spitze eines Gedenkbuches zu stellen, das von meinem Urgroßvater und seiner Mappe handelt.“
Ulrich Ladurner, der als Auslandsredakteur für die Hamburger ZEIT aus dem Irak und Iran, aus Afghanistan und Pakistan berichtet, empfindet gut 150 Jahre später Ähnliches. Entscheidender Anstoß zum Schreiben ist bei ihm freilich nicht biedere Selbsttherapie, und schon gar nicht geht es um eine süße Vergangenheit. Es geht um Krieg; jenen Krieg, der zur „Lösung der italienischen Frage“ vor genau 150 Jahren angezettelt wurde und in der legendären Schlacht von Solferino am 24. Juni 1859 gipfelte; es geht um den Moment, der die Agonie der Habsburger einleitet und den Joseph Roth nicht umsonst an den Beginn seines „Radetzkymarsch“ stellt; es geht schließlich auch um den Menschenfreund Henri Dunant, der mit entsetztem Blick das Grauen der Kriegsopfer protokolliert und inmitten der helfenden Zivilbevölkerung die Idee des Roten Kreuzes gebiert.

„Es gibt“ also, wie Ladurner feststellt, „viele gute Gründe, über Solferino zu schreiben.“ Aber Ausgangspunkt war wie bei Stifter ein Urgroßvater. Er war kein „weitberühmter Doktor und Heilkünstler gewesen, sonst auch ein gar eulenspiegliger Herr, und wie sie sagen, in manchen Dingen ein Ketzer“ wie der Stiftersche; sondern er war Schuster in Südtirol, war als Soldat in der Schlacht von Solferino, und später ist er zum Dorfschreiber aufgestiegen, nach dem Krieg, über den er wohl geschwiegen hat, ebenso geschwiegen wie der Großvater über den Ersten und der Vater des Autors über den Zweiten Weltkrieg. Nichts vom Urgroßvater ist geblieben außer seinem Tagebuch vom Krieg in gut lesbarer Kurrentschrift. „Vielleicht hat mein Urgroßvater später, als er älter war, seinen Kindern von diesem Krieg erzählt. Ich weiß es nicht, doch ist es möglich. Wenn er es getan hat, dann könnten seine Worte weitergewandert sein durch die Zeit, von seinem Mund zum Mund meines Großvaters zum Mund meines Vaters. Doch so ist es nicht gewesen. Kein Mund hat mir etwas von diesem Schrecken erzählt, nur sein Tagebuch.“

Mit einfachen Mitteln schildert dieser Soldat, das Schöne wie das Schreckliche, ohne große Dramaturgie. Sparsam und voll Pietät zitiert Ladurner aus den Aufzeichnungen, erzählt wo notwendig Familiengeschichte, montiert ausgewählte Literatur und erstellt „die Schritte meines Urgroßvaters möglichst genau nachvollziehend“ eine „historische Reisereportage“. In Ton und Motivation ist das Buch Ingrid Strobls „Anna und das Anderle“ nicht unähnlich. Es endet auf dem Solferiner Golgatha, dem dortigen Ossarium, das die Gebeine der Kriegstoten sorgsam nach Schädeln und Rumpfknochen ordnet. Diese Schädelstätte im beschaulichen Örtchen nahe dem Gardasee ist ein schauerlicher Erinnerungsort. Krieg ist keine schöne Sache. Das ruft uns dieses sehr persönlich gehaltene Büchlein ohne heldenhafte Überhöhung in Erinnerung. Was den Ladurners bleibt, ist das in rissiges Leder gebundene Tagebuch: „Es hat einen sehr weiten Weg durch Raum und Zeit zurückgelegt. Ich hoffe, dass seine Reise weitergeht.“ 

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Heinz Gappmayr, auswahl. Mit einem Nachwort von Markus Klammer.
Wien und Bozen: Folio Verlag 2009

Das neue Buch mit Texten von Heinz Gappmayr misst 9,6 x 14,8 cm, ist 320 Seiten stark und damit kein Leichtgewicht. Es ist ein zugegeben kleines, aber doch kein geringes Buch, weil es trotz des Formats die mögliche Größe seiner Texte nicht reduziert. In Bregenz zum Beispiel steht, was in diesem Büchlein auf Seite 45 zu lesen ist, im Zentrum der Stadt, auf der Hausfassade Rathausstraße 27: eine Zahl in riesengroßer Schrift. Es ist die Maßangabe „0,0000000001 mm“. Der „Schriftbildner“ (die Wortprägung stammt von Felix Philipp Ingold) Heinz Gappmayr hat sie 1997 auf dort hingemalt. Im Büchlein wiederum wirkt das kleine Zahlenmotiv nicht minder groß, und praktischerweise stehen Werkverzeichnisnummer und Entstehungsjahr gleich dabei – auf der linken Seite nämlich (WVZ. 273 / 1972). So geht das über die gesamten 300 Seiten mit den Textmotiven des Heinz Gappmayr: links die Daten, rechts die Taten.
Gappmayrs Tätigkeit wird in dieser repräsentativen Auswahl mit Arbeiten aus 1961 bis 2009 dokumentiert, anschließend von Markus Klammer kenntnisreich kommentiert und vollständig bibliografiert. Ad personam wird man weiterhin nicht mehr wissen, als Gappmayr selbst in einem Dreizeiler von sich verraten hat: „H.G. / geb. 1925 in Innsbruck / lebt in Innsbruck.“
Dem bleibt weiter nichts hinzuzufügen, außer vielleicht drei Kleinigkeiten:
1. Sein Blatt „LINIEN” (2008, im Original 50 x 70 cm, Bleistift auf Papier, hier im Buch auf Seite 291) wurde im Juli 2009 anlässlich der Benefiz-Ausstellung für den subventionsgekürzten Innsbrucker Kunstraum um EUR 3.000 angeboten.
2. Im Conrady (2000), dem „großen deutschen Gedichtbuch“, kommt Heinz Gappmayr dort, wo es konkret wird, wo Wörter buchstabiert werden, wo Poesie visuell wird, nun auch vor.
3. Ich habe bei mir zuhause noch so ein Büchlein im Format 9,6 x 14,8 cm. Es heißt „Kishon für Eilige“. Man muss also noch einmal betonen: Dieser Auswahlband ist kein Gappmayr für Eilige. Ganz im Gegenteil: Es ist ein Gappmayr für Entschleunige, der mit jeder Buchseite ans Verweilen appelliert.  

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Thomas Schafferer, lyrik rocks.
2-3-4 rotzfreche Tracks.
Innsbruck: pyjamaguerilleros 2007
Thomas Schafferer, jahrzehnt ligurien. 222 lyrische Impressionen. Italienische Reisen I
Kösching: perspektivenverlag 2007
Thomas Schafferer, fujiyama hinter dächern – 4013 stunden im netz – Ein Alltagebuch und Gedicht-Bild-Band. 168 Gedichte und 168 Fotografien / Grafiken
Zirl: Edition BAES
Thomas Schafferer, Kaiserschmarrn. 20 absurde Kurzgeschichten und –krimis
Innsbruck: pyjamaguerilleros 2008 


In Print

Unlängst hat der Pariser Autor Eric-Emmanuel Schmitt in der Innsbrucker Buchhandlung Wiederin gelesen und wurde vom Publikum gefragt, wie er denn zum Schreiben kam – ein wahrer Klassiker unter Publikumsfragen an einen Autor. Bei Schmitt war's so, dass er a) als Autor eigentlich eine Folge des frustrierten Komponisten, der er auch war, ist; und b) schon immer geschrieben hat, wobei: Zuerst war bei ihm alles Geschriebene leer, erst nach einem mystischen Bekehrungserlebnis in der Sahara (er war vorher Atheist gewesen) füllte es sich mit Sinn. Jetzt ist er Bestseller-Autor.

Ich denke mir, dass Thomas Schafferer, ganz wie sein Kollege Schmitt, b) schon immer geschrieben hat. Initiationserlebnisse in der Wüste dürften ihn aber wenig kratzen. Was ihm zu Sahara einfällt? Na, zum Beispiel unter dem Titel leger: „ob im saharasand/oder schneegestöber/bleiben sie immer/entspannt und leger // hier gibt
es sand/am meer/wie sand/am meer“. Muss jeder für sich entscheiden, ob diese Verse nun sinnvoll oder -leer sind.

Bestseller-Autor ist Thomas Schafferer noch keiner, vorerst erscheinen seine zahlreichen Bücher mit freundlichen Vorwörtern und in Verlagen mit fantasievollen Namen. Auch nahm seine Schriftstellerkarriere nicht den Umweg a) über den frustrierten Komponisten. Schafferer ist laut Selbstauskunft (Fußballer-)Schriftsteller-Maler-Konzeptkünstler-Kreativkopf, und das zufrieden und immerzu in einem. Er liebt die Pose und ist überhaupt mutig, um nicht zu sagen rotzfrech: Andere, womöglich ältere Zeitgenossen würden sich eventuell in Grund und Boden genieren, ihr Innerstes derart filterlos herauszuschreiben, ins Netz zu stellen oder/und zwischen Softcover-Buchdeckel zu drucken.

Aber: Es gibt auch nichts Gutes, außer man tut es. Und Thomas Schafferer tut es eben. Ab den Hut vor so viel Mut! Richtig stimulierend kann zum Beispiel Schafferers lyrik rocks wirken, dieses Kalauern, das er so gut beherrscht. Beispiel: „ein einziger blick in die dorfdisko genügt: alles foxtrottel“ (trott); oder: „wussten sie schon, dass geisterfahrer total entgegenkommend sind?“ (übrigens schnell noch was...); oder: „kommt der begriff 'fungieren' aus der pilzzucht?“ ((etymo) logisch). Das sind richtige Schenkelklopfer, und wie gesagt keine schlechten. Prosaisch aufgelöst findet man das in den Kaiserschmarrn-Kurzgeschichten, kabarettartigen Satiren und Probierstücken.

Kehren wir aber zum Vergleichen mit Kollegen zurück: Wie Goethe hat Schafferer eine Italienreise hinter sich, bzw. wieso eine? Es sind mehrere! Schafferer liefert hoch gespannte Erlebnislyrik davon, erste Einträge am 9. September 1992, letzte am 31.12.2006. Und selbstredend werden sie publiziert: zunächst im Eigenverlag, dann im Verlag pyjamaguerrilleros, schließlich im perspektivenverlag zu Kösching. In der Herausgabe seiner eigenen Schriften ist Schafferer nicht weniger akribisch wie der alte Goethe, ordnet neu, kommentiert, ebnet den Zugangsweg für den/die zeitgenössische/n Leser/in und die zukünftige Forschung. Wo, darf man im Übrigen zwischendurch fragen, hat eigentlich Goethe seine Erlebnis-Lyrik publiziert? Na, zum Beispiel in der "Iris", einer "Zeitschrift für Frauenzimmer", oder im handschriftlich verteilten "Tiefurter Journal" oder im "Teutschen Merkur", ja, und die "Römischen Elegien", "zwar schlüpfrig und nicht sehr dezent [...], aber zu den besten Sachen" gehörend (Schiller), gingen an die "Horen".

Die besten Sachen von Schafferer – literarische Readymades gepaart mit foto-/grafischen (und hier fällt mir zum Vergleich nur der Name Schlingensief ein) – gehen an die Edition BAES. Es handelt sich um die Online-Tagebuch-Projekte 2005 stunden im netz und 2008 stunden im netz, die ursprünglich als Weblog auf www.schafferer.net erschienen. Obwohl das Buch sehr schön gemacht ist, gehören diese Dinge durchaus ins Netz. Denn Leserkommunikation wird in Bälde ohnehin übers Netz stattfinden. »Künftig«, meinte Jürgen Jeffe von der ZEIT in seinem Beitrag zum Welttag des Buches am 23. April 2009, »braucht ein Buch einen Autor, aber ein Autor kein Buch. Zumindest keines von Gewicht, das hergestellt, verpackt, verschickt und verkauft werden muss.« Schafferer gehört längst dieser buchlosen Generation an, auch wenn er hier einen Stapel von geschätzten anderthalb Kilo abliefert. Und er ist auf dem richtigen Weg.  

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Reinhold Messner, Torre.
Schrei aus Stein. 
München: Malik 2009 

Eroberer des Nutzlosen

Reiseschriftsteller – das sind Schriftsteller, die über Land und Leute schreiben, die sie bereisen. Bruce Chatwin ist einer von ihnen, und ein wunderbarer. Wenn man seine »Reise in ein fernes Land« mit dem Titel »In Patagonien« liest, erfährt man viel Nützliches, denn so nomadenhaft er lebte, so belesen war er dennoch und besaß die Fähigkeit, einerseits mit Landsleuten ins Gespräch zu kommen und andererseits all das in stilistisch vollendetem Plauderton zu erzählen.

Bei Bergschriftstellern ist das anders. Ihre Reiserouten führen zumeist weg von menschlicher Zivilisation steil nach oben. »Stillschweigend beginnen sie in Richtung Gipfel zu klettern.«, heißt es im neuen Buch von Reinhold Messner folgerichtig von den zwei Bergsteigern Bonatti und Mauri; und als dann am Morgen des 7. Feber 1958 zwei Kollegen, ebenfalls in Richtung Adela-Gipfel, auftauchen: »Bonatti und Mauri freuen sich über die Begegnung: Es ist das erste Mal, dass sie Landsleute in Patagonien treffen, und es fehlt nicht an Unterhaltungsstoff. Maestri aber bleibt abweisend und stumm. Um 12.30 Uhr verabschiedet man sich, und jede Seilschaft setzt ihren Weg fort.« Hier herrscht ehrgeiziger, rivalisierender Sportsgeist, keiner will außer Atem und Tritt kommen. Der (noch unbestiegene) Stein des Anstoßes heißt Cerro Torre, ein über 3.100 Meter hoher Granitblock, zwischen der argentinischen Pampa und dem chilenischen Kontinentaleis gelegen, in den Anden Patagoniens. Es ist die Zeit »jener Generation von Bergsteigern, die sich vor allem durch Neutouren auszeichneten«, aber noch gilt: »Der ›Torre‹ war 1958 unmöglich. Es fehlte an der richtigen Ausrüstung, am Know-how, an Erfahrung. In Patagonien kann man nicht klettern wie in den Dolomiten.« Der stumme Cesare Maestri aber, ein Großmaul in der Ebene, nennt sich selbst »die Spinne der Dolomiten«. Und um ihn geht es hier: einerseits um »sein Temperament, seine ganze Kraft – sowohl die körperliche wie die geistige – [...] auf die paar Quadratmeter Fels gerichtet, an denen er gerade hängt und weiter emporturnt.«, und andererseits um den Mann mit »Vorliebe für das Theatralische«, den »genialen  Felskletterer«.

Felskletterer, Bergsteiger: Klar sind es Männer, die der Berg ruft. Bergsteigerinnen wie Gerlinde Kaltenbrunner sind ein jüngeres Phänomen. Wenn sie mit ihren Kolleginnen Nives Meroi und Edurne Pasaban auf den Achttausendern dieser Erde unterwegs ist, gibt es keinen Wettkampf. »Ihre Leidenschaft gilt nicht allein den hohen Bergen des Himalajamassivs. Auch von den Menschen und deren fremder Religion und Kultur lässt sie sich bewegen und verzaubern.«, liest man auf ihrer Homepage. Völlig atypisch für Männer! Männer ruft der Berg, Männer wie Messner, der das »Klettern als Rebellion gegen das flache Leben« definiert. Und bei ihm ruft der Berg auch nicht bloß, als der wohl »schwierigste« Berg der Welt schreit der Cerro Torre sogar, es ist ein »Macho-Berg« par excellence, der »Marilyn-Monroe-Berg« (Andy Kirkpatrick). Der eindringliche Schrei drang auch zu Werner Herzog, der unter dem Titel Schrei aus Stein (1991) seinen schwächsten Film produzierte: ein verunglückte Dreiecksgeschichte rund um den Cerro Torre, an der auch Messner – den Herzog in der TV-Doku Gasherbrum – Der leuchtende Berg 1985 porträtiert hatte – nicht unerheblich beteiligt war. Das Buch jetzt, 50 Jahre nach dem historischen Ereignis, zeigt Messners Interesse, »diese Geschichte nachzuerzählen und nicht zum x-ten Mal eine eigene«.

Angekündigt wird die Faction um die angebliche Erstbesteigung des Cerro Torre durch Cesare Maestri und Toni Egger im zweiten Anlauf Jänner 1959 als »Bergsteiger-Krimi«. Maestri ist Messners Figur, die – zunächst aus dem Blickwinkel des jugendlichen Zeitzeugen nachgezeichnet (»Cesare, mein Held [...], der Rebell, der bedingungslose Freikletterer«) – sich zusehends mit der realen Person der letzten Jahrzehnte vermischt. Ganz in der Tradition des bergsteigenden Rivalen verweigert dieser Cesare Maestri allerdings seinem recherchierenden Konkurrenten die Aussage. Das Verbrechen Maestris besteht darin, dass er – nach schweigsamem Reiseantritt (»der Aufbruch am 28. Januar 1959, in aller Stille, wie ein Ritual«) – zurück von der Reise gegen das Gesetz der Schweigsamkeit verstößt; als vortragender Showman erzählt er ein tragisches Bergmärchen (Erstbesteigung gelungen, Partner beim Abstieg verunglückt). Und Messner, Beobachter aus der Ferne und Chronist, entdeckt sukzessiv Widersprüchliches. Ein Verdikt über dieses heroisch inszenierte Erzählen alpiner Historie ist bald gefällt: »unmöglich« diese Erstbesteigung, unmöglich wie schon 1958; dann folgen ein hin- und herwälzendes Räsonieren über Motive und Emotionen der mythischen Hauptfigur sowie sämtliche Kronzeugen der »Unmöglichkeit der Tat« (das sind die späteren Expeditionen, denen die Besteigung miss- oder gelingt).

Messner, dem Klettern und Bergsteigen »anarchisches Tun in einer archaischen Welt« sind, geht es um das Zurechtrücken der Geschichte. Spannend schildert er, was laut Maestri geschah und  was warum so nicht sein konnte; er liefert das Psychogramm eines vom Ruhm Getriebenen, der als pathetischer Vortragender in Bann schlug, aber mit dem Großteil der Bergsteiger-Community in Fehde lag. Mag sein, dass Messner wichtige Literatur zum Thema (Tom Dauer, Peter Meier-Hüsing) unterschlägt und sich selbst in den Vordergrund schreibt. Ja, und alles, was man von Patagonien erfährt, ist selbstredend auf den Cerro Torre reduziert. Zwei Seiten und ein Foto bloß über den nächsten zivilisierten Ort (das geschichts- und gesichtslose Touristen-Kaff El Chaltén). Man sieht: Messner hat so gar nichts von Chatwin. Kletterer und Bergsteiger reisen nicht für andere, sie reisen nur für sich. Diesen egomanen Solotrip, dessen schweigsames Gegenüber der unerbittliche Berg ist, gilt es mit allen Mitteln des Suspens beredt darzustellen, um Bewunderung für den Bezwinger zu erregen. Vielleicht ändert sich das aber, wenn die Zukunft des Kletterns und Bergsteigens weiblich wird?  

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Georg Paulmichl, Der Georg.
Texte und Bilder.
Innsbruck und Wien: Haymon Verlag 2008 

»Für die einheimische Sprachkultur bin ich eine Erlösungsphase.« 

Das ist der letzte Satz, den Dietmar Raffeiner auf Track 7 der CD spricht, die in diesem Buch eingeklebt ist. Er liest (leider nur) einen Text des Prader Künstlers Georg Paulmichl vor, dessen sprachliches und malerisches Talent er als Kunsterzieher in der Behindertenwerkstatt Prad Mitte der 1980er Jahre entdeckte. Seitdem schreibt Georg Paulmichl unter seiner Anleitung Konstellationen, die aufgrund ihrer eingängigen poetischen Raffinesse rasch Anerkennung und Absatz fanden – gelesen wie gedruckt, zuerst im Eigen-, dann im Haymon Verlag.  Strammgefegt (1987), Ins Leben gestemmt (1994), Vom Augenmaß überwältigt (2001), Mensch (2003) heißen die Werktitel; Verkürzte Landschaft, Paulmichls/Raffeiners Haymon-Debüt aus 1990, ein Longseller, war zuletzt vergriffen und dieser Umstand führte dazu, ein Best of unter dem Titel Der Georg. Texte und Bilder von Georg Paulmichl herauszubringen. Auf der Buch-CD finden sich sechs Texte vertont.

Dass diese Vertonungen (Komposition, Gitarre: Wolfgang Paulmichl, Walter Tolloy, Gesang: Erwin Windegger) den Texten gerecht werden, kann man nicht sagen; hier klingt alles nicht viel anders als gängiger deutscher Musicalverschnitt. (»Ich bin der wichtigste Paulmichl«, soll der Dichter Paulmichl einmal gesagt haben, und für diesmal hat er eindeutig recht.) Beim Lesen zeigen sich Paulmichls/Raffeiners Satzkonstellationen jedoch in alter Frische. Ihr anarchischer Mutterwitz verrückt die gewohnte Semantik, legt so den Staub hinter Worthülsen frei und bringt diese in ungewohnter Umgebung neu zur Geltung. Solches nannte der spanische Avantgardist Ramon Gomez de la Serna »greguerías«. Bei ihm klingen sie etwa so: »Ein Schwan ist das große S im Gedicht des Teichs«, oder: »Der Ventilator rasiert die Hitze« (Greguerías, 1917). H. C. Artmann hat die Sache eingedeutscht: »Das schulhaus besitzt fassaden und eine gründungsinschrift, ein garten mit chloroformrosen umgibt es im quadrat. In seinen fenstern spiegeln sich die blauen himmel, in den augen der schüler spiegeln sich die lehrkörper. Das erlebnis des lehrers ist der rohrstock, er ist seine beste suppe.«, oder: »Der frühe strahl der morgensonne trifft zuerst den gipfel des hohen berges – er vergoldet ihn mit seinem zeigefinger.« (Fleiß und Industrie, 1967).

Es ist schon frappierend, in welche Nähe zueinander diese Dichter aufgrund ihrer Technik geraten, »greguerías« und »georgías« sozusagen. Während Artmann, der poeta doctus, von Gomez de la Serna wusste, wissen Paulmichl/Raffeiner sicher nichts von ihm. Und dennoch ist die »Zunge […] vom Denkkopf gezügelt«, wenn die beiden ans Werk gehen und ihre Reihenstakkatos dann von der verkürzten Süd- oder Nordtiroler Landschaft und ihren Leuten erzählen, wenn sie von Gott und der Welt, viel vom Leben und viel vom Tod verdichten, vom himmelspfortigen Universum und vom menschlichen Erdreich. Prominente Kollegen wie Thomas Hürlimann und Felix Mitterer faszinierte diese poésie brutte, dichterische Rohkost, wie sie etwa auch Ernst Herbeck alias Alexander unter der Anleitung seines Arztes Leo Navratil in der Niederösterreichischen Landesnervenklinik Gugging produzierte und damit nicht minder prominente Kollegen wie Gerhard Roth und W. G. Sebald in Bann schlug. Es ist die andere Seite des Lebens, auf die unser Blick fällt, Worte und Bilder von der anderen Seite, die uns fasziniert und über die wir so wenig wissen.  

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Jeannine Meighörner, Starkmut. Das Leben der Anna Hofer.
Innsbruck: Eiditon Löwenzahn 2009
Sonja Ortner & Verena Wolf, Als ich Ander Hofer traf. Ein traum~haftes Buch in 7 Stationen
Innsbruck: innspiriert 2009
Jochen Gasser & Norbert Parschalk, Andreas Hofer. Eine illustrierte Geschichte
Brixen: Verlag A. Weger 2009 

 
Heimatkunde, weither aus fernsten Fernen
 

„Ein starkmütiges Weib, wer findet es? Ihr Wert ist Dingen gleich, die weither aus fernsten Fernen stammen.“, fantasierte Bruder Willram eher schwachsinnig auf einem Grabstein, welchen das Land Tirol „der Sandwirtin Anna Ladurner, Andreas Hofers Weib“ zur Jahrhundertfeier des Freiheitskampfes 1909 spendierte. Der Brunecker Priester und Verseschmied Anton Müller, der sich so nannte, steht zu seiner Zeit auf der rechten Seite, allwo wir auch den Bergpfarrer Sebastian Rieger finden, der unter dem Decknamen Reimmichl schrieb.

Jeannine Meighörner, die zum Gedenkjahr 2009 eine romaneske Biographie der Anna Ladurner für gebildete Stände verfasst hat, nahm sich dazu vom einen den Titel, vom andern die Manier, die bäuerliche Tiroler Empfindungswelt auszustaffieren und zu schildern. „Starkmut. Das Leben der Anna Hofer“ ist ein Roman als eine Art trivialliterarisches gender mainstreaming: Was für  Andreas Hofer als Romanstoff recht war, soll für Anna nun billig sein. Viel weiß man nicht von der Hoferin, wie man ja auch nicht eigentlich viel vom Hofer weiß. Daher die bildungsbürgerliche Fiktion, die Anna Ladurner in chronologischer Ordnung auf Goethe treffen lässt (1786), mit Bettine von Brentanos Tirol-Extasen parallel führt (1809/10), den Hamburger Nazarener-Maler Friedrich Wasmann oder den deutschen Publizisten August Lewald zu ihr auf den Sandhof führt (1830).

Der dramaturgische Dreh- und Angelpunkt des Romans ist, dass die 45-jährige Ehefrau und Mutter nach Erschießung ihres Mannes nicht bereit ist, „sich länger demütig in ihr Schicksal zu fügen“. Sie fährt nach Wien und bietet dem Kaiser die Stirn. „Aus der Dulderin war eine Jägerin geworden.“ Dieser gewendete Mythos gibt Anlass, Südtiroler Land und Leute durchaus kundig, ausgiebig, aber wohl auch etwas penetrant zu betrachten. Folkloristisch findet sich aufgefädelt, was sie an Perlen zu bieten haben, bevor all dies vor die Kriegssäue geworfen wird: pralle Fluren, selige Bauernschaft, alte Kultur. Insgesamt ein Stoff und eine Fasson, wie sie Reimmichls Volkskalender auch im 3. Jahrtausend noch gern hat.

Mich persönlich hat interessiert, ob nun Holzfässer zu Lagerung und Transport von Wein tatsächlich rätischem, und damit „Südtiroler Ideenreichtum“ entsprangen, wie hier behauptet wird. Die Räter, das muss man wissen, waren Vorfahren der Ladurner und hatten diese Fässer den Amphoren- bzw. Ziegenschlauch-Römern voraus, was wiederum die Ladurner im Nachhinein irgendwie besonders macht. Tatsache ist, dass Holzfässer nichts genuin Rätisches sind, es hat sie auch in Britannien, Gallien und Germanien, in Pannonien und Noricum gegeben. Vielleicht sind sie doch viel eher ein Beleg dafür, dass das Tiroler Bergvolk nicht wesentlich anders als andere Völker war/ist? Weder stumpfsinniger (Hebel/Heine), noch weiß Gott wie gewitzter (Wordsworth/Eichendorff). Geschweige mutiger, eher – mit Bezug auf Hofers Zeit – politisch naiv.

Aber natürlich: Mit solchen Einsichten kann man zum Jubiläum nicht hausieren gehen. Im Zusammenhang mit 1809 muss alles irgendwie großartig und bedeutsam sein. Dies gilt es nachkommenden Generationen zu vermitteln. Für Sonja Ortner & Verena Wolf ist es geradezu eine Mission, das Tiroler Kleine Volk ab 9 Jahren zur Legende vom Heiligen Ander zu bekehren. Beim Versuchskind und Ich-Erzähler (Ich-Erzählerin?) funktioniert das auch. Es hat zwei prägende Erlebnisse in der Innsbrucker Hofkirche. Zunächst wird anlässlich eines Schulausflugs die Neugier an Andreas Hofer geweckt: "Was hatte er Bedeutsames vollbracht, dass eine Statue von ihm in der Hofkirche stand?" Im Anschluss daran wird die Neugier gestillt. Das Kind darf Geschichte und Vorgeschichte von "anno 09" in sieben Träumen erleben. Das macht ein Zauberstein möglich, den es von einem Waldrappen am Innufer erhält. Nach einer Woche ist Schluss. Das Kind weiß jetzt alles: "Mir wurde klar, wie außergewöhnlich diese Begegnung mit einem so großartigen Menschen gewesen war. Es war mir ein Bedürfnis, heute zu seinem Grabmal zu gehen und dort eine Kerze anzuzünden. Langsam und ehrfürchtig öffnete ich das große Kirchentor. Ein warmer Lichtstrahl fiel auf die weiße Marmorstatue an der linken Wand. Behutsam stellte ich die Kerze auf den Boden vor dem Grabmal. Fest umschlossen in meiner Hand hielt ich den Stein, dem ich alles Erlebte zu verdanken hatte. Plötzlich setzte die Orgel ein, und eine feierliche Stimmung erfüllte den Raum. Ich blieb stehen, bis das Stück verklungen war und verließ andächtig die Kirche."

Ob Neunjährige von heute – selbst wenn sie Zaubersteine unter ihren Schlafpolster legen – das Grabmal des Helden in der Hofburg aufsuchen? Ob Verklärung der Vergangenheit wirklich der beste Weg für die Zukunft ist? Die offizielle Landespädagogik zumindest legt das nahe. Inoffiziell geht’s auch anders. Jochen Gassers und Norbert Parschalks „Andreas Hofer. Eine illustrierte Geschichte“ schlägt eine ganz andere Richtung ein. Auch hier spielt das Weinfass eine Rolle, es geht allerdings nicht darum, dass es die klugen Vor-Südtiroler erfunden (oder so) hätten. Nein, Andreas Hofer zieht es gleich zu Beginn auf Seite 5 hinter sich her und tauscht es auf den letzten beiden Seiten im Himmel gegen – ja, gegen „es Biachl von Jochen und Norbert“ ein. Man spürt, dass einen hier ein Hauch Selbstironie anweht, und das tut der Sache ungemein gut! Parschalks Texte sind nüchtern und als historische Grundlage gut zu gebrauchen; Gassers Cartoons wiederum sind zeichnerisch genial und mehrsprachig: „Sö eine Säuerei!“ (ein Sachse in der Klemme), „Du, Håns, wo isch der Schatle?“ (Hofer, im Stich gelassen), „Bin jå net bleed!!! Nix wie haam!“ (Chastelet abziehend), „Gemma weida, oba leise.“ (Stille Flucht der Bayern), „Andrea, che bel nome!“ (Hofers Italienisch-Lehrerin), „Fusillez-le!“ (Das Todesurteil), „Des gibt’s ja neeet … a Tiroler im Theater!“ (Hofer auf Geheimmission nach Wien) usw. Das ist alles herrlich unpathetisch und sehr schön gemacht! Etwas Besseres kann dem Hofer-Mythos gar nicht passieren! Fürs Jubiläumsjahr zumindest, so scheint  mir, bleibt dies das ultimative Hofer-Buch, ein Buch für jedes Alter, ein Buch für alle Stände, ein Buch für alle Nationen!  

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Homer, ILIAS. Übertragen von Raoul Schrott. Kommentiert von Peter Mauritsch.
München: Carl Hanser Verlag 2008 

Homéros, hó arístos kaí theiotátos tôn poietôn 

Dass »Homer der beste und göttlichste der Dichter« ist, wie es in Platons Ion-Dialog steht (530c), weiß so ziemlich jeder; auch dass er »der erste Dichter des Abendlandes« ist, wie ein Buch von »Trojas strengem Wächter« (so DIE ZEIT in einem Porträt des Basler Gräzisten, Nr. 51, 11.12.2008) Joachim Latacz aus 1989 heißt. Aber wer liest nun eigentlich noch das Werk dieses Genies?

Längst sind ja die Zeiten vorbei, als überspannte Jugendliche à la Werther ihren »kleinen Homer« stets bei sich trugen und ihn »dazwischen«, etwa beim »Abfädmen der Zuckererbsen«, lasen, aus einer griechisch-lateinischen Ausgabe wohlgemerkt. Solche Leser gab’s in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Wiewohl, es gibt sie auch noch heute. In der Wissenschaftsbeilage des STANDARD war unlängst von einem niederösterreichischen Linguisten namens Hannes A. Fellner die Rede, der seit 2006 »an der Havard University tätig ist« (Fachgebiet: historisch vergleichende Sprachwissenschaft): »Forschung beschäftigt ihn eigentlich ständig: Oft reicht eine Ausgabe von Homers ‚Ilias’ ... und schon ‚suche ich nach Rätseln, Mustern, Zusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten, vergleiche, rekonstruiere und stelle Theorien auf’, verrät der Forscher.« (24./25./26.12.2008)

Nicht zuletzt versuchen ganze Universitätsinstitute – etwa in einer Werbebroschüre der ortsansässigen Abteilung Gräzistik und Latinistik – Studienanfänger unter anderem mit Homer zu ködern: »Interessierst Du Dich für Sprachen? Würdest Du gerne große Autoren der Weltliteratur wie Homer, Sappho, Platon, Catull und Ovid im Original lesen? Willst Du zu den kulturellen Wurzeln Europas vorstoßen? Reizt es Dich, das vielfältige Nachleben der Antike zu erforschen, um so unsere Gegenwart besser zu verstehen?«

Raoul Schrott, der Homers Ilias im Auftrag des Hessischen Rundfunks (Koproduktion mit Deutschlandfunk) neu übersetzt hat, geht es weniger um diesen erlauchten Studentenkreis. Er hatte vielmehr die gesamtdeutsche Hörerschaft im Auge. Die Sendetermine sind mittlerweile Vergangenheit, 20 Audio-CDs mit der Stimmenvielfalt Manfred Zapatkas seit Herbst 2008 Gegenwart. Und eine Buchausgabe der Neufassung gibt es auch. Denn der Kontakt zur  antiken Literatur sei, so befinden Radiosender, Verlag und Autor, »in den vergangenen Jahrzehnten bedroht«. Da möchte man dagegenhalten.

Insgesamt schaut die Ausgabe, die im Münchener Hanser Verlag erschienen ist, sehr schön aus: mit Einführung, Stellenkommentar, einer Liste der Ilias-Figuren, einem übersichtlichen Inhaltsverzeichnis, einer Inhaltsangabe der Vor- (Kypria) und Nachgeschichte (Aithiopis), schließlich dazwischen eingebettet Homers Ilias, und dies alles schön luftig gesetzt. Übersetzt hat Schrott ganz in eigener Tradition, einmal mehr um einem Markstein der Literatur »Präsenz zu verleihen ... in der lingua franca eines Hier und Jetzt: non verbum de verbo, sed sensum exprimere de sensu – nicht Wort für Wort, sondern Sinn um Sinn.« So steht es in der Einleitung zu seiner Übersetzung des Gilgamesh (2001), und so praktizierte er das ja auch bei sämtlichen seiner Übersetzungen von Sappho bis Walcott.

Philologen haben diese Vorgangsweise nie goutiert. Der unlängst verstorbene Germanist und promovierte Altphilologe Wendelin Schmidt-Dengler etwa rügte Schrotts »Burschikosität und Unverfrorenheit« im Umgang mit klassischen Texten so: »Ich habe mich maßlos über seine Art geärgert, mit Catull, Sappho oder Properz umzugehen. Schrott kann nicht richtig Griechisch und übersetzt wie eine Wildsau.« (DIE PRESSE, 4.1.2008) Joachim Latacz hinwiederum hatte sein wissenschaftliches Sekundieren bei der Neuübertragung nach dem 2. Buch quittiert.

Vielleicht rieb sich der Homer-Forscher Latacz - neben vielem anderen – daran, dass diese Ilias-Version das Asterix-Obelix-Herr-der-Ringe-Artige nicht idealisiert. Schrotts Griechen bezeichnen das kämpferische Hin und Her zudem schon einmal als »scheiß krieg«, und natürlich geht es deftig zu, wenn Helena und Paris sich »liebten, dass die bettpfosten wackelten«. Dergleichen gibt es viel, und der Grazer Althistoriker Peter Mauritsch kommentiert dann stets besänftigend, etwa so: »Der Dichter gibt der Phantasie der Hörer Raum und erachtet den Moment danach als ausreichend zur Beschreibung des davor Geschehenen: die beiden ‚ruhten im gurtdurchzogenen Bett’.« Für die, die’s wirklich genau wissen wollen.

Man darf versichert sein, dass man Schrotts Ilias-Übertragung auch ganz gut ohne Kommentar verträgt. Sie ist süffig, plastisch, rhapsodisch, was heißt: »Sie adaptiert die homerische Diktion in einem modernen Duktus, der vom hohen Ton bis zum lakonisch Hingeworfenen und Derben« geht. Diese antiken Sagenhelden klingen zwar nicht so erhaben, »als ob sie Marmor scheißen« (das lässt Peter Shaffer seinen Mozart sagen), diese rhapsodische Prosa ist aber eben auch keinesfalls anspruchslos. Ein gewisser Goethe soll ein derart prosaisches Vorgehen übrigens nachgerade empfohlen haben: »Ich gebe zu bedenken, ob nicht zunächst eine prosaische Übersetzung des Homer zu unternehmen wäre ... Für die Menge, auf die gewirkt werden soll, bleibt eine schlichte Übertragung immer die beste. Jene kritischen Übersetzungen, die mit dem Original wetteifern, dienen eigentlich nur zur Unterhaltung der Gelehrten unter einander.« (Dichtung und Wahrheit, III, 11).

Apropos Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit, apropos Rätsel, Muster, Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten, apropos Theorie: Als Raoul Schrott sein Vorwort zur Ilias-Übersetzung verfasste (das schlussendlich konzis und klug ausgefallen ist), packte es ihn wohl ähnlich wie den oben erwähnten niederösterreichischen Linguisten Hannes A. Fellner. In der FAZ vom 22.12.2007 packte er dann seine Erkenntnisse vorab aus. Und so war die neue Homer-Diskussion längst vor Erscheinen der neuen Übersetzung ein Krieg der Worte. Schrott lokalisierte Homer nämlich als kilikischen Schreiber in assyrischen Diensten. »Dieses Profil nimmt Homers unleugbarem poetischen Genie nichts weg. Die Assyrer waren die zivilisatorische Großmacht dieser Epoche, ihre Schreiber auf allen Gebieten versierte Intellektuelle - und wenn Homer durch sie Zugang zu allem Wissen erhielt, ist das auch nicht anders als beim Ministerialen Hartmann von Aue, der sein Latein in einer Domschule erwarb und am französischen Hof auf Chrétien de Troyes' Werke stieß.«, merkt Schrott im Zug des folgenden medialen Schlagabtauschs an. (FAZ, 15.3.2008)

Dass Homer kein romantisches Originalgenie sein sollte, sondern ein gewöhnlicher Schreiber – da wurde die Gelehrtenwelt doch von einer Art horror vacui ergriffen. Und die Coverstory der LITERATUREN-Ausgabe vom November 2003 – »Raoul Schrott Genie oder Scharlatan?« – war wieder einmal aktuell. Ein gefundenes Fressen, schön dekoriert auf den Präsentiertellern des Feuilletons. Na, wie auch immer: Diese Ilias liest sich geradezu skandalös leicht, und das ist gut so. Homers Name wird populärer werden, wenn auch nicht so populär wie der Homer Simpsons. Und Homer wird viele neue Leser und Leserinnen bekommen. Immerhin.  

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Christoph W. Bauer, Graubart Boulevard.
Innsbruck: Haymon Verlag, 2008

Während sich das offizielle Tirol den Hals im Blick zurück auf anno 1809 und vor auf das herandräuende Heldengedenken 2009 verrenkt, lenkt Christoph W. Bauer den seinen auf einen ganz anderen Jahrtag. Es geht bei ihm um den 9. November, der für die NSDAP der „Gedenktag für die Gefallenen der Bewegung“ war, und das Jahr 1938, als dieser Jahrtag zur Reichskristallnacht in deutschen Landen wurde, auch in Innsbruck. Auf das in dieser Nacht stattgefundene Judenpogrom, auf den in dieser Nacht stattgefundenen Mord an Richard Graubart richtet er seinen Blick, auf die Villa Graubart in der Gänsbacherstraße 5, wo der Mord geschieht, zunächst, dann „die Museumsstraße entlang [wo sich das Schuhwarengeschäft der Graubarts befand] und immer tiefer hinein in die Geschichte einer Familie, von der ich zunächst nichts anderes wusste als das Datum der Ermordung Richard Graubarts.“

Dem Erzähler Christoph W. Bauer geht es aber nun gar nicht darum, in diesem Ereignis „einen Ring zu sehen, der sich um die Stadt legte, um sie an ihre Vergangenheit zu gemahnen“; es geht ihm nicht darum, einen Mörder auf-, sondern einer Familiengeschichte nachzuspüren. Patrick Modiano, den Bauer im Motto zitiert [„Es dauert lange, bis das, was ausgelöscht worden ist, wieder ans Licht kommt.“], mag Vorbild gewesen sein, Modiano, der seinen autobiografischen Roman Familienstammbuch mit einem Zitat von René Char beginnt: „Leben heißt, beharrlich einer Erinnerung nachzuspüren“.

Eben das macht Bauer, mit akribischer Unaufdringlichkeit, stupender Detailtreue, menschlicher Wärme für die Opfer, unparteiischer Distanz gegenüber den Tätern - und mit schriftstellerischem Geschick. Sein Blick bleibt so nicht im Jahr 1938 hängen, sondern geht viel weiter zurück, zurück zu Joseph Roths Ostjuden (und Bauer erreicht dabei die Qualitäten von Roths Essay „Juden auf Wanderschaft“), zurück gar zu den ersten Erwähnungen von Tiroler Juden um 1300. Das macht Bauers Buch zu einer sozial- und kulturhistorisch höchst interessanten Lektüre, die dennoch stets das rekonstruierte Schicksal Richard Graubarts und seiner Familie im Auge behält und mit Empfindungen des Erzählers verknüpft. Sorgfältig aufgespürte Archivalien sind sein Stoff, Gespräche mit Familienmitgliedern ergänzen das Bild, eine ausführliche Kenntnis der Literatur zum Thema rundet seine Suche nach der verlorenen Zeit ab.

Am Ende, nachdem auch der hier wie andernorts peinliche Umgang der Nachkriegszeit mit der Nazi-Vergangenheit aufgearbeitet worden ist, fasst Bauer die Ausgangspunkte noch einmal ins Auge: die Mordnacht in Kapitel 119 und den verstörenden Status quo in Kapitel 120: "Margarethe Graubart sollte Recht behalten, der Mord an ihrem Mann wird nie restlos aufgeklärt." 120 Jahre nachdem Simon Graubart, Richards Vater, das Gewerbe in Innsbruck angemeldet hat, „mache ich mich erneut auf den Weg zu seinem ehemaligen Geschäft. In den Erzählungen von Vera und Michael Graubart wird die [Museum-] Straße zum Boulevard, der sich um die Stadt legt, um sie daran zu erinnern, was sie sich selbst genommen hat."

Es ist bewundernswert, wie viel ausgelöschte Erinnerung Bücher ans Licht bringen, wenn Autoren wie Bauer sie schreiben. Mag sein, dass diese Erinnerung einer nationalen Minderheit auf lokalem Boden weniger quotenträchtig ist als jene, die auf mehrheitsfähige Schicksale nationaler Natur abzielt. Deutschland etwa rüstet sich bereits jetzt für die 2000-jährige Wiederkehr der Varusschlacht im Teutoburger Wald des Jahres 9 nach Christus. Tirol setzt auf ein 200-jähriges Jubiläum. Wie viel ehrenvoller nimmt sich dagegen doch jene Kerze aus, die Margarethe Graubart jedes Jahr zum 9. November ins Fenster stellt, und wie viel wertvoller ist ein Buch, das daran erinnert!  
  

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Walter Klier, Leutnant Pepi zieht in den Krieg.
Das Tagebuch des Josef Prochaska. Roman.
Innsbruck/Hohenems: Limbus Verlag, 2008

 
"Eine unförmige Missgeburt?", fragte sich Walter Kempowski angesichts der Ausmaße seines "Echolot"-Projekts: Tausenden aus den Jahren 1941 bis 1945 verlieh er literarische Präsenz, indem er aus ihren Briefen oder Tagebuchnotizen zitierte und diese Zitate mit zusätzlichen Zeitdokumenten collagierte. Dem Chor der fremden Stimmen aus der Vergangenheit seine eigene hinzuzufügen, dagegen hatte sich der Autor bis zuletzt (Band 10 von „Das Echolot. Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch“  erschien 2005) verwehrt. "Sehr schwierig, das liegt mir gar nicht", notierte er im November 1992 ins eigene Tagebuch. "Hildegard meint, ich spreche wie ein Bauer, wenn ich mich theoretisch über etwas verbreite."

Das erste Missverständnis, wenn man von Walter Kliers Buch sprechen will, ist nun diese Verbindung zu Walter Kempowski. Ein „österreichisches Echolot“ nennt es der Verlag, aber das ist es nun einfach wirklich nicht. Der deutsche Kollege hat die Vergangenheit archivalisch und literarisch denn doch wesentlich intensiver beackert. Bei Klier finden sich aber vornehmlich Tagebucheinträge und Feldpost seines Großvaters Josef Prochaska, man erfährt einiges „auch über die anderen [Verwandten und Nichtverwandten], Heintschi, den Papa, die Mama, Kati, die Meisterköchin, Tanti Fini und Tante Dini und den nichtsnutzigen Rudi und die Tante Elsa mit dem aufgeplatzten Ärmel, …“ Das mag an sich seine Berechtigung haben, eine Unterscheidung ist aber doch angebracht.

Auch dass sich Klier nicht wie Kempowski zurücknimmt, sondern kommentierend einmischt, macht deutlich, dass nur bedingtes Vertrauen ins krude Ausgangsmaterial gelegt wird. Gegebenenfalls sekundieren den Stimmen der Vor- und des Nachfahren darüber hinaus historische Quellen bzw. von Historikern verfasste Zeitgeschichte. Ob das so notwendig ist, wo ein kurzer Blick auf Wikipedia den gleichen Zweck erfüllt? Und der englische Historiker und Publizist Gordon Brook-Shepherd liest sich zur Gänze allemal besser denn als Zitatenschnipsel.

Schließlich handelt es sich bei „Pepis Feldpost“ keinesfalls um „einen Roman …, der eigentlich schon fertig war“, wie in der Vorbemerkung zu lesen ist. Auch das vor Teil 3 angebrachte Kempowski-Zitat („Einen Roman schreiben über den Krieg? Wie kann man denn einen Roman über diesen Krieg schreiben?“) enthebt einen Autor nicht seiner behaupteten Tätigkeit. Das ist das zweite Missverständnis. Natürlich kann man einen Roman über den Krieg schreiben. Sich im Titel an Vorbilder bloß anzulehnen, ist allerdings ein bisschen dürftig. „Schwejk zieht in den Krieg“ heißt es bei Hašek (als Kapitelüberschrift), „Leutnant Pepi zieht in den Krieg“ bei Walter Klier.

„Eine große Zeit erfordert große Menschen. Es gibt verkannte, bescheidene Helden, ohne den Ruhm und die Geschichte eines Napoleon.“, schreibt Jaroslav Hašek im Vorwort zu „Den Abenteuern des braven Soldaten Schwejk“. Josef Prochaska war zwar ebenfalls ein braver Soldat, kommt sich aber schon einmal „wie der Napoleon auf Helena vor“ (lt. Eintrag vom 17. Mai 1918); dass zum Ende des Krieges hin „meine Eingabe zum Eisernen Kronenorden nicht durchging“, schmerzt ihn, zumal dies die „zukünftige Laufbahn als Staatsbeamter schwer trifft“. Am 23. Mai 1918 schreibt Pepi an den „lieben Papa“: „Die Mehlspeise kam nicht; die Nichtfertigstellung durch Kati ist durch nichts gerechtfertigt.“ Ich erlaube mir, auch hier einen kleinen Vergleich zum Schwejk anzustellen: „Die Kochkunst lernt man am besten im Krieg kennen, besonders an der Front. Ich erlaube mir, einen kleinen Vergleich anzustellen. Im Frieden haben wir von sogenannten Eissuppen gehört, das sind Suppen, in die man Eis gibt und die in Norddeutschland, Dänemark und Schweden sehr beliebt sind. Und seht ihr, der Krieg ist gekommen, und heuer im Winter in den Karpaten haben die Soldaten so viel gefrorene Suppen gehabt, dass sie nicht einmal gegessen haben, und es ist doch eine Spezialität.“

Dass  Hašeks Schwejk von anderer Würze als Pepi Prochaska ist, soll weder dessen Kriegsprofil noch die Bedeutsamkeit seiner nachgelassenen Kriegsschriften schmälern! Aber es könnte doch sein, dass man als Nichtverwandter zum Lesen das eine dem anderen vorzieht. 
  

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Hans Platzgumer, Weiß. Roman.
Innsbruck: Skarabäus Verlag 2008, 300 Seiten

Pagophil 

Eis und Schnee liebend, das sind nicht bloß die in arktische Bedrängnis geratenen Spezien Pinguin, Robbe und Eisbär, nein, pagophil, wie der Fachmann sagt, sind auch zeitgenössische Autoren. Schnee fällt auf Zedern (David Guterson), erfordert Smillas Gespür (Peter Høeg), ist nobelpreiswürdig (Orhan Pamuk). Und das ist nur die Spitze des Eisbergs.

»Wie lange dauert die Polarnacht in der Allerheiligenbucht von Novaja Zemlja? Wie tief ist ein Grab? Wie viele Sitze drehen sich an einem Kettenkarussell? Und diese helle Barriere im Hintergrund – sind das Berge? Ein verschneites Gebirge? Wann begann es zu schneien? Und was verschwand im Schneetreiben? Und dann? Was geschah dann? Und weiter? Und immer weiter...«

Immer weiter, bis zu Hans Platzgumer, der in seinem ersten publizierten Roman eine Welt erfindet, und sie ist weiß. »Aber jetzt keine Farben mehr. Keine Bilder. Keine Vermutungen. Fest steht, dass die Cradle nach dem Ende der hocharktischen Mission noch zwei Tage im Adventfjord vor Anker gelegen war, dann mit Kurs auf die nordnorwegische Küste auslief und den spitzbergischen Archipel für dieses Jahr verließ. Und fest steht vor allem, dass Josef Mazzini in der Grubenstadt zurückblieb...«

Mazzini? Ja, so heißt der verschollene Held in Christoph Ransmayrs Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis, den man angesichts der neuesten Schnee-Lektüre wieder zur Hand nehmen könnte.  Von der Örtlichkeit her sind wir da Platzgumers Protagonisten Sebastian Fehr schon verblüffend nahe, um nicht zu sagen: auf den Fersen. »Was macht einen Menschen blind? ... Wenn einer zu erzählen beginnt, muß er solche und ähnliche und unzählige andere Fragen zu beantworten imstande sein und muß doch nach jeder Antwort immer neue Fragen an sich und die Welt richten. Aber länger, viel länger als er jemals antworten, sprechen und erzählen wird, muß er wohl stillhalten und schweigen und den Menschen bloß zuhören und ihre Lebensläufe, ihre Wohnungen, ihre Wege, Felder und Schlachtfelder, Vorgärten und Müllhalden bloß betrachten, bis er sich endlich erheben und so etwas Ähnliches wie Es war... Es war einmal sagen kann.«

So spricht Altmeister Ransmayr in einem kleinen programmatischen Bändchen mit dem Titel Die Verbeugung des Riesen. Vom Erzählen. Hans Platzgumer hat sich im Wesentlichen daran gehalten, die Eis- und Schneewelt und die Fragen an sie zwar nicht neu erfunden, aber ein ebenso solides wie respektables Erzählstück abgeliefert. Er recherchierte und war selbst dort oben nahe dem Nordpol, in »dieser öden, dürftigen, in Kälte erstarrten Welt«; »jede Invasion des Menschen hat das arktische Basaltgestein zurückgeworfen. Die Österreicher, Norweger, Briten, Amerikaner und Russen«. Warum zieht es bloß diesen Sebastian Fehr, geboren 1965, wohnhaft in Frankfurt am Main, zu den Polarfüchsen? Um ehrlich zu sein: So ganz plausibel wird einem dieser Umstand nicht. Nach einleitenden Vor- und Rückblenden, einer Menge Fachliteraturexzerpten alsdann ist Fehr seinem Ziel, zum Eisblock auf dem Franz-Joseph-Land zu werden, greifbar nahe gekommen: »Der Mann war zusammengebrochen, als er das Weiß vor ihm nhcit mher von Dunkelheit unterscheiden kontne, als die Eismosaike, die auf seienn Netzhäuten imemr neue Gebilde erschaffen hatten, sich in enie neuartige Finsternis verwandelt hatten«.

Mit diesem dérèglement des sens – es handelt sich im Zitat um keine Druckfehler – sind wir allerdings einer Poetik Rimbaud’schen Zuschnitts näher als der Ransmayr’schen. Platzgumers Held erblindet und beginnt – zurück auf Reha in Deutschland – zu schreiben. »Ich gehe zurück.«, steht am Ende seines Schreibheftes – und wir wissen nicht, ob das gelingt, denn damit endet auch der Roman. Es geht uns ein bisschen wie Ransmayrs Chronisten am Schluss: »Ich stehe inmitten meiner papierenen Meere, allein mit allen Möglichkeiten einer Geschichte, ein Chronist, dem der Trost des Endes fehlt.« Tatsächlich gibt es den Trost, ins papierene Meer zu langen, dorthin, wo Eis und Schnee treiben. Und das ist nicht der schlechteste Trost.  

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Angelika Rainer, Luciferin. 
Innsbruck–Wien: Haymon Verlag, 2008, 75 Seiten

«Wenn die Schöpfung einen Zweck hatte, so bleibt ihr Zweck verborgen, ungreifbar, und kann nur im Bereich der Zeichen entdeckt werden, niemals in dem, was offensichtlich geschieht.», schreibt der britische Kunstkritiker und Autor John Berger in seinem Aufsatz «Der weiße Vogel». Wie einer derartigen Natur in ihrer Verborgenheit und Ungreifbarkeit mit Zeichen beizukommen ist, ist Thema von Angelika Rainers Debüt «Luciferin». Berger ist dafür nicht Wortspender, seine Erzählung «Die drei Leben der Lucie Cabrol» aus der Sammlung «SauErde. Geschichten vom Lande» (1979) ist aber Impuls für das, was man als den Plot dieses lyrischen Kompendiums, das selbst verborgen und ungreifbar bleibt, bezeichnen könnte. Wortspenden kommen von anderen, Beckett und Heiner Müller, Hesiod und Ovid, Mayröcker, Lévi-Strauss und Schubert; und solcherart Zeichengeber gibt es sicher noch viel, auch wenn sie nicht namentlich erwähnt sind oder zitiert werden.

Was gesagt wird über die anfangs anaphorisch heraufbeschworene Protagonistin – «Sie heißt Lucy./Sie wird Cocadrille genannt./Sie hört nicht auf ihren Namen.» – «tun sie [sagen] –», die anderen. Anschließend heißt es: «So sag, was du siehst, auch wenn kein Gott danach fragt/und wenn Sonne gemeint ist, ist Sonne zu sagen». Was so einfach nicht ist, denn: «Was du heute benennst, wird morgen anders genannt sein».  Und ein Stück weiter: «Alles was du siehst ist das, was du sehen willst». Und das Gesehene träufelt dann doch als Ver(w)ortetes auf die Buchseiten. Es gilt: «Wie gedroschenes Getreide haben wir die gedachten Dinge/auf die Wortschaufel zu legen». Um «das Korn von der Spreu» zu trennen. So könnte Geschriebenes entstehen, das neben den beschriebenen Naturphänomenen an sich bestehen kann, neben Naturphänomenen wie etwa den Spinnweben, die – nehmen wir einmal an, dass das stimmt – «siebenunddreißig Mal stärker als Stahl» sind.

Ins Spinnennetz fliegt zuweilen ein Glühwürmchen, jene Spezies, die in der Dämmerung oder nächtens zu leuchten vermag. Das Titel gebende Luciferin spielt bei diesem Phänomen eine Rolle. Die Autorin zeichnet davon auf den Schlussseiten ein «angenommenes Bild» – als chemische Formel. Ein Versuch ist es immerhin, wo gilt: «Im Bild ist die Wahrheit, die dem Wort sich verweigert./Das Bild fließt jenseits der Worte./Das Bild ist der stummen Dinge Wort./Das Bild ist die Katharsis des Satzes./Das Bild ist Antwort auf Babel.» In diese Phänomenologie der Natur und ihrer Bezeichnung, die in zumeist hohem Ton und nur selten ironisch gebrochen vorgetragen wird, sind Handlungsfäden gesponnen, in denen sich Phänomene immer wieder verfangen und den Text auf an die 70 Seiten anwachsen lassen.

Soviel lässt sich von diesem Debüt berichten, das auch immer wieder ein traditionelles Liebeslied ist. Ihren Textstrom wird man vergeblich in den Feuchtgebieten der Spannungs- oder Spannerliteratur suchen. Angelika Rainer, die Musikerin und Harfenistin der Osttiroler Musicbanda Franui, schwimmt auch nicht gegen den Strom realistischen Erzählens. Sie ist Poetin und bei ihren Vorbildern – von Ovid bis Beckett – gut aufgehoben. Wie und was sie montiert, ist ein Kosmos, den man mit Neugier durchliest. Und solange diese Autorin Erlesenes mit eigener Originalität kombiniert, wird ein solcher Kosmos auch interessant bleiben. 

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Irene Prugger, Schuhe für Ruth.  
Innsbruck: Haymon, 2008


«Brauchen wir Broccoli?»


2003 hat Irene Prugger den Band «Nackte Helden und andere Geschichten von Frauen» veröffentlicht, 2005 den Roman «Frauen im Schlafrock». Auch in ihrem neuen Roman steckt die Frau im Titel und sie heißt Ruth. Das mit den Frauen ist keine strickmusterhafte Marotte à la Gabi Hauptmann (dort in Form von «Mann», also «Suche impotenten Mann fürs Leben», «Nur ein toter Mann ist ein guter Mann», «Eine Handvoll Männlichkeit», «Ran an den Mann» usw.), aber auch kein Margit Schreinerscher Geschlechterkampf in Wortform («Haus, Frauen, Sex»). In den «Nackten Helden» experimentiert Prugger mit weiblichen Erzählperspektiven, der darauf folgende Roman erzählte konsequent aus dem Blickwinkel der Hauptfigur Anna, einer durchaus aparten, etwas verquasten jungen Frau von 27 Jahren, die zwar Intellektuelle mit Hochschulreife ist, aber dem ideologisch-korrekten Klischee der intellektuellen Frau nicht nach dem Mund spricht. Ruth ist altersmäßig etwas darüber, bildungsmäßig etwas darunter.

Im Gegensatz zu Anna hat sie Kinder, die Zwillinge Vanessa und Florian, und ist damit überfordert. Sozialbeamtinnen beäugen das Familiengeschehen, von Amts wegen tapst Nadine, Bewegungscoach und Ernährungsberaterin, in Ruths Privatsphäre: Diese Familie ist zu dick. Was ihr freilich fehlt, ist der Vater bzw. der Mann. Mit Florian, dem Seemann, hat Ruth Pech gehabt: «Wenn sie eines Tages über eine Reling gekippt, ins Wasser gestürzt und ohnmächtig geworden wäre, hätte es sich bezahlt gemacht, ihn als Mann zu haben. Aber sie blickten immer nur vom Balkon aufs Häusermeer.» Florian packt seinen Seesack für drei Wochen und kommt erst Jahre später zurück, und dann mit dem Satz «Brauchen wir Broccoli?». Postkarten schickt er vom Meer; später hält Ruth andere an, solche Postkarten zu schreiben, damit die maritime Idylle für ihre beiden Kinder aufrecht bleibt. «Gott, der Vater, zahlt keine Alimente». Ist es da ein Wunder, wenn Ruth aus dem Leben verschwinden will?

«Lange bevor Ruth sich fragte, wie man Menschen und Dinge verschwinden lässt, fragte sie sich, wie es wäre, selbst zu verschwinden.» So setzt die Handlung ein, aber dieses Verschwinden  wird Ruth nicht gelingen, weder landet sie im Wasser, noch kann sie sich wegzaubern wie ein Magier. Mit der Glotze gelingt der einkommensschwachen Bibliothekskraft hin und wieder eine Ausflucht. «Dann breiteten Wünsche und Sehnsüchte sich aus und fläzten zwischen den Möbeln herum wie arrogante Bekannte.»: In so schöne Satzform gießt Irene Prugger dann ihre traurige TV-Welt. Und überhaupt diese «Lebensplage»! Auch die lässt sich wunderbar formulieren: «Ruth sah zum Fenster. Ein Tag zum Auswringen, heftiger Wind, dann wieder Regen in Schnüren. Dass er nicht in Schnee überging, lag an der resignierten Haltung des Winters. Er hatte in diesen ersten Jännertagen schon wiederholt sein weißes Tuch zurückgezogen, als gelte es, eine Überraschung zu präsentieren, aber zum Vorschein war bloß die alte Stadt mit den alten Straßen gekommen, Häusergiebel, die sich unter Wolken duckten und regulierte Bäche, die das Auftauen nicht lohnten.» Derart lyrisch-bravouröse Register kann diese Autorin auf einem Manual anspielen, um auf dem andern romantisch-ironisch dagegenzuhalten: «Poesie half allerdings auch nicht weiter. Für Ruth verlief das Leben hier uninspiriert, nicht nur deshalb, weil es an Geld fehlte.»

Ingrid Prugger spielt in diesem neuen Roman keineswegs die Klaviatur des Frauenlebens als Jammertal hinauf- und hinab. Tatsächlich hält dieses Leben nicht bloß Bitteres, sondern auch Süßes für Ruth bereit. Woraus sich ein stimmiger, pointiert kommentierter Plot entspinnt. Und von dem soll hier nichts weiter verraten werden. Nur noch das mit den Schuhen: Also Ruth war von Kindheit an «süchtig nach dem Geruch neuer Schuhe», eine Soraya in Kleinformat, die immer wieder gern zum Objekt der Begierde langt und am Ende mit einem gestohlenen Paar neues Terrain betritt. Süßes Leben!  

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Anton Holzer, Die andere Front. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg.
Darmstadt: Primus Verlag 2007

Was wäre, wenn es Anfang des 19. Jahrhunderts bereits funktionierende Fotoapparate gegeben hätte? Aus patriotischer Tiroler Perspektive gesehen: Wir hätten dann ein authentisches Bild von Andreas Hofer. Er und die Tiroler Freiheitskämpfer von anno neun und Kaiser Franz wären Helden, denen kundige, von ihren Auftraggebern wirtschaftlich abhängige Handwerker fotografische Denkmäler errichtet hätten, ähnlich jenen Svetozar Borovic von Bojnas, hochdekorierter Kommandant der 5. k.u.k. Armee, oder des dekorierten Infanteriebataillons 3/35 oder gar Karls, „Kaiser, Feldherr, Medienstar“, die man allesamt im Buch des Südtiroler Fotohistorikers Anton Holzer sehen kann. „Authentisch“ würde auch bedeuten: Diese Fotos des frühen 19. würden nicht anders lügen wie ihre realen Nachkommen des frühen 20. Jahrhunderts; sie würden lügen wie gedruckt, denn auch sie hätte man zu Tausenden reproduziert unters Volk gebracht, um die eigenen Reihen zu glorifizieren und die gegnerischen zu desavouieren, um ziviles Durchhalten im Krieg zu befördern und vom militanten Wahnsinn abzulenken.

     Aber vielleicht fänden sich unter diesen Fotos des frühen 19. Jahrhunderts auch „Schattenbilder des Krieges“, die „Menschen-Material und Maschinen“, „Flucht und Deportation der Zivilbevölkerung“, „Die Toten und ihre Orte“ oder „Die Landschaft des Krieges“ zeigten, „Die andere Front“ mithin, die Titel gebend für Holzers Buch war? Unter den über 33.000 Kriegsfotografien, jenen realen Original-Glasplattennegativen und zeitgenössischen Silbergelatineabzügen des frühen 20. Jahrhunderts, die das Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien verwahrt, im praktisch vollständig erhaltenen  Bildbestand der k.u.k. Propagandaabteilung zumindest finden sich beiderlei Arten. Zur Propaganda, so wird beim Betrachten der in thematischer Dramaturgie geordneten 520 daraus ausgewählten Fotos von Holzers Bild-Text-Band bald klar, taugte dem k.u.k. Kriegspressequartier die eine wie die andere Art. In kollektiver visueller Erinnerung blieben freilich nur die Kriegsbilder im Westen, der Osten und der Südosten waren aus dem Gedächtnis ausgeblendet: über die Zeitläufte des Zweiten Weltkriegs hin sowieso und auch während des Kalten Kriegs. Das Jahr 1989 markierte hier eine Wende, die den Blick auf eine gesamteuropäische Geschichte freimachte. „Zögernd wurden nun auch verschüttete und vergessen geglaubte Bilddokumente wieder ans Licht geholt. Darunter waren auch die Fotografien, denen dieses Buch sein Entstehen verdankt.“, führt Holzer einleitend aus.

     In der Folge entdeckt man eine fotohistorische Arbeit, die Bild und Text in geradezu neuer Sachlichkeit präsentiert: vom Bildsujet ausgehend, zur Bildrecherche fortschreitend, reflexiv innehaltend, forschend interpretierend, den breiten historischen Kontext mit bedenkend, um zur ursprünglich intendierten Bildaussage zu gelangen. Das hat nichts mehr gemein mit jener Wissenschaft von der Geschichte, deren Textdominanz dem Bild rein illustrativen Charakter zubilligt. Holzer erzählt vielmehr Geschichten von Menschen hinter und vor dem Objektiv: von jenen, die abgelichtet wurden, jenen, die ablichteten, und schließlich jenen, die die Fotos beauftragten, manipulierten und vermarkteten. Insgesamt ergibt sich eine Mediengeschichte des kriegerischen Fotogeschäfts: „Im Laufe des Krieges kam es zu einer grundlegenden Umschichtung im Mediensystem. Zensur, Akkreditierungsmaßnahmen und die systematische ‚Einbettung‘ der fotografischen Berichterstattung in die militärische Logistik hatten zu einer engen Verzahnung von Militär und Medien geführt, zu einer Symbiose zwischen Kriegsführung und Propaganda.“

     Zum Ende des 20. Jahrhunderts haben wir eine ähnliche Medienrevolution erlebt. Der Golfkrieg 1990/91 war von den TV-Bildern der ABC, CBS, NBC und CNN geprägt, die US-Politik in Bezug auf Pressefreiheit äußerst restriktiv. Die Krieg führenden Parteien haben ihre Medienarbeit seit dem Ersten Weltkrieg jedenfalls noch weiter perfektioniert. Was mit der nationalen Geschichtsschreibung eines Joseph von Hormayr zur Zeit der Koalitionskriege begann, wird mit anderen Mitteln (Medien) weiter fortgeschrieben. Beeindruckend ist in diesem Zusammenhang allerdings, was Kriegsfotografien über ihre offizielle Mission hinaus alles zu erinnern vermögen, wenn Sachverständige wie Anton Holzer ihre Geschichten nacherzählen. Man möchte anderen Medien derartige Sachkundige wünschen.  

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Raoul Schrott (Hg.), N. C. Kaser – Elementar. Ein Leben in Texten und Briefen.
Innsbruck, Wien: Haymon-Verlag, 2007


Die Zeit, da Norbert Conrad Kaser von falscher Seite post mortem kanonisiert wurde, und "die Legende, die sich seiner bemächtigt hat, eine wahre Hagiographie des Haders, die komplementäre Kehrseite der Liturgie der 'Heimatliteratur'", sind Vergangenheit. Claudio Magris, der heuer am Literatur-Nobelpreis vorbeigemunkelt wurde, hat solches noch 1997 in seinem Essayband "Microcosmi" (dt. 1999) empfunden. Wie literarischer Hader als gut inszenierter literarischer Skandal funktioniert, konnte man unmittelbar im Jahr darauf verfolgen, als Michel Houellebecqs „Elementarteilchen“ ganz Paris erregten, und später auch noch halb Europa. Bei Kaser schlugen die Wellen der Provokation nie so hoh, dass sie über den Brunecker, den Flaaser oder Wiener Horizont ausgeufert wären. Ich vermute, weil ihr Grund eine unkontrollierte Hitze war, die sich von Houellebecqs kalkulierter Kälte ursächlich unterscheidet. Immer schon nahm man aber Kasers Dichterqualitäten wahr, was eine Sache der Wenigen sein mochte, aber das soll vorkommen. Und so geschieht es, dass heutigen Tages, zur Zeit der Frankfurter Buchmesse, Benedikt Erenz, Feuilletonist bei DER ZEIT, Raoul Schrotts Reader "Elementar" begrüßt, einen Reader, der "dazu einlädt, Kaser wieder oder neu zu lesen". Fand sich der "stille Wilde" (Erenz) noch nicht im Neuen Conrady, dem "großen deutschen Gedichtbuch", aus dem Wendejahr 2000 vertreten, sieben Jahre später, in "Reclams großem Buch der deutschen Gedichte", das bis ins 21. Jahrhundert reicht, ist er drin. Das ist nun keiner sentimentalen Dichter-Renaissance, sondern der Qualität von Kasers Lyrik geschuldet, die Stilwandel mit einiger Rasanz vornimmt, aber stets der (Sprach-)Spannung verpflichtet bleibt, der "lieben, guten Spannung". Die Person selbst, die in Raoul Schrotts Auswahl zu Wort kommt, ist kein Dichterklischee mehr. Kasers Briefe sind ja nicht bloß von autobiografischem Wert, sondern Zeitdokumente, die erstaunen machen, wie weitläufig das Netz dieses Provinzmenschen bei aller "eingeklemmten" Innerlichkeit doch war. Und bei all dem, was man hier an Leben liest, denkt man: Was wäre wohl noch alles gekommen, wenn ... Ein leider absurder Gedanke.  

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Ruth Oberrauch (Hg.), Appetit auf Lesen.
 
125 Ideen zum Südtiroler Lesefrühling. Spiralbindung mit Umschlag, 58 S., zahlr. Abb.
Wien, Bozen: Folio Verlag 2007


Literatur à la Sudtyrolienne − opulent und frugal


«Lesen!», lispelt Frau Heidenreich seit 2003 im Zweimonatsrhythmus auf ZDF hektisch und bringt damit viele Menschen zum Buch (oder zumindest zum Bücherkauf) und nur wenige Altherren zum Grummeln (zuletzt Martin Walser und Günter Grass). Auf regionaler und weniger ätherischer Ebene funktioniert der Appell anders. Zum Beispiel: kulinarisch. So geschehen bei «Appetit auf Lesen», einem schmackhaft aufgetischten Kompendium aus «Anregungen und Ideen, um die Lust am Lesen zu wecken und zu beflügeln», das in Hinblick auf den Südtiroler Lesefrühling 2007 erschienen ist. Blütenlese war dann vom 1. Februar bis 31. Mai: Mit mehr als 500 Veranstaltungen wurde in Kindergärten, Schulen, Bibliotheken, Museen, in Jugendzentren und Seniorentreffs, auf Dorfplätzen oder auf Lesefesten das Lesen in seinen unterschiedlichsten Facetten zelebriert.

In  «Appetit auf Lesen» findet man Leselustmacher und Appetitanreger in klassischer Menüfolge, denn der metaphorische Auftrag, Lesehunger gleichzeitig zu entfachen und zu stillen, wird hier beim Bild genommen. Appetizer, Amuse-Gueules, Apperitifs bilden einen variantenreichen, leicht umsetzbaren Einstieg, von A wie «Am Anfang» bis Z wie «Zwölfsatz-Geschichte» auf an die 10 Seiten verteilt. Vieles in dieser Abteilung ist erlesen, nicht Weniges Anleitung zum kreativen Schreiben, um gelesen zu werden. Was ein sehr guter Ansatz ist, wo man doch weiß, dass das Lesen vom Schreiben nicht wirklich zu trennen ist. Vorspeisen sodann, wo man lesepädagogisch an die Hand genommen wird; zum Beispiel: «Oft steigen wir beim Lesen von Bildern in fragmentarische Bild- und Text-Kombinationen ein, knüpfen an Leerstellen an, erfinden unendliche Möglichkeiten für Geschichten und für verrückte Zusammenhänge, spüren Symbole und Metaphern unserer Kultur auf. Es ist eine spannende Entdeckungsreise, bei der folgende Fähigkeiten ins Reisegepäck kommen: betrachten, beobachten, experimentieren, kreativ sein, assoziieren und konstruieren.» Na, ganz schön etwas und geht gar nicht so ratzfatz, wie angekündigt. Außerdem gibt’s hier auch noch «Suggestioni poetiche».

Die Hauptspeisen sind dann richtige Projekte. Alte Bücher werden zu Kunstobjekten verwurstet, Texte erwandert, ganze Dörfer lesen, Hauben, sprich: Lesesiegel werden an die «lesefreudliche Schule» vergeben. Bei den Leckerbissen kommen Profis ins Spiel (Jukibuz, PI und andere) und die Desserts haben einen starken didaktischen Drall. Kurz: Es ist dies ein mit Fotos und Illustrationen schön gestalteter Ideenfundus mit vielen, vielen Projektvorschlägen für Leseaktionen und mit handfesten Anleitungen zum Umsetzen. Und wie jedes gute Buch ist es dieses kulinarische nicht saisonal gebunden, es ist ein Buch, dessen Service zu jeder Jahreszeit sehr nützlich ist.  

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Gerhard Ruiss/Oswald von Wolkenstein, Und wenn ich nun noch länger schwieg.
Lieder, Nachdichtungen.
Wien, Bozen: Folio Verlag 2007

Oswald von Wolkenstein, Lieder. Frühnhd./Nhd.
Ausw., Hrsg., Übers. und Komm. von Burghart Wachinger (Texte) und Horst Brunner (Melodien und Tonsätze).
Stuttgart: Philipp Reclam Junior 2007
 


Wie uns die Alten sungen − von Vögeln zum Beispiel


Walther von der Vogelweide hielt es mit den Vögeln, bezeichnete er sich doch selbst als «Nachtigall», seinen Wiener Kollegen Neidhart von Reuental dagegen als «quakenden Frosch». Die mittelalterliche Auseinandersetzung um E- und U-Literatur ahnte noch nicht, in welchem Ton in einer Wolkenstein’schen Pastourelle noch Vogeltechnisches abgehandelt werden würde, nämlich so: «Hoch oben überm Lehnbach/stell ich der Amsel nach/und mancher edlen Drossel/mit einem Kloben, der sie packt,/wenn ich am Schnürchen reiße,/versteckt in deiner Hütte, zugedeckt/mit schönen, frischen grünbelaubten Ästen./Vielleicht kommt dann ja sie zu mir,/die mich zu schönsten Freuden munter, mutig macht,/kommt durch das Loch hereingeschlüpft,/geschickt sich duckend.//Ihr roter Mund, uradlig schön,/der ist ganz süß, ganz zuckerig./Hübsche Füßlein, weiß die Beine,/feste Brüstlein, wie sie redet, sich bewegt,/das kommt so prächtig berglerisch daher.//Wenn ich’s zum Vögeln aufgerichtet hab/und alles vorbereitet ist,/dann hört man bald darauf bestimmt/bei großem Schnaufen süßes Locken./Da könnte wohl die Schöne lachen,/dass sie all meine Kunst beschämt,/was ich vom Vögeln je gelernt hab./Von ihrem Kloben krieg ich dann zu viel,/zu oft verlangt er nach dem Gimpel.»

Lustig zu lesen ist das zugegeben heute noch und es verwundert kaum, dass «Ain jetterin, junk, frisch, frei, fruet» in Gerhard Ruiss’ und Burghart Wachingers Textauswahl nicht fehlt. Die Reclam-Ausgabe bietet zur Übersetzung noch den Vorteil, dem Leser in umfänglichem Kommentar über die «Technik der Vogeljagd mit dem Kloben» aufklären zu können. Oder auch über die Schlussverse der 3. Strophe obiger Pastourelle («Da wird die Hütte krachen./Nur munter beim Brötchenbacken!»): «Vermutlich Sexualmetapher, abgeleitet vom Hineinschubsen des Brots in den Backofen oder vom Vögelbraten?» Wie man sieht: Die Sache ist nicht ganz klar und der Tübinger Germanist verweist auf «das ebenfalls nicht ganz geklärte Birnenbraten bei Neidhart.»

Ach diese Männer! Dabei kommt bei Oswald auch die edle Frau dialogisch ins Gerede, etwa in «Fro, fröleich so will ich aber singen». Sie: «Ich bin eine Frau, die noch den Gürtel trägt,/und bin aus adligem Geschlecht.» Er: «Ihr seht grad wie ein Falkenkehlchen aus.» Sie: «Dabei kann ich doch gar nicht fliegen.» Am Schluss klärt die Edle das Ganze kurz, schmerzhaft und standesgerecht: «Geh, schmier den Wagen, drisch den Rössern Futter/wie andre deinesgleichen.» Man bemerkt, dass die Zeit noch nicht reif ist für die soziale Schranken überspringende Liebe; diese war erst D. H. Lawrence’s Lady Chatterley vorbehalten, die sich mit dem Wildhüter einließ. Lawrences zweite Romanfassung erschien dann unter dem Titel «John Thomas and Lady Jane», und der Autor schlug ihn vor, weil er namentlich eine eindeutige sexuelle Anspielung auf Penis und Vagina ist. Womit wir wieder in den Niederungen der Liebe wären; bei der so genannten niederen Minne, um ins Mittelalter zurückzukehren.

Oswald also ein zotenhafter Dichter für Männer? Nein, nein, überhaupt nicht. Wenn Raoul Schrott Guilhem IX d'Aquitaine «ins Deutsche schrieb« und «darauf mit selbiger Feder ein Dutzend Verse machte»; wenn H. C. Artmann den François Villon ins Wienerische übertrug; wenn Thomas Kling sich Oswalds Verse anverwandelte, dann trieb sie nicht nur das Eine um. Und vermutlich ist das bei Gerhard Ruiss und Burghart Wachinger ebenfalls so. Welcher dieser beiden Herausgeber und Übersetzer das bessere Werk abgeliefert hat, lässt sich nicht sagen, dazu sind die Ausgaben zu unterschiedlich adressiert (und außerdem sind wir noch fern der Meistersinger-Zeit, wo die Beckmesserei einsetzt). Je nach Tendenz mag man also zum einen oder anderen greifen, denn lesenswert ist das Oswald’sch Oeuvre jedenfalls, und zwar für Leserinnen und Leser. Burghart Wachinger hat dem Südtiroler im Übrigen höchste literarische Weihen im Deutschen Klassiker Verlag angedeihen lassen. Band 22 der Bibliothek des Mittelalters widmet sich der Deutschen Lyrik des späten Mittelalters und konzentriert sich neben Neidhart von Reuental und Heinrich Frauenlob im Besonderen auf Oswald von Wolkenstein. Die edle Ausgabe beinhaltet kein Notenmaterial, in der Reclam-Ausgabe allerdings wird man auch diesbezüglich fündig.  

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Paul Flora, Wie's halt so kommt. Erinnerungen aufgezeichnet von Felizitas von Schönborn.
Zürich: Diogenes-Verlag 2007


«Er ist ein Literat.»

Man kann einigermaßen voraussetzen, dass deutschsprachige LeserInnen wissen, wer Paul Flora ist. Zunächst ist also zu klären: Wer ist Felizitas Schönborn?
Die Autorin ist im steirischen Frohnleiten geboren, maturierte im hessischen Büdingen und studierte Theologie in Zürich und Genf, wo sie das Fach auch über ein Jahrzehnt unterrichtete. Sie bildete sich dann aber fort, nahm etwa am Seminar «Die Kunst des Fragens» an der Evangelischen Medienakademie in Frankfurt teil und spezialisierte sich auf «Hintergrundgespräche und Interviews». Aus soziologischer Perspektive muss man hinzufügen: Felizitas Schönborn hat etwas Salondamen-Artiges. Die geborene Prinzessin Reuss und jetzige Gräfin von Schönborn pflegt eine (lt. einem Beitrag im Managermagazin 2004) «kultivierte Aufnahmebereitschaft» − was auch immer man sich darunter vorstellen mag. Im Konkreten scheint damit ihre Gesprächspräsenz bei gleichzeitiger Gesprächszurücknahme gemeint zu  sein.

     Jedenfalls: Bei «über siebzig bekannten Persönlichkeiten aus dem Bereich Kultur, Politik und Wirtschaft» hat sie ihre Fragekunst angewandt, die ihr auch reichliche Antworten einbrachte (teilweise nachzulesen auf www.xn--felizitas-von-schnborn-bic.de). Einige Gespräche mit off-the-records-Charakter haben sich zu ganzen Büchern ausgewachsen: Jenes mit Eugen Drewermann ist darunter («Sind Propheten dieser Kirche ein Ärgernis?», 1993), dem Dalai Lama («Mitgefühl und Weisheit», 1994), Astrid Lindgren («Das Paradies der Kinder», 1996), Peter Ustinov («Ich glaube an den Ernst des Lachens», 1997) − und nun auch Paul Flora.

     Wer Paul Flora und Felizitas Schönborn sind, ist nun geklärt. Was aber ist Paul Flora? «Der Zeichner ist mit dem Schriftsteller viel enger verwandt als mit dem Maler. Der Zeichner und der Schriftsteller, diese Zwillinge, sind Erzähler … Flora ist ein Bilderschriftsteller. Er ist ein Literat.», schrieb Erich Kästner 1957 im Vorwort zu «Menschen und andere Tiere» (1957). Und das gefiel Flora: «Diese Verwandtschaft hat wohl bedingt, dass ich gerade bei Schriftstellern auf viel Einverständnis gestoßen bin. Ich darf Dürrenmatt, Frisch, Canetti, Simenon, Buzzati und Hermann Hesse nennen.» Außerdem säumten noch andere seinen Lebensweg, Ingeborg Bachmann etwa, Thomas Bernhard, Ludwig von Ficker, Claus Gatterer, Arthur Koestler, Herbert Rosendorfer, Gregor von Rezzori oder Friedrich Torberg. Das ist ganz symptomatisch für Flora, der zwar seit 1927 in Innsbruck lebt, aber über seinen Schweizer Verlag Diogenes (dessen «dienstältester Autor» er ist) und aufgrund seiner Tätigkeit als Karikaturist bei der Hamburger «Zeit» stets auf internationalem Niveau angesiedelt war.

     Gleichzeitig ist Flora ein wesentlicher Faktor Tiroler Kulturgeschichte, einer von denen, die vorhandene Valeurs schätzten, ohne in provinzieller Eitelkeit oder Selbstgenügsamkeit zu versumpfen. Nicht unstolz ist Flora etwa darauf, den Südtiroler Kult-Dichter Norbert C. Kaser auf den Weg gebracht zu haben. «Jochen Jung vom Residenzverlag, Verfasser eines Literaturalmanachs, ließ Flora wissen, es sei löblich, sich für einen Freund einzusetzen, aber die Qualität dieses Manuskriptes reiche nicht für ein Buch.», protokolliert von Schönborn 2007, da sich Kasers Geburtstag zum 70. Mal jährt und im Haymonverlag das von Raoul Schrott herausgegebene Kaser-Lesebuch «Elementar. Ein Leben in Texten und Briefen» herauskommt. Zweite große literarische Flora-Entdeckung: Jakob Philipp Fallmerayers «Fragmente aus dem Orient», die 2005 in der Edition Raetia wieder aufgelegt werden. Messlatte ist hier allemal, was Flora in jungen Jahren gelesen hat, Deutsches (Thomas Mann, Rilke), Amerikaner (Hemingway, Dos Passos, Wolfe), Joyce oder russische Klassiker.

     Solche Aspekte gibt es in diesem Lebenspanoptikum zur Genüge, auch wenn das meiste so oder fast so schon an anderer Stelle gesagt oder geschrieben auftauchen mag. Felizitas Schönborn bringt doch − sei es nun durch ihre Kunst des Fragens oder ihr Handwerk der Recherche − den Jahrhundert-Zeichner Paul Flora auf den Punkt, auf Linie sozusagen, und hat ein Lebensbild verfasst, das man gerne und auch bewundernd betrachtet. 

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Alois Schöpf, Vom Sinn des Mittelmaßes.
Essay.
Innsbruck: Limbus-Verlag 2006. 186 S.


„Wenn i zon o'schoff'n hätt', nocha gangat's glei' andascht!“


„Vielseitig gebildet, war dieser zugleich aufsässig, ein Hitzkopf, ständig in Empörung gegen die Statthalter der Macht begriffen, gegen die Provinzlehrer, den Ortspfarrer, den Rektor. Als Jugendlicher strebt er in die Jesuitenschule, nur um die Lehren der Jesuiten besser kennen und genauer widerlegen zu lernen … Er veröffentlicht wüste Pamphlete … und wird vor der Obrigkeit zum bestgehaßten Publizisten.“

Nein, in diesem Zitat ist nicht vom freien Schriftsteller Alois Schöpf die Rede. Solches liest man vom 1822 geborenen Hermann Jellinek in Karl-Markus Gauss’ Essay „Die Spur der Revolte – Drei Aufklärer und über sie hinaus“. Gauss entdeckt darin (getilgte) Spuren in der österreichischen Literatur vom 19. bis ins 20. Jahrhundert: von Paul Weidmann, Amand Berghofer und Anton Ferdinand Geißau über Cäsar Wenzel Messenhauser und Hermann Jellinek zu Friedrich Heer und Michael Guttenbrunner; und stellt fest, dass „nicht bloß das Mittelmaß etwas Österreichisches ist, sondern auch die Revolte wider die Diktatur der Mediokrität.“

Es gibt also eine veritable Tradition des beißenden literarischen Spotts in der österreichischen Literatur, und nicht zuletzt auch in der Tiroler Literatur, für die man an dieser Stelle Carl Techets Schmähschrift „Fern von Europa. Tirol ohne Maske“ in Anspruch nehmen könnte, die 1909 in München erschien. Und Alois Schöpf? Der kann im Gegensatz zu Techet seinen polemischen Essay „Vom Sinn des Mittelmaßes“ zumindest im Innsbrucker Limbus Verlag und ohne Pseudonym veröffentlichen und wartet mit seiner Publikation auch nicht aufs Jubiläum 2009. Geschweige, dass er für ein wüstes Pamphlet erschossen würde wie der renitente Hermann Jellinek weiland 1848.

„I bi' Gott sei Dankch freiheitlach gesinnt! I scho'! Wenn i zon o'schoff'n hätt', nocha gangat's glei' andascht!“ Was Lienhard Flexel ─ das ist Carl Techets alias Sepp Schluiferers Tiroler Fern-von-Europa-„Aufgeklärter“ ─ da von sich sagt, zeigt schon eher eine Parallele zu Alois Schöpf. Wobei: So spricht Schöpf das nicht aus. Vielmehr: Die andern, die Unaufgeklärten, machen es (= die Kultur) alle falsch. Und zwar ganz bewusst falsch. Präzise: „Wer [in Tirol] aufgeklärt erscheinen will und es nicht ist, forciert vom Budget bis zur Personalpolitik das Mittelmaß.“ Das wär’s kurz, aber es geht auch länger (weshalb dieses Zitat auf Seite 174 zu stehen kommt): eine volle Breitseite gegen Kultur in Tirol im Allgemeinen und namentlich gegen ihre diversen politischen und künstlerischen Proponenten. Ich nenne hier nur das Brenner-Archiv, das bei Schöpf Stichwort für folgende Behauptung ist: „Alles, worauf man hierzulande stolz ist, wird nämlich irgendwann zu einem Archiv, in dem sich brave Beamte tummeln, um aufzupassen, dass die große Vergangenheit nicht verkommt.“

Na, zumindest hier und jetzt findet eine Auseinandersetzung mit einem gegenwärtigen Essay statt, ob er nun groß ist oder klein. Ich würde im Übrigen sagen: Er ist mittel. Vom Inhaltlichen und Satirischen her liegt mir persönlich etwas anderes näher: „Welt statt Innsbruck“, was ein textiler Spruch der Weiberwirtschaft ist, zum Beispiel (weitere T-Shirt-Sprüche unter 
www.weiberwirtschaft.at). Es muss wirklich nicht immer gleich ein Buch herhalten, um satirisch zu sein, und schon gar nicht der „Essay“ des guten alten Montaigne (oder des guten jüngeren Gauss)! Das Wort leitet sich – um jetzt auch einmal ein bisschen gelehrt zu werden - von der lateinischen Handelssprache her, wo (s)ex(h)agium bedeutet, dass der Kaufmann nicht gleich die gesamte Ware kaufen muss, sondern zuvor einen Teil davon versuchen darf, das (s)ex(h)agium eben, ein Sechzigstel. Alois Schöpf aber gibt uns kein Probier-Sechzigstel seiner Sicht der Dinge, nein, er gibt uns gleich alles ─ und noch mehr.

„Er war ein Mann, der deutlich zeigte, daß es auch in Tarrol Liberale gibt. Aber sie sind eben alle wie er: ihre Ideale gehen allzu hoch, darum erreichen sie wenig.“ Ich will jetzt nicht behaupten, dass, was Techet über seinen „Aufgeklärten“ sagt, auch auf Alois Schöpf zutrifft, schließlich müht er sich redlich und ─ um im Jargon des Buches zu bleiben ─ geradezu „ekstatisch“. Und überhaupt: „Was ist Aufklärung?“ Immerhin, es gibt auf die Frage Kants Beantwortung aus der ostpreußischen Vergangenheit ─ und jetzt, aus der Tiroler Gegenwart, ein wortgewaltiges Echo: „Was ist Aufklärung nicht?“


PS: Das nächste Buch aus einer derartigen Tirol-Perspektive dürfte im Herbst 2007 bei Berenkamp erscheinen, der Journalist und ebenfalls freie Autor Winfried Werner Linde verfasst nämlich gerade „Streiflichter aus Tirol“. Das Unternehmen hat nichts mit jener Kolumne zu tun, die seit Mitte der 50er Jahre täglich auf der ersten Seite oben links der Süddeutschen Zeitung steht. „Das Streiflicht“ ist vom Feinsten, vom Umfang her genau bemessen, vom Inhalt her zugespitzt, und die Kolumne wird auch nicht namentlich gezeichnet. Hinter ihr steht die Redaktion. All das wird bei den Tiroler Streiflichtern anders sein. Aber es steht, selbst in Tirol, jedem frei, zur Süddeutschen zu greifen. 

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Hermann Winkler, Geschichten eines Mannes.
Bozen: Edition Raetia 2006

In der Verlagsreihe raetia club ist ein schmaler Prosaband erschienen, von Hermann Winkler, 1977 im Südtiroler Pfalzen geboren, nahe Bruneck und nahe der Burg Schöneck, dem wahrscheinlichen Geburtsort Oswalds von Wolkenstein. Das tut allerdings wenig zur Sache, denn hier wird nur spärlich gereimt, der Sprachmischung gefrönt oder von Südtirol erzählt. Die »Geschichten eines Mannes« bringen vielmehr ein literarisches Potpourri an Themen und Formen, die allesamt irgendwie bedeutsam sind: Jugoslawienkrieg-, Cyber-, TiVi-, Pop-, Dachau-, Nine-eleven-, Satiren- und auch Großartiges. Bleiben wir bei Letzterem, das zwei ähnlich gestrickte Geschichten umfasst: »The Red Christmastreeball« - das bereits in der von Nina Schröder herausgegebenenen Südtiroler Weihnachtsanthologie »weißt du was schnee ist/frisch gefallener« (Raetia 2004) erschien - und »Der Abgang«. Beide setzen mit einem lapidaren Satz ein: »Christbamkugeln sind wie Laternen in der Nacht.« bzw. »Es war ein schöner Tag zum Sterben.«
     Geschichte 1 gliedert sich in fünf Abschnitte, die den Text durch italienische Titel und Einsprengsel sprachlich verorten. Äußere Nicht-Weihnachts-Welt und innere Betriebswirtschaftslehre kreuzen sich hier zu einer Art Sozialstudie, die klug gemacht ist. Der Textabspann löst das Ganze in einer Widmung auf: »Für den Obdachlosen, der am 27. November 2000 den Mut hatte, in die Vorlesung „Economia Monetaria Internazionale“ an der Università Luigi Bocconi zu kommen, um Menschen, die mit mehr Glück bedacht wurden als er, um ein kleines bisschen von diesem Glück zu bitten.«
     Geschichte 2 erzählt den Plot ebenfalls in fünf Abschnitten, aber etwas konventioneller. Es geht um eine Dreiecksgeschichte in Innsbruck, die letal endet, was wiederum dem Textabspann zu entnehmen ist: »TT: Innsbruck - Samstag, 03.10.2000. Bei der Leiche, die am gestrigen Freitag aus dem Inn gezogen wurde, handelt es sich um den 27-jährigen Pharmaziestudenten Ludwig M. aus Klagenfurt. Der Verstorbene hinterlässt eine kleine Tochter.« Der Autor setzt hier auf einen stilistischen par-force-Ritt. Auf den bereits zitierten lapidaren Einleitungssatz folgt nämlich eine „und“-Satzperiode, die sich durchaus kunstvoll über zweieinhalb Seiten zieht und - fortgesetzt auch im dritten Satz - die Geschichte schön vorantreibt.
     Die übrigen zehn Geschichten sind auch nicht ungeschickt gemacht, recht trendy collagiert und stellenweise sogar amüsant. Vielleicht aber doch nicht so, dass sie ausreichend überzeugen. Wer weiß, vielleicht ist Winkler, der derzeit für Swarovski in Hongkong arbeitet, dabei einen Roman aus der Welt des Glitzer-Shoppings zu schreiben. Das würde mich sehr interessieren. 

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Bettina Hofer, Christina Lienhart: Idealistisch und wagemutig. Pionierinnen im SOS-Kinderdorf.
Innsbruck: StudienVerlag 2006, 307 Seiten

Kürzlich ist sie sogar in die Zeitung gekommen, in die Wochenend-Ausgabe vom 17./18. März 2007. Nikolaus Paumgartten, junger Redakteur der Tiroler Tageszeitung, titelt: «Tante Imma hat Kinder in aller Welt.» Soll es ruhig alle Welt wissen. Alle Welt?  Zumindest die LeserInnen des Lokalteils, wo sie in der Serie «Menschen aus der Nähe» porträtiert wurde. Und da steht es dann auch gleich, in der Mitte der ersten Spalte: «Die 1921 im Südtiroler Brixen geborene Imma von Unterrichter gilt als Pionierin der SOS-Kinderdorf-Bewegung. Auch wenn sie das nicht so gerne hört. ‚Ach was, ich bin doch keine Pionierin’, winkt sie verlegen ab und lächelt bescheiden.»

Immerhin: Sie hat ab 1960 das SOS-Ferienlager in Caldonazzo mit aufgebaut und verwaltet. «Morgensport, singen, dann unter die eiskalte Dusche, anschließend gab’s Frühstück und der Tag konnte beginnen!», erinnert sich Olga Cracolici, die als kleines Mädchen dabei war und jetzt Leiterin der Abteilung Qualitätsentwicklung SOS-Kinderdorf ist (S.172). Das liest man nun nicht mehr im umfangmäßig begrenzten Zeitungsporträt, sondern in einer Publikation, die Tante Imma und weiteren 14 Kolleginnen breites Augenmerk angedeihen lässt. Recherchiert haben die detailreichen Biographien Bettina Hofer und Christina Lienhart, beides Erziehungswissenschaftlerinnen, die am Sozialpädagogischen Institut von SOS-Kinderdorf tätig sind.

Im Beitrag zu Imma Unterrichter erfahren wir unter anderem, dass die SOS-Ferienlager für die Kinderdörfler auch als Urlaub von der mutterzentrierten Erziehung gedacht waren. Es sollte zumeist männliche Betreuer geben und es herrschten strenge Zucht und Ordnung. Zu Beginn der 1980er Jahre verschärfte sich diesbezüglich die Kritik der Erziehenden. «Dann ist diese antiautoritäre Erziehung gekommen. Da sind die Dorfleiter gekommen und da hat’s geheißen, die Kinder sollen selbst entscheiden und man darf den Kindern nichts aufzwingen. In den Ferien sollen die Kinder das genießen und sollen sich selbst beschäftigen können. Man hat’s gesehen. Die kleinen Kinder sind rumgesessen und haben geweint. Dann hast du Zelte mit Schnitten gesehen. Viele Kinder wussten nichts mit sich selber anzufangen. Von dieser antiautoritären Erziehung ist man dann auch wieder ganz abgekommen. Man hat dann wieder mit den Kindern was unternommen, es ist wieder gespielt worden. Die Erwachsenen haben sich eingemischt und haben mit den Kindern mitgespielt.» (S.177)

Mit dieser Erfahrung befinden wir uns bei aller Frauengeschichtsschreibung, die den AutorInnen angelegen ist, mitten in der Gegenwart. Auch Andrea Bischoff gesteht in ihrem «Lexikon der Erziehungsirrtümer. Von Autorität bis Zähneputzen» aus 2005, dass «die antiautoritäre Erziehung oft ein hochtrabender Ausdruck dafür war, dass die Erziehung der Kinder schlicht vernachlässigt wurde.» Längst leben wir wieder in einer Zeit, die Disziplin lobt - Bernhard Bueb lässt grüßen - und selbstverständlich auch kritisiert. Darum, um diesen Pädagogenzwist im engen Sinn, geht es hier freilich nicht. Es geht - um es mit Worten von Imma Unterrichter zu sagen - darum: «Pionierinnen, das sind Frauen, die eine neue Sache aufbauen. Die Frau Heissenberger oder die Frau Sinnhuber, das sind Pionierinnen … Ich bin hingekommen und habe zugepackt, wo gerade etwas zu tun war.» Es geht um die zupackende Begeisterung für die Sache Hermann Gmeiners - und die wird in den Porträts spürbar, ohne für die LeserInnen penetrant zu wirken (was bei solcherart Publikationen leicht passieren kann).

Die Gegenwartsbezüge in der Vergangenheit sind trotzdem sehr interessant, und interessant sind auch die Kontexte, welche die Autorinnen zu Beginn (und unterstützt von der Politologin Alexandra Weiss) geben. Hier geht es z.B. um Frieda Duensings Sager «Die soziale Arbeit ist das Amerika der Frau», denn: «Sie erkannte die Möglichkeiten der Frauen zur Pionierarbeit, zur Eroberung, zur Eigengestaltung immer neuer Arbeitsfelder und somit Handlungsspielräume, die Frauen zu dieser Zeit sonst kaum vorfanden, wenn es um außerhäusliche Erwerbsarbeit ging.» (S.24) Heutigen Tages wird den Frauen dieses «femininisierte» Amerika einerseits zum Vorwurf gemacht, andererseits drängt man sie in die Domänen Soziales und Erziehung. Wieder lässt sich aus der vorgeführten Geschichte ein Gewinn für die Gegenwart schöpfen. Und man sieht: Beiträge zur vergessenen Frauengeschichte sind wichtig und umso bemerkenswerter, wenn sie so unaufgeregt selbstverständlich daherkommen, wie dieser.   

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Raoul Schrott, Die fünfte Welt.
Innsbruck: Haymon Verlag 2007, 128 Seiten

Ahmed Pascha Hassanein, der in Oxford studierte und Ägypten 1920 als Fechter bei den Olympischen Spielen vertrat, hatte 1923 die «bis zu uns einzige Expedition, die das Sammeln wissenschaftlicher Daten über diese Region zum Ziel hatte», unternommen (79). «Wir», das sind der Archäo-Geologe, der Biologe, der Fernerkundler, die Ethnologin, ein Filmteam vom ZDF, die tschadischen Fahrer und schließlich der Schriftsteller Raoul Schrott. «Diese Region»: das Hochplateau des Erdi Ma im Nordosten des Tschad an den Grenzen zu Lybien und zum Sudan. Ausgangspunkt ist N’Djamena, die Route führt über Abeché, Wüste wird  gequert; und mit der Mourdi-Senke stößt man auf jene fünte Welt, die Schrotts neuem Buch den Titel gibt: «Es ist hier, daß die Fünfte Welt nun beginnt, wie die Quintessenz einer Realität hinter jedweder humaner Oberfläche: die eigentliche Erde.» (44) Im dokumentarischen Teil III dieses Logbuchs, mit Fotos, Kartografischem und Original-Dokumentarischem, taucht sie noch einmal auf, als «eine Wüste nämlich, in der einen Ort zu markieren eitel bleibt; eine Öde, in deren Indifferenz sich alles wieder verliert; eine Fünfte Welt, in der jede Mitte illusorisch ist.» (112)

Es ist eine Expedition zurück zum Ursprung: «Nicht das Zweistromland und auch nicht das Niltal waren die Wiege der Zivilisation, sondern diese ehemaligen Savannen hier, die mit ihren wiederholten Dürrephasen auch die Wanderbewegungen des Homo sapiens nach Europa mit auslösten.» (47) Die fachkundigen Gefährten helfen dem «ungeschulten Auge» (102) des Schriftstellers beim Spurenlesen, denn die Gegend ist bislang zwar daten-, aber beileibe nicht tatenlos. Der Mensch war hier und hat Zeichen gesetzt: «Wo die Sandsteinskulpturen des Ennedi wieder aus der Ebene stiegen, fand sich auf einer frei stehenden Felsnadel dieser Bildstreifen eingeritzt, eine Erzählung, älter als jede Schrift.» (104) Älter also auch als die erste, mit Namen greifbare Dichterin der Welt überhaupt, Enheduanna, mit deren im 23. Jahrhundert vor Christus im östlichen Zweistromland der Sumerer verfassten Gedichten Schrotts «Erfindung der Poesie» anhebt.

Schrotts wüstes Reisemotiv wird damit klar, aber es gibt, nebenbei, auch noch andere, in diese Gegend nahe von Michael Ondaatjes Setting im «Englischen Patienten» zu fahren; ein gerüttelt Maß an Zivilisationskritik etwa, die sich in Teil I des Logbuchs konzentriert und an der Darfur-Krise im Besonderen wie am Verhältnis Europa─Afrika im Allgemeinen reibt: Medienschelte, die an Handkes Jugoslawien-Ausflüge gemahnt; Häme für frustriertes Personal der Entwicklungshilfe und Scientific Community, das folkloristisch, ethnologisch, missionarisch in «die staubige Leere des Tschad» läuft: kein «Quentchen Abenteuerlust», kein «selbstloses Interesse» (25).

Teil II des Reiseberichts entdeckt das Endspiel des «Zeitalters der Exploration», beschreibt den Ausgang des Menschen aus selbst verschuldeten Irrfahrten in Zeiten des Satellitenhandys, schildert das Reise-Finale. Agoza, ein Fort der Fremdenlegion, Außenposten der Zivilisation vor dem Nichts und Ziel der Expedition, ist ein letzter Markstein der Kolonialisierung, durchzogen von nomadischen Spuren. «Vorfallslosigkeit» heißt der Befund der Reise in «eine leere Welt, das Licht darin, die Weite, mit der man zurückschauen konnte auf die eigenen Spuren und Zeugen einer Zeit, für die wir nicht zählen, nie gezählt haben.» (73) Das ist ein schöner Satz zum Ende. Schrott gelingt es, die gängige Reportage als Kolportage zu entlarven, aber gleichzeitig auch, der Enttäuschung über den nicht eingelösten «romantischen Mythos eines unentdeckten Landes» (49) einen neuen Mythos abzuringen. Der kann Schürfungen hinterlassen, wenn man ihn streift, so eckig, kantig und weniger rund sind hier die Wüste und ihre Bewohner.   

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Ingrid Strobl, Ich hätte sie gerne noch vieles gefragt.
Töchter und der Tod der Mutter.
Frankfurt/M.: Krüger 2002.

Bernhard Kathan, Nichts geht verloren.
Lengwil: Libelle Verlag 2006.

Kleine und große Impressionen über den Tod

Libelle, Tier und Mensch

Seit 1979 macht Ekkehard Faude Bücher für seinen Libelle-Verlag, durchschnittlich sieben Novitäten im Jahr, ca. 100 Titel sind lieferbar. Manuskripte langen, wie in der Branche üblich, auch bei ihm ein, unverlangt und zahlreich; durchschnittlich alle drei Jahre ist etwas Passendes dabei. Im Jänner 2006 war es ein Manuskript von Bernhard Kathan. «Eine Geschichte vom Sterben», wie der Verleger auf seiner Homepage lapidar anmerkt und beiläufig hinzufügt: «Dass die Literaturgesellschaft Vorarlbergs (Felder-Verein) diesen Band nun als Jahresgabe für ihre Mitglieder ausgewählt hat, ist das erste schöne Zeichen der Rezeption.»
Dieser Rezeptionsradius soll hier auf Tirol ausgeweitet werden, weil der Autor, 1953 in Fraxern in Vorarlberg geboren, als Kulturwissenschaftler und Künstler in Innsbruck lebt und arbeitet. In den letzten Jahren veröffentlichte er unter anderem eine «Andere Geschichte der Medizin» (Das Elend der ärztlichen Kunst, Wien: Döcker 1999), welche die Beziehung Arzt – Patient analysiert, oder eine Studie zur Beziehung Mensch – Tier (Zum Fressen gern, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2004). Zuletzt erschien sein «Nachruf auf die kleinbäuerliche Kultur», welche er anhand von 60 traditionellen Gegenständen in Text und Bild nochmals vor Augen führt (Strick, Badeanzug, Besamungsset, Innsbruck/Bozen/Wien: StudienVerlag 2006).

Impressum und Eindruck

Ekkehard Faude hat in Kathans neuem Buch nun das gemeinhin eher schlicht gehaltene Impressum auf der letzten Druckseite genützt, um weitere Auskunft über seine Verlegerentscheidung zu geben: «Beeindruckende Texte über das Lebensende, die Vor- und Nachräume des Todes, über das veränderte Sterben in der Moderne finden sich nicht oft.» Im Verlagsprogramm stand so Katrin Seebachers Romandebüt «Morgen oder Abend» (1996), eines der großen stillen Bücher des Verlags, thematisch lange Zeit allein. Kathans «starke Bilder vom Fortleben und sein kulturwissenschaftlich genauer Blick auf die medizinische Entsorgung der Alten sowie die Abbrüche des Herkommens schließt sich unvermittelt eng an die dichterische Präzision von Katrin Seebacher an. Das Wispern zwischen diesen beiden Texten hat begonnen.» Hören wir einmal hin!

Aus dem Leben des verstorbenen Jodok

In 20 kurzen Betrachtungen erzählt Bernhard Kathan vom Leben, Sterben und Nachleben des Kleinbauern Jodok. Wie Seebacher ihren Roman thematisch in Erzählungen vorbereitet hatte, lässt der Autor den auktorialen Erzähler aus den eigenen kulturhistorischen Büchern schöpfen. Der Blick dieses Erzählers ist zart und pragmatisch, einfühlsam und gegenständlich zugleich: «Jodok, bereits Jahre begraben, streicht noch immer herum, sei es nun als Tier, Luftwesen oder als Mitteilung von Steinen und Gras.» Man erfährt viel über Jodoks Welt und einiges über die Dinge, welche den Erzähler umtreiben. Der Text mag einem, besonders zu Beginn, seltsam verschränkt erscheinen, aber er legt es auch gar nicht darauf an, gedrechselt zu sein wie etwa Handkes «Wunschloses Unglück» oder dramatisch zugespitzt wie Mitterers «Sibirien». Solches ignoriert er, seine Referenzgrößen haben schon eher Namen wie Pasolini, E.T.A. Hofmann oder Hartmann von Aue (Der arme Heinrich).

Mütterliches Sterben

Ingrid Strobl, Altersgenossin Kathans und in Innsbruck geboren, hat in ihrem Buch, das vier Jahre nach dem Tod der Mutter 1998 im populären Sachbuchprogramm des Krüger Verlags erschien, das Spektrum eingeschränkt, aber doch den Blick geweitet. Sterbende Mütter, so die Autorin einleitend, sind die Ausnahme in der Literaturgeschichte, etwa bei Handke oder Johnson (die Liesbeth Cresspahl der Jahrestage). Sie analysiert diese Leerstelle und erklärt: «Die Frauengeneration, die den Feminismus ins Leben rief und sich in der neuen Frauenbewegung engagierte, ist jetzt in das Alter gekommen, in dem die Eltern sterben.» Nur konsequent also, dass Strobl sich des Themas annimmt. Sie reflektiert das ambivalente Verhältnis unserer Gesellschaft zum Tod, die Beziehung Mutter – Tochter (Teil 1/2) und den «Tod der Mutter in der Literatur der Töchter» am Beispiel von «drei sehr unterschiedlichen Schriftstellerinnen, Virginia Woolf, Nelly Sachs und Simone de Beauvoir» (Teil 1/3). Kernstück des Buchs ist der zweite Teil, der eigene Eindrücke und die anderer angesichts des Todes der Mutter versammelt.

Wispern

Auch hier könnte sich ein Wispern zwischen den Texten einstellen. Auf seine Art changiert Kathan zwischen Studie und schöner Literatur, für die der Tod neben der Liebe eines der großen Themen ist. (Literaturkritiker werden nicht müde, diesen Stehsatz loszuwerden.) Seine Prosa verströmt Ruhe; nicht Totenstille wohlgemerkt, sondern jenen sanften Zeitfluss, der sich im Erzählen beim Zuhörer einstellen kann. Strobls Erzählfluss hat ein reportageartiges Tempo, stockt aber, so zielgerichtet er ist, wo von Toten und vom Tod die Rede ist. Seine Botschaften wird jeder selbst herauslesen, mit mehr Zuneigung für den einen oder andern Text. Solange Literatur aber derart am Puls des Lebens fühlt, ist es gut.  

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Hans Augustin,
 Und wohnt mitten unter uns. Gedichte.
Innsbruck: Kyrene Verlag 2005. 


Keine Panik! Gott sei Dank?

Unlängst war in Karin Bauers Kolumne „Personal moves“ (KarrierenStandard, 2./3.12.2006) unter dem Titel „Keine Panik!“ zu erfahren: Die „Millennials“, auch „Generation Praktikum“ oder „Ichlinge“ genannt (geboren zwischen 1980 und 2000), betrieben „eine intensive Ich-Beziehung“ und strebten „nach stimmigem Leben“, sie verlangten „echte Chance auf Work-Life-Balance“. Anders als ihre Vorgänger-Generationen, die Babyboomers (geboren zwischen 1945 und 1960) und die Generation X (geboren zwischen 1960 und 1980), die sich auf Job und Karriere konzentrierten, seien sie auf ein „Leben in Intervallen längst eingerichtet“, einer „vermeintlichen Sicherheit und Langfristplanung opfern sie ihre Lebensansprüche nicht.“

Die Generationen und das Tabu

Es gibt viele Millennials, rund 51 Millionen Menschen in Europa. Ob sie sich bei angestrebter Work-Life-Balance Zeit für Gott nehmen? Und die Job-Karriere-Generationen? Und wir? Reden wir überhaupt noch von Gott?

„EIN WORT, das nicht gesprochen wird, verflüchtigt sich aus dem Wortschatz. Wird belanglos, fremd und uneinordenbar.
Es gibt offensichtlich eine Menge Gründe, warum das Wort Gott im Alltag einer auf das Hier und Jetzt fixierten Gesellschaft nicht gebraucht wird, daher nicht gesprochen wird bzw. sogar tabu ist.“

Hans Augustin setzt dieses „EINE WORT“ an den Beginn seiner neuen Gedichtsammlung – genauer: an den Beginn seines Vorworts zum Buch. Gott also. Aber welcher Gott soll sich hier eigentlich wörtlich „verflüchtigen“? Der Gott der großen Weltreligionen, der Christen, Juden und Muslime? Der Gott der staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften? Oder – denken wir etwa an Wahrigs „Deutsches Wörterbuch“, das unter „Gott“ über eine Spalte anführt, die mit „zählb.; Myth.“ anhebt – einer der antiken Götter? Und wer sind „wir“? Ich, Du, die TirolerInnen, ÖsterreicherInnen, EuropäerInnen, die ganze Welt?

Grüß Gott

Wie auch immer – man darf diesen neuen Gedichtband, der seinen Gegenstand im Titel selbst ausspart, begrüßen, und warum nicht mit „Grüß Gott!“ (Was in einer Rezension vielleicht wieder ein Tabubruch ist.) Die soziologischen und theologischen Überlegungen des Autors in seinem Vorwort, die philosophischen Überlegungen des Verlegers Martin Kolosz in dem seinen: Sie machen jedenfalls klar, dass „Gott“-Gedichte  an sich und ihre Publikation einer ausführlichen Rechtfertigung bedürfen. Das lässt tief blicken, in einen (vermutlich lokalen) pseudo-aufgeklärten Abgrund nämlich, der von Vorurteilen und Intoleranz tiefschwarz ist und mit dem französischen Lichterjahrhundert von einst wenig zu tun hat. Für den, der sich nicht der Aufklärungsfraktion, die Allwissenheit, Unfehlbarkeit und Unantastbarkeit für sich gepachtet hat, zurechnen darf, bleibt das ohne Belang. Ihm könnte Augustins Gott sogar vertraut vorkommen. Er tritt hier in Gedichten von aphoristischer Kürze auf. Die Sache ist nicht verkopft und verzopft, sondern witzig und satirisch. Gott und Welt sind die thematische Basis, zündender Einfall und handwerkliches Geschick die dichterische Ausformung. Tatsächlich sind diese lichten Gedichte, rund 50 an der Zahl, in ihrer sprachlichen Kürze und Klarheit eben Ausprägungen der Aufklärung. Es bereitet große Lust sie zu lesen. Augustin, der sich Ende November 2006 den Salzburger Lyrikpreis mit Bettina Baláka teilte, ist auf der Höhe seiner Kunst. Zitieren wir zum Schluss nochmals den Dichter: „Es war ganz leicht/mit diesem Menschen/ins Gespräch zu kommen.“  

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Eva-Maria Widmair, Gerhard Kofler & Ludwig Paulmichl (Hrsg.),
 Europa erlesen – Südtirol/Alto Adige. 
Klagenfurt/Celovec: Wieser Verlag 2006, 315 Seiten

De rebus tirolensibus (lat.): Über Tiroler Dinge
Peri thes anthologías (griech.): Über Anthologien


Wie sagten die alten Römer eigentlich dazu?
Sie nannten sie Venosten, Isarken, Breonen und Genaunen.
Zumeist aber behalfen sie sich mit dem Sammelbegriff »raetium«.
Und die jungen Faschisten?
Jahrhunderte später lösten sie das Problem mit den Stammes- und Ortsnamen anders, brachten es zustande, innert 40 Tage 12.000 Südtiroler Ortsnamen zu italianisieren und anschließend 20.000 Familiennamen (was rein rechtlich gesehen einer Urkundenfälschung gleichkam). Wer nach 1924 den Namen »Tirol« gebrauchte, kam für vier Wochen hinter Gitter. Die Faschisten errichteten in Bozen/Bolzano sodann ein Siegesdenkmal, an dessen Inschrift – »
hic patriae fine siste signa hinc ceteros excoluimus lingua legibus artibus« (Hier an der Grenze des Vaterlandes setze das Zeichen. Von hier aus lehrten wir die anderen Sprache, Gesetz und Kunst) – bis heute gekiefelt wird, es herrscht Unfriede auf dem »Siegesplatz«.

Unweit von dort hatte zum ausgehenden 19. Jahrhundert der deutschnationale Bürgermeister Julius Perathoner ein Denkmal des Minnesängers Walther von der Vogelweide errichten lassen, das nach einigem Hin und Her seit den 1980er Jahren wieder an seinem Ursprungsort steht, dem Waltherplatz. Die Idee, dass Walther ein Südtiroler sei, geht auf den Lajener Pfarrer Johannes Haller zurück, der in Ignaz Vinzenz Zingerle, Professor für deutsche Philologie in Innsbruck, einen akademischen Verfechter seiner These fand. Die Reaktion aus dem italinienischsprachigen Süden ließ damals nicht lange auf sich warten. 1896 wurde in Trient/Trento ebenfalls ein Dichter-Standbild enthüllt: Dante Alighieri blickt hier gestreckten Arms nach Norden, von wo ihm Walther mit vielsagendem Blick entgegensieht.

Diese beiden nationalen Säulenheiligen und Dichter, von denen vermutlich keiner Südtiroler war, stehen zu Beginn der »Europa erlesen. Südtirol/Alto Adige«-Anthologie: Der eine steigt lyrisch vom Hang hernieder, der andere legt sich unter die Linde. Oswald von Wolkenstein, der folgende dritte, zieht viel in der Welt herum, entsprechend makkaronisch ist daher so manches seiner Gedichte: »wesegg mein krap ne dirs dobro«, krauderwelscht es da (laut Dieter Kühn: ›mein Anker hält mich niemals fest‹). Es folgen Dietrich-Epik, Nikolaus von Kues, Michael Gaismair – Chronologie ist hier also ein Kompositionsprinzip dieser Anthologie.

Jetzt zu den alten Griechen. Seit der auf der griechischen Ferieninsel Kos verstorbene Meleagros aus Gadara knapp vor Beginn unserer Zeitrechnung   nicht als x-ter Dichter eigene Werke, sondern als erster überhaupt repräsentative Werke seiner großen Kollegen herausbrachte, ist die damit erfundene so genannte Anthologie (Meleagros’ Einleitungsgedicht hieß »Anthologia Palatina«) zur folgenreichen und erfolgreichen Verlegerpraxis geworden. Hier haben wir nun eine Anthologie des Ferienlandes Südtirol vorliegen und sie ist Bestandteil der mittlerweile 99-bändigen Edition »Europa erlesen« im Wieser Verlag, Klagenfurt/Celovec. Andere Bände erzählen von Transkarpatien, Siebenbürgen, Lappland, Dublin, der Provence oder gar von einem Land, das »Senza confini« heißt. Es liegt in der Natur dieser Sache, dass neben der Zeit auch die Orte ein Kompositionsprinzip sind. Südtirol – das dreisprachige Land muss einem Verleger wie Lojze Wieser ganz besonders am Herzen liegen, wo er selbst in einem Land lebt, in dem zweisprachige Ortstafeln verrückt worden sind. Für seine Verdienste um die Erschließung der literarischen Landschaften Mittel- und Osteuropas bekam er allerdings den Professoren-Titel, wir sind schließlich in Österreich.
Nun aber zurück zu Meleagros und zur Anthologie. Der Grieche komponierte seinen Erstling voll Geschick, ordnete nach Motivketten, gruppierte nach exemplarischen Gestalten. Er nannte sein Florilegium »Kranz«, und der war kunstvoll geflochten. Wie steht es um das Arrangement dieser Anthologie?
Auf dieser literarischen Reise lernt man viel kennen, regionale und internationale Dichterflora, manches bislang noch gar nicht botanisierte Fundstück, und von diesen Kategorien jeweils Vorfahren und Zeitgenossen. An die 100 Beiträger sind es insgesamt auf 300 Seiten, unmöglich, sie hier aufzuzählen. Summarisch tut dies ein kurzes und kundiges Nachwort von Ludwig Paulmichl und Eva-Maria Widmair. »Ein roter Faden«, so die Herausgeber, »ist das Engagement für ein haßgeliebtes Land, gegen die Enge und Engstirnigkeit, meist Auftritte mit kräftiger Attitüde, selten ironisch elegant wie bei Paul Flora.« Damit ist ein Name genannt, und die Bandbreite dieser höchste gelungenen Zusammenstellung angedeutet. Von Orten war schon die Rede, und was die Zeit betrifft: Sie endet hier mit einer lakonischen Südtirol-Notiz von Mit-Herausgeber Gerhard Kofler vom 23. Juni 1999. Im November 2005 raffte den »starrköpfig in zwei Sprachen Schreibenden« der Krebs hinweg. Seinem Andenken ist diese Anthologie gewidmet. 

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Jakob Philipp Fallmerayer, Hagion-Oros oder der heilige Berg Athos.
Mit einem Nachwort von Ellen Hastaba, Zeichnungen von Paul Flora, Fotos von Wolfgang Pfaundler und Audio-CD (Gert Westphal).
Bozen: Edition Raetia 2002

»Geht doch nach Byzanz, da braucht ihr nichts zu wissen!«
Jakob Philipp Fallmerayer fragmentiert den Berg Athos
 
 

»Montag 22. April, fahle Sonne« – so Jakob Philipp Fallmerayers letzter Tagebucheintrag. Er starb 1861, hatte stets Journal geführt und dabei vor allem auch meteorologische Zeitläufte erfasst. Etwa: »Schöne Zeit, keine Wolken bei vollkommener Windstille und lauen Lüften« (19. April); oder: »Wolkig, kalt, etwas Schnee Nachts, unfreundliche Zeit; Nachmittag herrlich und wolkenlos« (20. April). Das erinnert nachgerade an den englischen Dichter und Priester Gerard Manley Hopkins, in dessen Diarien derlei wettrige Notate ebenfalls zahlreich zu finden sind. Etwa im Journal aus 1868: »19. Ap. Trüb mit Regen und Wind. 20. Ap. Regen; dann schön – der Sturm spreitete die jungen Kastanienblätter.«
1)

»spreitete« – diese Wortbildung verdanken wir übrigens dem Hopkins-Übersetzer und Lyriker Peter Waterhouse. Fallmerayer nun hat mit Übersetzer-Deutsch nur insofern zu tun, als Passagen seines »Berg Athos« in Klang und Ton an den deutschen Nachdichter Homers denken lassen, an Johann Heinrich Voß mithin. Das mag auch daran liegen, dass der Neuausgabe des »Glanzstücks seiner orientalischen Reisetexte« (NZZ, 05.07.2003) in der Edition Rætia eine CD beiliegt. Wie Gert Westphal hier Ausschnitte des Textes liest, kommt jener Intensität nahe, mit der Thomas Holtzmann die Voss’sche Odyssee-Version  rezitiert.2) Schade nur, dass Westphal lediglich eine halbe Stunde liest (wo Holtzmann sich über 6 CDs ausbreiten darf)!

Aber nun zurück vom Hörbüchlein zum Textbuch, das über 16 wunderbare S/W-Fotos von Wolfgang Pfaundler, 4 lakonische Stiche von Paul Flora (davon einer doppelt), ein ausführliches Nachwort der Herausgeberin Ellen Hastaba, und vor allem – auf 23 plus 43 Seiten schön gesetzt – Fallmerayers »Hagion-Oros oder der heilige Berg Athos«, Teil 1 plus 2, enthält. Wie Voss vermag er hier schwärmerische (und in seinem Fall orientalisierende) Idyllen zu bieten; aber seine satirisch-pointierte Feder stellt ihnen immer wieder okzidentale Anti-Idyllen gegenüber. Sie weisen ihn dann eben doch als Nachfolger Heines aus, ohne dass man freilich die spöttische  Schärfe schmeckt, mit der dieser seine »Reisebilder« zuweilen überwürzt. Solcherart Polemik behielt Fallmerayer seinen Tagebüchern vor.

Geschrieben hat der Byzantinist und Orientalist dieses und weitere »Fragmente aus dem Orient« zunächst für die seinerzeit weit verbreitete »Augsburger Allgemeine Zeitung«. Wiewohl er dem Feuilleton-Publikum gegenüber vorgab, diese Reiseepisoden direkt aus dem Tagebuch zu übernehmen, ist ebendiesem zu entnehmen, dass ihr Verfasser »sinnt und liest [und] auf der Hofbibliothek de fontibus nachsucht«, um seinen Elaboraten nur ja den gehörigen Schliff zu geben. Nach der ersten Lieferung des Athos-Fragments an die AAZ darf Fallmerayer so in sein Tagebuch notieren: »Der Artikel thut große Wirkung, ist Gegenstand aller Gespräche, selbst zu uncultivirten Geistern drang der Ruf, quod felix faustumque sit!« Für die Buchausgabe 1845 bei Cotta schließlich überarbeitet er die Fragmente teilweise nochmals. Sie sollte ihm höchstes Lob eintragen: »Um 6 Uhr warme Conferenz mit dem Kronprinzen [Maximilian], Dank und Enthusiasmus für die Vorrede und für das ganze Werk; große Wirkung, tiefer Eindruck; – gnädiger als je; Analyse der Vorrede und Beweise großer Huld.«

Derartige Strebsamkeit sollte, so möchte man meinen, dem orientalischen Bohemien Fallmerayer eigentlich widerstreben. 1837, als die Lebensumstände den »Professor der Allgemeinen Geschichte am K. B. Lyceum zu Landshut«, der sich zuerst mit seiner umfänglichen Studie über die »Geschichte des Kaisertums von Trapezunt«, 1827 3), einen guten Ruf erworben hatte, für Jahre von jeglicher Lehrverpflichtung entbanden, hatte er sich ins Tagebuch geschrieben: »möchte [...] viel Geld um wie ein Afghane mit Niemanden etwas zu schaffen zu haben [...] Ich hätte nie geglaubt, dass ich nach dem arbeitsamen zehnjährigen Landshuterleben ohne Beschäftigung den Tag hinbringen könnte! Im Orient habe ich diese Kunst gelernt.«

Wie solche Kunst aussieht? »Geht doch nach Byzanz, da braucht ihr nichts zu wissen!«, rät Fallmerayer dem Bildungsbürger des Okzident in Teil 2. »Wir haben eine Tyrannei der Bildung, des Progresses, der Doctrin, des feinen Tones und sind vor Allem genöthigt ›Esprit‹ zu haben und die neueste Wandelscala akademischer Geschmackssentenzen und Salondekrete über Wortconstruction, Bedeutung und Syntax zu kennen, um zu jeder Stunde ›auf der Höhe des Moments‹ zu seyn. Ach, welche Pein!« Fallmerayer, so suggerieren Text und Biografie des Autors, befand sich lieber auf der Höhe des Berges Athos, wo »es keine Akademie [gibt], keine Autoren, keine fortschreitende Bildung und Niemand liest ein Buch« – was für den gesamten Orient gilt, mithin auch für den Hagion-Oros.

Nun, nicht jeder vermag sich derartig Eigenbrötlerisches zu leisten, und die Mönche vom Heiligen Berg Athos halten sich ja auch für Auserwählte, die untereinander freilich gleich sind: »Der Einsatz ist ja für alle gleich und morgen – das weiß der Diener – kann er an Reichthum und Macht über euch [europäische LeserInnen] stehen, was im hierarichisch gegliederten Zustande der abendländischen Gesellschaft unmöglich ist.« Die Zeit hier ist überhaupt stehen geblieben, und »käme jetzt St. Athanasius, der Hagion-Oros-Reformer, wieder aus dem Grabe in seine Laurakolonie zurück, er fände seine Mönche noch auf derselben Stelle geistiger Gymnastik, wo er sie vor 900 Jahren verlassen hat. Selbst die halbvollendete Phrase, bei der ihn der Tod überraschte, könnte er zu Jedermanns Verständniß im Style seiner Zeit ergänzen.«

Schier unglaublich, was sich dort abspielt, ist für uns heutige wie für Fallmerayers damalige LeserInnen, die er – im Stil des gebildeten Essays – gern direkt anspricht: »Glauben Sie wohl, daß man sich unter diesen Umständen auf dem Hagion-Oros viel kümmere, was Hr. Prellerus in Dorpat über die Fragmente des alten Grammatikers Praxiphanes diputire, oder daß man Dr. Wall aus Oxford lese, von dessen großem Werke über die Erfindung des ABC eben erst ein Theil der Einleitung in drei Oktavbänden zu nicht mehr als 1500 Seiten erschienen ist?«

Da dürfen wir dem Autor schmunzelnd beipflichten: Nein, das kümmerte die Athos-Mönche wohl einen feuchten Kehricht. Und auch wir wenden den Blick vom Westen zum Osten und lesen heute anstelle von Prellerus und Dr. Wall viel lieber, was Fallmerayer über den Athos zu erzählen weiß.

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(1)Gerard Manley Hopkins. Journal (1866–1875) und Frühe Tagebücher (1863–1866). Aus dem Englischen von Peter Waterhouse. Salzburg/Wien: Residenz 1994, S. 59
(2)München: Der HörVerlag 2005
(3)Eine Nachdruckauflage der Ausgabe München 1827 (Hildesheim/New York: Georg Olms Verlag 1980) ist lieferbar

 

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Susanne Schaber, Herr Hofer und sein Hosenträger. Tiroler Gratwanderungen.
Wien: Picus 2006, 131 S. 

Der weite Horizont dort oben

Es gibt zumindest zwei Anthologien, die Kluges und auch weniger Kluges versammeln, das im Laufe der Zeit in literarischem Zusammenhang mit Tirol geschrieben wurde.
1)
Naturgemäß nicht alles, sodass man am erstellten Fundus sattsam herummäkeln könnte, wenn man wollte:  Beiden Herausgebern ging es nicht darum, linke oder rechte Positionen erneut politisch korrekt zu betonieren. Das, so denke ich zumindest, ist Aufgabe von Provinzdeppen.
Hier nun haben wir es mit einem Tirol-Bändchen zu tun, das ebenso jeglicher Art dem möglichen Leser vorauseilenden Gehorsams entsagt. »Herr Hofer und seine Hosenträger. Tiroler Gratwanderungen« verheißt es. Es erscheint in der Reihe Picus Lesereisen, wo 2003 »Sechstausend Fuß jenseits von Mensch und Zeit. Engadiner Höhenflüge« herauskam: beides Beiträge einer Autorin, der offensichtlich erwanderte Bergeshöh’ wie schreibendes Fingerspitzengefühl Anliegen sind.
Das Büchlein setzt mit seinen zwei besten Kapiteln ein; das eine gleitet gekonnt von Schabers Bergerlebnis zu allerhand alpinem Hintergrundwissen und zurück. Es geht um die Wildspitze, auf die sie Kilian Scheiber führt. Dem geprüften Berg- und Schiführer steht dann im zweiten Kapitel Toni Wille, Klavier-Bauer aus Nufels im Kaunertal, an Authentizität in nichts nach. Maximilian – und was dem lieben Max dann folgt: Galtür, Hofer, Fasnacht, Walder-Saga, Almmilch-Kulinarik, Heiliges und Mumifiziertes – das ist immer noch gut gemachte Reportage, hier und da mit schönen Gedanken und Zitaten garniert; (wozu gibt’s Anthologien?!) mit folgendem Haiku von Bashô etwa: »Du mache Feuer, und ich/will dir was Schönes zeigen:/einen Ball aus Schnee.«
Tirol und die TirolerInnen erscheinen hier nicht kauzig und nicht kurios, der Blick auf die Sonnenseiten ist nie süß und der auf die Schattenseiten nie bitter. Überhaupt der Blick: »Felsmauern, ob aus Granit, Gneis oder Kalk, sind breite Projektionsflächen für eigene Bilder. Und wer weiß: Haben nicht jene, deren Weg immer wieder auf steinerne Hindernisse trifft, schneller und nachhaltiger lernen müssen, über die eigene Nasenspitze hinauszuschauen? Nach vorn, und dann, wenn sie an Grenzen stoßen, dem Gestein entlang nach oben, wo’s nur mehr Blau wird. Und vielleicht ist gerade dort der Horizont weiter als anderswo.« Ja, wer weiß, vielleicht ist es wirklich so.

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(1)Barbara Higgs und Wolfgang Straub: Wegen der Gegend Tirol. Literarische Reisen durch Tirol.  (Eichborn 1998) und Bernhard Sandbichler: Europa erlesen. Tirol. (Wieser 2000). 

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Christoph Pichler, Onkel Norberts denkwürdiger Nachmittag. Erzählungen.
Frankfurt/Main: Schöffling & Co., 2005.

Denkwürdig

Kann sein, dass Erzählfiguren manchmal verraten, was ihr Autor denkt.
Etwa: “Ich hasse das, dieses Ernsthafte, Gewichtige.”
Oder: “Das, was wir Bäume nennen, denkt er, mitten in der Nacht stehend – vielleicht sind sie in Wahrheit die Wurzeln weit fantastischerer Gewächse, die aus jener Oberfläche wachsen, an deren Unterseite ich stehe und die Häuser und alles, was mich umgibt. Und nur die Zentrifugalkraft der Erde bewirkt, dass wir an der Unterseite haften bleiben.”
Oder: “Ist es nicht unglaublich, wie kurz eigentlich der Sommer ist?”

Das Letztere mögen nun im Übrigen viele mit dem Autor und seiner Figur denken, gerade in diesem Jahr 2005, dessen Sommer einen derart verschleiernden Regen in vielerlei Variationen bot, dass er als Sommer nicht eigentlich erkennbar war. Dieser Sommer war zu kurz. Und erst der Herbst war wieder schön – vielleicht auch deshalb, weil er wie jedes Jahr ein Bücherherbst war. Eine seiner reifsten Früchte ist Christoph Pichlers erstes Buch, das ein stimmungsvolles Sommercover ziert und das auch im Inneren nicht mit sommerlich-idyllischen Reizen geizt (freilich auch nicht mit herbstlichen).

Im Allgemeinen wird in den 16 Geschichten, die es enthält, übrigens so gedacht und gehandelt, dass der Leser das Denken und Handeln der Figuren nicht erahnt; er wird vielmehr charmant düpiert, von einem Autor, der bei aller naseweisen Halbwüchsigkeit vieler seiner Figuren ein ausgewachsener, ja ein ausgefuchster Erzähler ist. Nicht dass man bei diesem Erzähldebüt das Etüdenhafte übersehen müsste, das Durchprobieren verschiedener Perspektiven, vom variierten Blick durch die Brille des jungen Erzählers der einen bis zum Innenhof als Protagonist einer anderen Erzählung. Dass die Erzählungen Talentproben sind, muss man auch nicht verschämt übergehen, im Gegenteil, wo doch die Talente sind: eine geschmeidige, unverbraucht bildhafte Sprache, eine fein dosierte Erzähldramaturgie und wohl gesetzte Pointen. In ihrem oft munteren Plauderton sind diese Geschichten beinahe schon exotisch, in provozierend konventioneller Manier erzählt, voll altmodischer Eleganz und luftigem Unernst. Eine Art smarter Gentleman-Prosa.

Der Übersetzer und Literaturkritiker Peter Urban Halle hat in diesem Zusammenhang bemerkt, dass bei Christoph Pichler nicht jener Raymond-Carver-Ton vorzufinden sei, den junge deutsche Autoren seit Ingo Schulzes “Simplen Storys” gerne pflegten. “Pichlers Prosa ist warm, die Bilder sind phantasiereich ... Das Gewicht des einzelnen Wortes ist in der Erzählung größer als im Roman. Pichler bedenkt das, seine Geschichten sind genau, präzis formuliert und trotzdem schwebend. Sie sind poetisch.”

So ist es tatsächlich. Manchmal sind diese Erzählungen Erzähl-Episödchen; einige bergen etwas von Robert Walser in sich; andere etwas von Johann Peter Hebel; sie sind nicht zu kurz und nicht zu lang, gerade recht eben. Manchmal erzählt der Autor auch furios und rasant. Und immer führt er gekonnt durchs Geschehen.

Es sind Erzählungen, die aus dem Leben geboren werden, Geschichten, die sich – nicht immer, aber oft – aus kuriosen Schicksalen generieren – kurios oder “denkwürdig”, wie es die Titelgeschichte nennt. Christoph Pichler ist wohl ein Autor, der sich in seiner Lebenswelt aufmacht, um zu jenen kuriosen oder eben denkwürdigen Lebenskernen zu kommen, die er aus Allerweltsfrüchten schält, um sie dann in seinen Erzählboden einzusetzen und zu einem Pflänzchen mit phantastischen Auswüchsen heranzuzüchten. Er ist einer, der das Kuriose handschriftlich skizziert, per Schreibmaschine austippt — und dann beginnt auch schon das Hadern zwischen Strichen und Ergänzungen. Man sieht das dem Endprodukt nicht an, aber man merkt die fein ausgeschliffene Prosa sofort.

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Maria Elisabeth Brunner, Berge Meere Menschen.
Wien, Bozen: Folio, 2005.
 

Tatorte: Berge Meere — Täter: Menschen 

"Woher sie kam blieb das verläßlichste Motiv der Geschichte." — heißt es gleich zu Beginn von Maria Brunners Romandebüt, das dieses Leitmotiv dann in 14 Kapiteln, eruptive Protokolle allesamt, variiert. "Sie", das ist das Kostkind; "woher", das ist der Einödhof im Südtiroler Bergdorf, eingeklemmt, schattig, unwirtlich. Woher genau, weiß man bei Kostkindern nie und so auch hier nicht. Von Anbeginn ist sie beim Ziehvater und Kostherrn, bei der Ziehmutter, die aus dem Tal "weggeheiratet" worden ist, deren Schoß keine Frucht trägt und die zuletzt endlich an Krebs verenden wird. Das Handkesche Gewicht der Welt ist hier "das Gewicht […], das du mir angehängt hast in den Jahren auf dem Hof, ein Leben lang werde ich die Kost abzudienen haben."

Das ist also der "Tatort aller Geschichten", die hier erzählt werden; "in solchen Verhältnissen hatte sie als Kostkind aufzuwachsen." Keine guten Vorzeichen, so eine Kostkindheit. Wir kennen solches Schicksal aus den "Schönen Tagen", wo es der Pinzgauer Franz Innerhofer Mitte der 70er Jahre aus der eigenen Biographie in wuchtige Prosa transponierte. "Der Pflege einer kinderlosen Frau entrissen, sah Holl sich plötzlich in eine fremde Welt gestellt.", liest man dort, und die Erzählung setzt ebenfalls "kurz nach dem Krieg" ein. In der österreichischen Literatur ist das Thema solcher Unbehaustheit in der Folge geradezu ein Genre geworden, dessen letzte Blüte vielleicht der Roman "Aushäusige" war — auch dieser von einer Südtirolerin, Sabine Gruber.

Das Kostkind ist nun ebenso "aushäusig", es bockt und pariert nicht, wie es soll, vergafft sich in Bücher, studiert, unterrichtet, "in der Alpenstadt", dann "da unten", "auf der Insel", kehrt aber wie ein Verbrecher immer wieder an den "Tatort aller Geschichten" zurück, dorthin, wo es nach dem Dafürhalten der Altvorderen zu bleiben hätte. Im Dorf gilt es längst als Kuriosität wie einst die Riesin Mariedl Faßnauer. Weil "nach der Mariedl und vor dem Kostkind sind nicht mehr viele aus den Tälern an der Grenze so weit herumgekommen."

Die "schwarze Stadt in der Wüste unter dem Vulkan" und die "rauchblaue Fläche des Wassers" sorgen als Tatort-Alternative für schöne Abschnitte außerhalb der Bergwelt, selbst wenn auch für diese fernwehe Meereswelt konstatiert wird: "Wie häßlich das doch alles war." Oder: "Die Sonne und das Meer die hatte sie damals oft verflucht." Die Schilderungen der "Reisen durch Nacht und Rauch" — das ist Kapitel neun — erscheinen jedenfalls formal am gelungensten und inhaltlich avanciert; dass alles dennoch dunkel ist, entspricht ganz dem Duktus der zelebrierten schwarzen Ästhetik, für die schön bloß "das Dahingleiten" im Zug ist: "Nackte und weite schmucklose Gegenden mit abweisenden leeren Landschaften für die nur das Auge gemacht schien. Die ganz große die weite die unbegrenzte Landschaft. Nacht und Rauch und Licht oberhalb der Ruinen rechts und links der Autobahn. Ein dunkler ein leerer Fluß. Schön das Dahingleiten."

Der Autorin scheint bewusst zu sein, dass man auf diesem glitschigen Terrain leicht ausrutschen kann, ist doch an einer Stelle kritisch formuliert: "Die Kunst schirmt sich ab um sich allein zu unterhalten." Und an anderer Stelle wird über das dröge Schicksal des Kostkinds distanziert Resümee gezogen: "Da ist also dieses arme Kind. Es muß überall mit anpacken. Nachts in einer mit Schmutzwäsche vollgeräumten Abstellkammer liegen. So ist es zu jeder Saison.", usw. Da baut jemand der adrett-kitschigen Anti-Heimat-Romanze vor. Dieselbe handhabt die Topographie, die Chronologie und selbst eine gewisse Ideologie der Geschichten äußerst geschickt. Schreibt einen Roman, der — sofern nicht aus anderen Schriftstücken zitiert wird — gänzlich ohne Kommata auskommt und dabei gut lesbar ist. Aber wer ist das eigentlich?

Sie ist eine versierte Autorin — 1957 in Südtirol geboren, in Innsbruck promoviert, Universitäts-Lektorin in Italien und mittlerweile Professorin für deutsche Sprache und Literatur an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd —, die eine Erzählerin zu Wort kommen lässt, die von sich als "ihr" erzählt: "Diese Geschichte einer Auslöschung hatte sie nun endgültig niederzuschreiben." Und so ist ein Buch möglich, das erschrocken davon berichtet, wie unverhüllt das Animalische von Menschen ge- und erlebt wird. In den Bergen vor allem, aber natürlich auch am Meer. 

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Hans Platzgumer, Expedition. Reise eines Underground-Musikers in 540 KB.
Innsbruck: Skarabaeus, 2005.

Hans Platzgumer: Expedition 87 - 04" Doppel-CD, BUNTSPECHT

Un peu noisy

Nicht leicht, über Hans Platzgumers Expedition. Die Reise eines Underground-Musikers in 540 KB als Literatur zu schreiben. Mit deren Maßstäben gemessen würde Platzgumer, der Musikbesessene, zunächst den Stürmer und Dränger geben - und aber auch den Empfindsamen. Stürmisch und drängend vornehmlich aus seiner Heimat Tirol (»Ich wollte meinen Horizont erweitern, die engen Grenzen überschreiten, an die ich in der Heimat ständig stieß.«); empfindsam besonders in der Liebes-Sehnsucht zurück zu ihr (»Der vorläufige Abschied von Sandra war eine Qual für mein von unfassbaren Gefühlswellen erschüttertes Herz.«). Wo hat man sowas zuletzt schon so platt gelesen? Goethes Werther könnte sich schon so ausgedrückt haben und sein Götz war auch ein recht nonkonformistischer Wurf. Damals wie heute eignet derartiger Chuzpe jedenfalls ein aufregender Charme.

Aber zunächst: Goethe, Werther, Götz - die kennt man ja, nur wer ist Hans Platzgumer?
Zunächst also: kein Literat in der Tradition Goethes. Dann: Er ist Autor von Songtexten und Held (wie auch nicht!) seiner eben im Skarabaeus Verlag erschienenen Autobiografie.           Im Confort Moderne, einem Untergrund-Club im französischen Poitiers, nannten sie ihn »un ange qui passe« und seine Musik »un peu noisy«. Für den ganz jungen Hans Platzgumer (11 bis 14 Jahre) trifft das eine schon zu. In der autonomen Punk-Szene seiner Heimatstadt Innsbruck nahm er sich wie ein hager-zart-cleaner Putto aus, der inmitten versoffen-verkifft-Zugedröhnter bleich herausleuchtete (schließlich traf man ihn stets zu spätester Nacht- bzw. frühester Morgenzeit dort an); und das andere auch: Seine Musik ist zweifelsohne »krachig«.
     Aber zurück zu den Wörtern. Im Grunde sounded es hier nicht viel anders wie wenn, sagen wir einmal: Gidon Kremer (Violine) oder Glenn Gould (Klavier), Thomas Quasthoff (Bariton), Midori Seiler (Violine) oder Hélène Grimaud (Klavier) über sich als Musiker schreiben. Alles Damen und Herren vom klassischen Fach freilich. »In Denken und Empfinden autonom, gegen jede herrschende Autorität und Konvention, offen für jedes Experiment, besessen individualistisch« - diese Charakteristik auf einem Gould-Buchcover gilt selbstredend auch für Platzgumer (Vocals, Elektrogitarre, Electronics). Und wenn ein wieder anderer Musiker, Richard Wagner (Kapellmeister), schrieb: »Das ist die ganze Kunst, wie sie jetzt die ganze zivilisierte Welt erfüllt! Ihr wirkliches Wesen ist die Industrie, ihr moralischer Zweck der Gelderwerb, ihr ästhetisches Vorgeben die Unterhaltung der Gelangweilten.«, dann könnte das auch Platzgumer kritisch angemerkt haben. Schließlich: Die Titel der unlängst herausgekommenen Autobiografien von Thomas Quasthoff (Die Stimme. Berlin: Ullstein 2004), Midori Seiler (Einfach Midori. Berlin: Henschel 2004) oder Hélène Grimaud (Wolfssonate. München: Blanvalet 2005) klingen nicht weniger prätentiös als der von Platzgumer. Wir halten jedenfalls fest: alles Memoirenliteratur.
     Wagner hat ein Œuvre von 12 Bänden geschrieben. Bei Platzgumer sind es bislang die im Untertitel angeführten 540 KB (= 304 Buchseiten). Nicht verwunderlich, dass dieses literarische Debüt wenig geschliffen klingt. Aber: Ist diese Geschliffenheit überhaupt erstrebenswert? Wagners gedrechselte Formulierkunst würde Platzgumer verstört von sich weisen, er, »der bourgoise, eitle Europäer«. Es wäre ein bisschen so wie seine dümmste Stage- bzw. Off-Stage-Erfahrung. Die Situation: Platzgumer stürzt von der Bühne in den Hinterhof, um im Grünen zu pinkeln, steigt in frische Hundescheiße und massiert diese, zurück auf der Bühne, in seine Effekt-Pedale. Als im das bewusst wird ... Na ja, echt ekelig das, derb, beschissen eben, aber solche Geschichten schreibt das Leben (eines Underground-Musikers).
     Da haben wir's also: Es sind Anekdoten, die hier aufgetischt werden, und zumeist sind sie nicht so schwer verdaulich, sondern witzig, selbstironisch, bizarr. Angeregt hat die Sache Barbara Schäfer, Dramaturgin der Hörspiel- und Medienkunst-Abteilung des Bayrischen Rundfunks. Mit dieser Abteilung sind wir dann schon dem näher, was wir Literatur nennen. Ende der 90er Jahre nämlich, nach vielen musikalischen Verpuppungsformen, die sich durch wechselnde kreative Phasen bis heute weiterspinnen, beginnt Platzgumer mit dem »Scoring«, dem Komponieren von Soundtracks zu Literatur. Beispiele gefällig? Jack Kerouacs On the Road natürlich, Marcel Prousts Combray und selbstredend deutsche Literatur: Thomas Lehr, Albert Ostermaier oder Kathrin Röggla.
     Platzgumer ist einer, der im »legendärsten und schmutzigsten Club überhaupt, dem DBGB's in New York, wo Größen wie die Talking Heads oder die Ramones aufgetreten sind« Bühnenerfahrung gesammelt hat; einer der rastlos auf seinem musischen Credo beharrt; einer, der den Begriff »independent« zu Recht im Mund führt; einer, dessen Porträt von Medien wie Standard, Falter, Spex oder Arte voll Bewunderung nachgezeichnet wird. Sein Buch hat nichts mit der literarischen Ambition von Kollegen wie Thomas Meinecke (Tomboy, Hellblau, Musik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, 2001, 2004) oder Sven Regener (Herr Lehmann. Frankfurt/M.: Eichborn Berlin 2001) zu tun, aber auch überhaupt nichts mit dem anderen Gegenpol (Dieter Bohlens Nichts als die Wahrheit). Es ist - um es mit einer Wortprägung von Albert Ostermaier zu umreißen: heartcore.

Das mag nicht jedermanns Sache sein. Aber es gibt Anlass, mit einem Vorurteil aufzuräumen: Kinderliteratur ist nicht nur für Kinder da, ernste Literatur nicht nur für Ernste und Memoiren-Literatur von MusikerInnen nicht nur für deren Fan-Clubs. Es tut gut, hin und wieder darin zu schmökern und die eng gezogenen Literaturgrenzen zu überschreiten. Grenzen sind ja schließlich zum Überschreiten da. Das mag eine Platitüde sein, aber sie hat aufregenden Charme. Zitieren wir den Autor, der unbekannte Gebiete und Landstriche wie die Antarktis liebt, aus dem Booklet der eben erschienenen Doppel-CD Hans Platzgumer: Expedition 87 - 04: »Polar ist auch immer an die Grenze gehen, Limitationen aufbrechen, (er)forschen, (er)fahren, ausdehnen.« Wer Lust dazu hat, mag sich tief in diesen Schaffens-Querschnitt einhören. Wer noch etwas fürs Auge haben möchte, kann sich Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 5 zu Gemüte führen. Hier schreibt Platzgumer über Werke des Tiroler Künstlers Walter Obholzer. Und zwar geschliffen.


Hans Platzgumer: Expedition - Die Reise eines Underground-Musikers in 540 KB. Innsbruck: Skarabaeus Verlag 2005. 334 S.
Hans Platzgumer: Fragezeichen, in: Quart Heft für Kultur Tirol Nr. 5, S. 39-43
Hans Platzgumer: Expedition 87 - 04. Buntspecht (im Vertrieb von Hoanzl)

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Oswald Egger, Prosa, Proserpina, Prosa.
Frankfurt: Suhrkamp Verlag 2004.

Raoul Schrott: Weissbuch.
München-Wien: Hanser Verlag 2004.

Wir lesen Gedichte wieder gerne, meint Kling

Thomas Kling, der »bedeutendste Lyriker des 20. Jahrhunderts« (so urteilte zumindest die Neue Zürcher Zeitung 1999) hat im zweiten Jahr des 21. Jahrhunderts 200 Gedichte auf deutsch vom achten bis zum zwanzigsten Jahrhundert versammelt und publiziert. Sprachspeicher heißt das ansprechende Werk entsprechend (Köln: DuMont 2001). Kling ist Lyrikexperte, produzierend wie rezipierend, und so kann es schon angehen, einen Blick auf die letzten Seiten dieser Anthologie zu werfen. »Das für Sprachspeicher zählende Gedicht der 90er«, heißt es dort, »zeichnet ein erneutes Interesse an Sprachgestaltung, an Metaphernlust aus, bei Eröffnung von unverbrauchteren oder neuen Themen. Bei aller Unterschiedlichkeit der Ansätze scheint das Gedicht augenblicklich nicht gewillt, E und U auf getrennten Kontinenten anzusiedeln. Teils aus den Phänomenen der akuten Mediatisierung und der Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts sich speisend und deren Ton- und Lichtspuren wiederum rekonstruierend - wie der unter den 60er-Jahrgängen herausragende Marcl Beyer -, teils gilt die Beschäftigung den Reservoiren der Naturwissenschaften oder der Kulturgeschichte, aus denen der zuletzt leicht statuarisch wirkende Grünbein schöpft, hinter diesem, pfiffiger und glatter, Raoul Schrott« usw. Es folgen: Ferdinand Schmatz, Barbara Köhler, Ulrike Draesner und: Oswald Egger. »Oswald Egger« also, »das ›Ungeheuer Horaz‹ mit italienischem Paß, bewegt ausgreifende romantische Modelle.« Aha! Und das Schlussplädoyer: »Wir lesen Gedichte wieder gerne, diese alten und stets verjüngerbaren Botenstoffe.« Das will für die 0er-Jahre des 2. Jahrtausends überprüft sein - und weil sich's ergibt und hier am Platz ist an Hand zweier Neuerscheiungen, an Hand zweier Gedichtbände der angesprochenen (Süd)Tiroler Lyriker: der Lananer auf der einen und der Landecker auf der anderen Seite.
Oswald Eggers so gar nicht traditionell-gedichtiger Gedichtband kann als solcher gelten, weil die Rede darin derart gebunden ist, dass der Autor den Satz des Buches gemeinsam mit der Suhrkamp-eigenen Setzerin Nina Knapitsch übernommen hat. Jeder Zeilenumbruch der in der obern Hälfte fetten und in der untern Hälfte mageren Textblöcke ist kalkuliert; in einem Strichzug gezeichnete, sukzessive (2-8-16-32-32-16-8-2) ver- bzw. entdreieckte Quadrate sind Texteinheiten zugeordnet; (wer das Bild nicht gleich vor Augen hat, nehme Bleistift und Papier und versuche sich in dieser Art Logelei.) Auf den hinteren Seiten finden sich einige Strichschleifen Stichwörtern zugeordnet. Das Prosaische am Text versteht sich im Sinn der »geradeaus gehenden« Redeweise - und: »vorschlängelnd«. (So kommt Pro-serpina in den Titel).
Raoul Schrott wiederum definiert »Gedichtband« am  Ende seines, eben deshalb »Gedichtband« zu nennenden Buches folgendermaßen: »letztlich immer eine Art Weißbuch, das Daten und Ereignisse festhält, die Ausgangsorte und Ziele nebst einer Spalte für persönliche Eintragungen ... dramaturgisch durch den Rückblick des Schreibens angeordnet«. (So kommt das Weißbuch, das hierzulande zuletzt ein Reformwerk zur Kulturpolitik bezeichnete, zu Titelehren.)
Oswald Egger erscheint in der legendären edition suhrkamp, in der neuerdings auch Lyrik des Brooklyner Folk-Pop-Softies Adam Green zu finden ist - aber das nur nebenbei. Vieles, was Rang und Namen hat, hat dort erstveröffentlicht, in einer der Farben des Regenbogenspektrums, das der geniale Buchgestalter Willy Fleckhaus dieser broschierten Reihe in Buchkarton mit Leinenstruktur verpasste. Eggers neuer Band erscheint in hellem Blau und besticht durch berückende Gestaltung. Der vorangehende - Nichts, das ist. Gedichte - war dunklgelb. Egger setzte und gestaltete diesen seinen zweiten Band in der Edition selbst, mit gezeichneten Linien, eingeschobenen Grafiken und Reproduktionen, im oberen Seitendrittel ein- bis zwei vierzeiligen Strophen, unten Fließtexte. Dieser Dunkelgelbe nun wurde von der Stiftung Buchkunst zu einem der schönsten Bücher des Jahres 2001 gekürt, und das zu Recht. Eggers erster, Herde der Rede. Poem, war violett; das sich  - in Ergänzung mit dem in der kleinen Zürcher Edition Howeg herausgekommenen Gedichtband Der Rede Dreh. Poemanderm Schlaf - auf 1800 neunzeilige Strophen belaufende Megapoem (1999) durchzieht seine insgesamt über 600 Buchseiten mit einem Trennstrich, um die für diesen Autor offenbar typische Parallelführung herzustellen. Der Suhrkamp-Band ist außerdem mit kleinen Emblemen ausgestattet, die auf den Wechsel der Beschreibungsebenen hinweisen. Derartige Fülle scheint geradezu stupend oder, um ein Eggersches Wortgebilde aus dem zweiten Surhkamp-Band zu nehmen: seltzam.
Raoul Schrotts u. a. auch langzeilig ausschwingende Verse hinwiederum verlangen ein breiteres Buchformat als üblich. Auf Buchgestaltung legt auch dieser Autor sehr viel Wert und ist bei Peter-Andreas Hassiepen, dem ebenfalls genialen Buchgestalter bei Hanser, in besten Händen. Die Bauchbinde des Buches kündet davon, dass Schrott im Herbst 2004 den (mit € 50.000 dotierten) Joseph-Breitbach-Preis erhielt. Nicht martkschreierisch, sondern dezent, wie es die gedeckten Farben des Schutzumschlags sind. Das Weißbuch ist selbstverständlich in echtes Leinen gebunden, hellblau, und fadengeheftet.
Was nun diesen jeweilig makellos ausgestatteten Gedichtbänden fehlt, ist allein der gute Ton. Oswald Egger ist ja ein profilierter Performer und Raoul Schrott ein begnadeter Deklamator. Einen empfehlenswerten Zugang zu den Eggerschen Textlandschaften bieten aber gerade Lesungen des Autors, wo die Buchvorlage über Strecken zum Ausgangspunkt für dessen Improvisationen wird. Die Texte in Prosa, Proserpina, Prosa, für die Egger 2004 den Karl-Sczuka-Förderpreis für Hörspiel als Radiokunst des SWR erhielt, würden durch eine akustische Beigabe sicher gewinnen; das Weißbuch würde als Audiobuch noch an Würze zulegen. Aber weder der neue Egger noch der neue Schrott verfügen über die silberne Scheibe, die die Töne bedeutet. Na, schade jedenfalls.
Diese Äußerlichkeiten wollen hier doch erwähnt werden, weil man ja nicht irgendwelche Gedichtbände in Händen hält, sondern solche von renommierten Lyrikern - der eine elitär, oder besser: prononciert hermetisch - und preisgekrönt (Mondsee-Lyrikpreis, Clemens-Brentano-Lyrikpreis, Christine-Lavant-Förderpreis, Förderpreis der Stadt Wien, Lyrikpreis Meran); der andere populär, oder besser: prononciert vulgär (weil er Dichtung unters Volk bringt) - und ebenfalls preisgekrönt (Großes Österreichisches Staats-Stipendium für Literatur, Preis des Landes Kärnten, Leonce-und-Lena-Preis, Peter Huchel-Preis,  Förderungspreis für Literatur). Egger hat sein Programm der durch Aleatorik und lexikalische Trouvaillen generierten Texte fortgesetzt, Schrott das seine ebenso, nämlich deutschsprachige Lyrik mit einiger Chuzpe an den Standard internationaler, teils Nobelpreis-gekrönter Lyrikgrößen wie Seamus Heany, Charles Simic oder Derek Walcott anzuschließen.
»Kalkliebend sintern Zwergpippau und Kugelblumen, aus Steineichen, / die ihre langen Wurzeln durch den Schotter bohrten, der gilb'fse Enzian.« So liest sich hier Egger. Aber es geht auch anders: »Wo ich schritt, begann alles Gras naßklamm zu leuchten (kräuseln / und verschwimmbt [...]).« Der Reiz der Kombinatorik aus Akzeptablem und Inakzeptablem, aus Grammatikalischem und Ungrammatikalischem (um einmal Chomskys generative Terminologie zu bemühen) macht's aus. Dinge und Taten - die zitierten Beispiele sind repräsentativ für das Gesamte - werden zum Erscheinen und im Erscheinen wieder zum Verschwinden gebracht: dieses Zeigen und Verbergen hat etwas von jenem Heiligen, das Raoul Schrott im Vor- und Nachwort seines Weißbuchs verhandelt. Die dort angeführte Etymologie verortet den Begriff unter anderem beim griechischen phaino, ›das, was sich zeigt, erscheint, leuchtet‹ und in der Folge bei der indoeuropäischen Stammsilbe *neu = »etwas übermächtig Fremdes, das sich einem zuwendet«, woraus das religiöse Ritual »auf die Erscheinungen deutend; und ihr Numinoses schließlich vor Augen rückend« gemacht hat. Eggers Buch definiert sich - und wieder mit Schrott gesprochen - wie das Heilige »über einen Bannkreis. Vor ihm scheut man zurück: was solcherart mit einem Tabu belegt war, dem näherte man sich nicht ungestraft. Dem mysterium tremendum, das man im Heiligen einmal sah, begegnete man mit ebenso viel Abscheu wie Ehrfurcht, es war ein Faszinosum, vor dem man flüchtete und von dem man doch angezogen wurde, starr staunend.« Die Reaktion auf das Heilige, so würde ich sagen, ist heute nicht viel anders. In der Religion wie in der Lyrik hat es nämlich immer nur »ganz kleine Verschiebungen« gegeben. Dieser Einschätzung von Altmeister Ernst Jandl ist durchaus zuzustimmen.
Die Schrottsche Lyrik - hier »im Gefolge von Petrarcas Trionfi zu Zügen« angeordnet - ist im Vergleich zur Eggerschen ungleich handfester. Wie Egger die Anverwandlungen von Celan, Hölderlin oder Pastior früherer Tage hinter sich gelassen hat, ist Schrott längst aus dem Schatten H. C. Artmanns getreten. (»h.c. [...] ich denk an dich und betracht die spitzen meiner schuhe sonst nichts« heißt es bei Schrott jetzt.) Man liest eine lyrische Fülle von Stilleben, Tableaux vivants und Versspielen, bilder- und bildungs-, erlebnis- und einfallsreich. Wie in den vorausgegangenen Gedichtbänden Hotels und Tropen auch mit Ort und Datum versehen. Zum Heiligen gesellen sich die Motivkomplexe der Jagd und der Liebe, inhaltlich nahe liegend, aber auch lautlich verquickt (vgl. Venus und lat. venatio für Jagd), etymologisch sowieso. All das sind Ordnungsprinzipien wie Eggers Satztechnik oder die zu Beginn von Eggers Gedichtband angeführte »Homologie der Vorgänge (Itinerar)«, die am Schluss als »Inhalt (Iteration)« wieder auftaucht. Zwischen diesen sinnigen Ordnungsprinzipien kann man sich aber ganz unverkopft an die Materie der sinnlich geordneten Wörter machen - und das bereitet in beiden Fällen Lust.
»Wir lesen Gedichte wieder gerne« - Klings Wir ist kein Pluralis Majestatis, der Satz gilt für uns alle. Er ist nicht so zu verstehen, dass alle alle Gedichte gleichermaßen gerne lesen. Nein, die einen lesen diese, die anderen jene - das kann Zeitgenössisches oder Historisches bis zu den Anfängen der Dichtung überhaupt sein, was Schrott mit seinem Bestseller von der Erfindung der Poesie ja vorgeführt hat. Gedichte sind in unseren Tagen vielleicht wirklich ein bisschen selbstverständlicher geworden: Man liest sie einfach ab und an und die Lektüre muss nicht aller Orts säuerlich moralisierend eingefordert werden. »Der Weg aus dem globalisierten Universum der zugerichteten Prosa in die Landschaften der Poesie ist nur noch über die Bücher zu finden. Und gottlob gibt es historisch und praktisch gut ausgerüstete Führer wie Raoul Schrott, die die längst überwachsenen Pfade kennen.«, so etwa Hanser-Verleger Michael Krüger in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Joseph-Breitbach-Preises. Mag sein - oder auch nicht. Begehen wir nicht den Fehler, die Sache den Führern allein zu überlassen. Wir leben ja in Zeiten, in denen die Songwriter, etwa der junge Adam Green oder der alte Bob Dylan, neben den Eggers und Schrotts im Regal stehen. Vergessen wir sie nicht. Und vergessen wir erst recht nicht die Reime unserer Kindheit. Und unseren »Wunsch, poetisch handeln zu wollen.« Denn »der vollzogene poetische Act, in unserer Erinnerung aufgezeichnet, ist einer der wenigen Reichtümer, die wir tatsächlich unentreißbar mit uns tragen können.« So hat es H.C. Artmann 1953 proklamiert. Nicht als  Aufforderung, »publik zu werden«, sondern einfach poetisch zu leben. 

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Anita Pichler, "Haga Zussa - Die Zaunreiterin".

Erzählung. Mit einem Nachwort von Sabine Gruber und Renate Mumelter.
Wien, Bozen: Folio, 2004.

Wink mit dem Zaun

Wer seinen literarischen Erstling Mitte der 80er Jahre Die Zaunreiterin titelt, darf sich nicht wundern. Der "Neuen Frauenbewegung" dieser Tage gelten Zaunreiterinnen, Heckensitzerinnen, also Hexen, als Symbole für Unterdrückung und Widerstand von Frauen. hagazussa, so das germanische Etymon der Hexe, hat den einen Fuß in der rational-logischen (männlichen), den andern in der emotional-intuitiven (weiblichen) Welt. Und wenn jetzt, Jahre nach dem Ersterscheinen, noch irgendjemand mit den solcherart unterschiedlich disponierten Hirnhälften daherkommt, ist das Maß auch schon voll. Man würde diesen wieder aufgelegten vermeintlichen Frauenliteratur-Erstling resigniert weiterschenken. hagazussa bereitete nur noch Unbehagen. Überhaupt: Frauenliteratur. Helga Schütz (In Annas Namen), Monika Maron (Die Überläuferin), Undine Gruenter (Ein Bild der Unruhe), Lilian Faschinger (Die neue Scheherazade) - Literatur von Frauen aus 1986 -, klingt alles anders. Marianne Fritz (Dessen Sprache du nicht verstehst), Angela Krauss (Das Vergnügen), Friederike Mayröcker (mein Herz mein Zimmer mein Name), Erica Pedretti (Valerie oder Das unerzogene Auge) - Literatur der 80er Jahre von Kolleginnen im Suhrkamp Verlag (was vielleicht noch einmal etwas anderes ist) -, hilft auch nicht weiter; vielleicht am ehesten noch Gerlind Reinshagen (Isas Geschichte). Jedenfalls: Der Suhrkamp Verlag hat sich damals, im Nachhinein besehen, ein bisschen angepatzt, weil er Die Zaunreiterin als Erzählung auf den Markt geschickt hat, in der "'Weibliches' zur Sprache kommt" (Zitat Klappentext), vorne auf dem Cover ein Undine-Bildchen. Ein bisschen spekualtiv also. Das Buch erreichte 1986 zwei Auflagen und 1990 eine Taschenbuch-Ausgabe, was, ebenfalls im Nachhinein besehen, beachtlich ist.
Anita Pichler, die Verfasserin des Textes, geboren am 28. 1. 1948 in Meran, gestorben am 6. 4. 1997 in Bozen, wuchs zweisprachig in Südtirol und Triest auf, studierte Slawistik in Venedig und promovierte mit einer Arbeit über den russischen Avantgardisten Welimir Chlebnikow. Translingual ist das eine (Südtirol), transrational der andere (Chlebnikow); transliterarisch das dritte, nämlich die Erzählung Die Zaunreiterin, welche nun unter dem von Anita Pichler ursprünglich vorgesehenen Titel Haga Zussa als erster Band einer geplanten Gesamtausgabe der Autorin im Folio Verlag neu erschienen ist, und zwar, um es hinzuzufügen, in der Reihe Transfer, in der unter anderem lange vergriffene Werke wie Das Geheimnis des Anonimo Triestino oder Claus Gatterers Schöne Welt, böse Leut. Kindheit in Südtirol wieder aufgelegt wurden. Die Zaunreiterin fungiert jetzt als Sub-, Haga Zussa als Haupttitel, was, wie im Nachwort der beiden Nachlassverwalterinnen Sabine Gruber und Renate Mumelter steht, "im Sinne der Autorin" geschieht.
Es stimmt, dieser Text ist als Erzählung sperrig, spröd und subversiv. Kein Wunder also auch, dass ihn etwa Reich-Ranicki in der dem Bachmann-Wettbewerb damals eigenen Vorurteils-Rhetorik als "Kunstgewerbe und Talmi" empfand. Das mag der Autorin wie jetzt noch den Nachlassverwalterinnen als beleidigende Zumutung erschienen sein bzw. erscheinen. Zumal Die Zaunreiterin ein Schlüsseltext und Anita Pichler eine Schlüsselfigur der Südtiroler Literatur war und ist. Der Text löst eben nicht ein, was gemeinhin von einer Erzählung erwartet wird. Es gilt, was Stephan Hilpold nach Sichtung des im Sommer 1997 durch das ÖLA erworbenen Nachlasses analytisch dargelegt hat: "Die Form des literarischen Nachlasses ist wesentlich vom poetologischen Standpunkt der Autorin geprägt. Es war weniger das geschlossene Werk, das veröffentlichte Buch, das Pichler zum Schreiben motivierte, als vielmehr der Akt des Schreibens selbst, die schreibende Reflexion ("Ich schreibe, ob daraus ein Buch wird, weiß ich nicht."). Dieses Schreiben war für sie work in progress, bei dem Veröffentlichungen auch als Zwischenberichte aus der Schreibwerkstatt zu verstehen sind. So machen über den gesamten Nachlass verstreute Notizen und Entwürfe - ob auf Einkaufszetteln oder auf der Rückseite von Typoskripten - einen beträchtlichen Teil des Materials aus. Die zahlreichen Notizhefte lassen in vielen Fällen kaum Unterscheidungen zwischen literarischen und persönlichen Aufzeichnungen zu. Titel oder gar Datierungen fehlen meist, fließende Übergänge erschweren oft die Anwendung gängiger Unterscheidungskriterien. Bei Erzählungen und Gedichten, von denen sich im Nachlass neben den publizierten auch unveröffentlichte in beträchtlicher Zahl finden, dokumentieren Vorarbeiten, Fassungen und ineinandergreifende Schreibschichten eine etappenweise Beschäftigung mit einzelnen Werken." (Die Erschließung des Nachlasses von Anita Pichler. In: Sichtungen. Archiv - Bibliothek - Literaturwissenschaft. Internationales Jahrbuch des Österreichischen Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek. 2. Jg. Wien 1999, S. 81-84).
Die "Verweigerung" klar strukturierter Handlungsstränge und die "Aufhebung" zeitlicher und kausaler Abfolgen in der Zaunreiterin stehen in direktem Zusammenhang mit dieser Schreibpraxis. Die Komposition ist nie so schlüssig, wie das die publizierte Fassung (besonders die Neuausgabe mit viel weißer Fläche zwischen einzelnen Textteilen) suggeriert. Suhrkamp ist, wieder im Nachhinein besehen, beim zweiten Buch dieser Autorin, Wie die Monate das Jahr, viel klüger vorgegangen. Die Umschlaggestaltung bot hier eine rein textgrafische Lösung, und die Textteile selbst wurden durch einzeilige Absätze voneinander getrennt. Dieser Satz erscheint mir für diese Schreibpraxis viel adäquater. Er rückt den Text stärker in die Nähe großer Aufzeichnungen, jener Aufzeichnungen eines Canetti, eines Handke oder Pessoa. Und dort gehört er meines Erachtens auch hin. Erst mit diesem Verständnis wirkt, was Susanne Schaber über Die Zaunreiterin zutreffend schreibt, authentisch: "Eine beglückende Lektüre. Anita Pichlers Prosa ist rhythmisch durchgestaltet, ein virtuoses Stück Musik mit Variationen, Wiederholungen und kräftigen Modulationen. Eine fein gebaute, reduzierte und zugleich sinnliche Prosa." Keine landläufige Erzählung also, und schon gar keine Frauenliteratur. 

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Hans Augustin
, Fayum und andere Erzählungen.
Innsbruck: Skarabaeus, 2004.


Einführung zu Autor und Werk anlässlich der Buchpräsentation am 13.05. 2004, 20 Uhr im  Literaturhaus am Inn

von Bernhard Sandbichler

Was kann ich Großartiges zu Hans Augustin und zu Hans Augustins Werk erzählen? Vermutlich kennt ihn, wer diese Zeilen hier liest - und vermutlich sogar besser als ich. Aber gut!

Ich habe ihn vor drei Jahren kennen gelernt. Wir sind, glaube ich, nur einmal zum Essen ausgegangen, aber trotzdem hat sich seither einiges Augustin-Wissen bei mir angesammelt: Sein Sohn z.B. ist Sopransolist bei den Wiltener Sängerknaben, seine jüngste Tochter ein anmutiges Wesen, seine ältere Tochter war als Latein-Nachhilfeschülerin bei meinem Bruder, seine Frau ist Katholikin und er selbst hat Buddha einen sehr schönen Gedichtzyklus gewidmet. Ob er nun Buddhist war oder ist oder überhaupt, entzieht sich meiner Kenntnis, ich habe da nicht nachgefragt; das ist schließlich auch bloß rein Privates.
Andererseits: so ist es halt bei der Literatur, sie schielt immer gern aufs Biografische ihrer Verfasser, sie, welche die eigentliche öffentliche Sache ist, eine res publica.
Insofern: eine ganz frühe Erinnerung stellt sich bei mir ein, als ich Hans Augustin überhaupt zum ersten Mal und gleich in Sachen Literatur erlebte, beim Erklären verschiedener Druckverfahren im Landesmuseum Ferdinandeum nämlich. Er trug einen grauen Arbeitsmantel und er trug Druckerschwärze auf. Bei mir prägte er sich als artifex litterarum tief ein, als Handwerker der Buchstaben - und natürlich der Literatur, er prägte sich ein als eine Verkörperung des Industriezeitalters.
Sein Fleiß als Drucker war und ist für mich immer eine schöne Legende, ebenso die Vorstellung, dass Hans Augustin als Dichter von 30 Jahren, mit Rauschebart und unter dem Pseudonym Saint John Augustin unbeirrbar eigene Wege ging - und sicher nicht solche, die schnurgerade im Dorado der Literaturpreise oder der Bestseller enden. Ein Draufgänger sozusagen.

Das mag jetzt spannend klingen - aber es ist natürlich wieder völlig unsachlich. Vielleicht hätte jetzt hier ein Stehsatz kommen sollen, zum Beispiel: "Viel später bemerkte ich dann, dass seine Literatur nichts Schöngeistiges ist, sondern schön Gearbeitetes."
Was übrigens wirklich stimmt.
Jedenfalls: "Viel später" - das stimmt auch: Von seinen Büchern erfuhr ich zuerst, als sie schon der Vergangenheit anheim gefallen waren. Von seinen Hörspielen hörte ich, als sie längst schon gesendet worden waren. Dann aber brachte mir das allwissende Christkind seinen Gedichtband Weggelebte Zeit. Und so kam eins zum anderen, sein erster Erzählungsband Grosnyi zum Gedichtband Die Anhänglichkeit des Reisenden an den Weg, gelesene Zeitungsartikel hier und dort zu gehörten Hörspielen und gesehenen Theaterstücken dort und hier.

Meiner persönlichen Augustin-Biographie fügte sich unlängst ein weiteres Detail hinzu: Die mich seit ungefähr einem Jahr quälende Ungewissheit, was denn nun mit dem von ihm initiierten Feuilleton-Preis agricultura sei, löste sich auf Anfrage aus gegebenem Anlass endlich auf.

Die Milch der frommen Melkart - Die Erbsen, ein Trauerspiel - Kohlrabi statt Zins und Tilgung: so heißen die Titel der prämierten Beiträge. Der literarische Einsatz im agrikulturellen Umfeld hat sich eindeutig gelohnt, das zeigen diese bildträchtigen Titel.
Zum Vergleich: Die Fa. Nestlé schrieb kürzlich einen Essay-Wettbewerb unter folgendem Titel aus: Gedanken und Empfehlungen zur Positionierung von Nestlé als Nutrition und Wellness Company. Ich frage mich, wen so etwas eigentlich zum Schreiben hinreißt?

Na, wie auch immer.
Es wird langsam Zeit, und jetzt soll es wirklich zur Sache gehen.
Also: eben ist das neue Buch von Hans Augustin im Skarabäus Verlag, Innsbruck, erschienen. Wir halten einen Erzählungsband in Händen.
Schon einmal gut, dass es diesen Verlag gibt, der sich für heimische Autoren ins Zeug legt. Und schon einmal gut, dass es Bücher zu kaufen gibt, in denen folgender Titel zu lesen ist: Zanshin no yume. Meer der Stille steht als Untertitel. Der Erzählung selbst folgt ein zweiseitiges Glossar. Es ist eine Liebesgeschichte, die uns natürlich auch etwas über Hans Augustins Liebe zur fernöstlichen (oder vielleicht überhaupt zur exotischen) Welt verrät.
Die Totenstadt Fayum, titelgebend für eine zweite Erzählung, ist ja auch so etwas Exotisches.
"Lebt dein Vater noch?", wird darin ein gewisser Ahab gefragt.
"Nein, er ist von einer Reise nach Mekka nicht mehr nach Hause zurückgekehrt."
In einer weiteren Erzählung, Französische Landschaft, liest man Folgendes:
"Als der Herr von der Polizei begann, die Garderobiere zu befragen, schluchzte sie erneut auf ... Ob sie den Mann namentlich kenne. Die Garderobiere schüttelte den Kopf. Sie wusste nur zu berichten, dass der Herr seit gestern Abend nicht mehr aus den Galerieräumen des 19. Jahrhunderts zurückgekehrt sei."
Schließlich schildert das erzählende Ich einer vierten Erzählung:
"Ich habe Angst, dass ich sterben könnte. Aber auch, dass ich überleben könnte. Ich werde sterben, in jedem Fall."
Der unauffällige Heimgang des George Turklebaum
Dead End Street
Auch diese zwei Erzählungen setzen letzte Dinge in Szene, einmal anekdotisch, das andere Mal als verzweifelte Suche.

Ich will mit dem allen nicht andeuten, dass wir hier nur Geschichten vom Verschwinden und Sterben finden, ganz so wie es das Wiener Volkslied vom Ach so lieben Augustin vorsieht: "Jeder Tag war ein Fest,/Jetzt haben wir die Pest!/Nur ein großes Leichennest,/Das ist der Rest." Ich würde eher vom neuen Augustin-Ton sprechen: sehr spannend, sehr flirrend; Tag- oder Nachttraum; harte Realitäten; und immer voll Leben, Frauenleben z.B..

Hans Augustin nennt laut Verlagswerbung "seine zehn Prosatexte [im Buch stehen schließlich elf] ‚verschenkte Geschichten'". Dabei verschenken diese Erzählungen nichts. Hingegen darf man das Buch als Geschenk des Autors an den Leser betrachten. Mein Appell: Nimm das Geschenk ruhig an, Leser - es kommt von einem "Geist, der beharrt und immer umsichtig bleibt, ohne an etwas festzuhalten".

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Irene Prugger, Nackte Helden und andere Geschichten von Frauen.
Innsbruck: Skarabaeus, 2003, 172 Seiten.

anlässlich der Buchpräsentation am 24. 3. im Literaturhaus am Inn, Innsbruck:

Irene Prugger ist eine junge Autorin, nicht etwa weil sie ein Fräulein-Wunder wäre, sondern weil sich bei ihr die erzählerische Frische erhalten hat. In ihren Geschichten spürt man Fabulierlust, Lust an der Irreführung des Lesers. Der Schalk sitzt ihren Geschichten im Nacken - und fährt einem des öftern doch als Schrecken in die Glieder.

Im Mittelpunkt dieser 15 Geschichten, die sich symmetrisch um eine Geschichte gruppieren, in der die Symmetrie selbst Prinzip ist und zum Titel wird, am Anfangs-, Scheitel- und Endpunkt dieser 15 Geschichten also stehen nicht die Herren, sondern die Damen der Schöpfung. Es sind Geschichten von Frauen. Einzig ein männlicher Held (ein nackter Held, wie der Titel dieses Buches klar macht) tritt darin auf und macht eine schlechte Figur. Männer sind hier ganz in uninteressante Nebenrollen gedrängt, an denen Frauen zur Hauptrolle auflaufen. Aber wenn hier auch Wohl und noch mehr: Wehe der Geschlechter aneinander inszeniert werden, dieses Gewichtige wird nie gegeneinander aufgewogen. Es kommt vor, dass Frauen am Ende ihre Ärsche voller Überzeugung in den Himmel recken und ihren Blow- oder Handjob durchaus von weiblicher Generation zu weiblicher Generation weitergeben wollen. Sie erklären ihren Töchtern neben dem Kochen auch die Männer und deren Gewohnheiten.
Aber gerade dieses so erzählte Gewöhnliche setzt sich ungewöhnlich fort. Es kippt hinterrücks in das dunkle Gewässer der Irrealität, es schlägt Wellen, und diese Wellen lecken den Leser an den Zehen. Da steht er nun, der Leser, und sucht einerseits den fernen Horizont dieses Textgewässers ab und wird andererseits so nahe berührt.
Zunächst schaut er einmal nach unten zu den Zehen und erkennt: was ihn da berührt, trägt Namen:

Cornelias Gedanken strudelten durcheinander. > > Ihm gefielen vor allem die apfelgroßen, straffen, vermutete Helga. > > Und ich will Kleopatra heißen, wenn dieses Lächeln nicht doch einen Haken hat. > > He Bea!, rufen ihr die kleinen Brüder hinterher. > > Nichts Individuelles. Ihr spielt einfach Frauen. > > Ich nehme an, liebe gnädige Frau, Sie kennen solche Zustände, obwohl Sie wahrscheinlich auch im Haushalt der Gefühle auf mehr Ordnung achten, als irgendein Mann es je könnte. > > Ich glaube, ich muss zum Arzt, dachte Martha. Aber wie einem Arzt absonderliche Schweineträume erklären? > > Eines Morgens, beim Blick in den Spiegel, erschrak Anne darüber, wie viel Zeit vergangen war seit dem vorigen Tag. > > »Nein«, sagte Luise zu ihrer Freundin Susanne, »ich persönlich habe keine Angst vorm Sterben, aber jetzt muss ich zusehen, dass ich Hermann einhole, bevor ich ihn aus den Augen verliere, denn ich habe seine Herztropfen in meiner Tasche.« > > Ich stand auf und fasste Bad ohne Umschweife an.

»Ich stand auf und fasste Bad ohne Umschweife an.« Was für Berührungen! Eine folgt der anderen im Reigen der Erzählungen, und sie lassen einen nicht los. Mitten in diesen Berührungen, dem Herschwappen der Erzähl-Wellen an die Zehen hebt der Leser, wie gesagt, zuweilen seinen Blick zum Horizont. Das ist dann immer etwas Schwindel erregend, Weitblick ist eben ein Wagnis. Wagen wir ihn, den Blick an den Horizont, wenn auch nur wirklich ganz kurz! Woher also kommen die Erzähl-Wellen? Sie kommen aus dem unermesslichen Meer der Texte; vielleicht mag man eine Strömung benennen: William Gass etwa, den Meister des ungewöhnlichen Gewöhnlichen, des wirklichen Unwirklichen im Erzählen; oder James Salter, dessen schön dahinfließende Textströme unmerklich in reißendere übergehen. Aber diese beiden Amerikaner sind eben nur zwei, wo Irene Prugger vieles liest und gelesen hat. Schließlich: sie rezensiert ja andere Bücher, durstig, neugierig, voll Interesse. Zurück zu den Wellen: Der Wind unserer Zeit und unseres Ortes hier genauso wie Strudel aus der tiefsten Seele der Autorin haben diese Wellen natürlich auch aufgewühlt; nicht so, dass es stürmisch zuginge, neinnein, man hört eher ein Glucksen, das dann wieder gleich weg ist. Und man hört dem Glucksen nach und fragt sich: Wohin gehen diese Wellen? (Denn Wellen kommen und gehen.) Das lässt sich nun wieder nicht so ganz präzise formulieren. Und im übrigen: das bleibt jedem Leser selber überlassen. Anreiz zum Denken, Wasser für den Leser, ist jedenfalls genug da.
Man könnte dieses Spiel noch lange fortsetzen. Ich möchte jetzt aber noch einen anderen Punkt zur Sprache bringen. Nämlich: Dieses Buch verliert sich nicht in diesem Kommen und Gehen der Wellen, es ist auch solide Arbeit. Es huldigt keiner anstrengenden Selbstverwirklichung, sondern legt Wert aufs Handwerkliche. Und das ist eine große Tugend, finde ich. Man wird sich dieses Buch nach dem Lesen gerne in seine Bibliothek stellen, um es immer wieder einmal durchzublättern. Dann wird man auf die eine oder andere prägnante Stelle stoßen, an die man sich genau erinnert, weil sie eben nur hier so steht. Und dann wird der Wunsch aufkeimen nach den nächsten Texten dieser Autorin. Und eigentlich ist ja das das Schönste, wenn eine Autorin beim Leser Neugier auf immer mehr weckt. Das ist bei Irene Prugger schon immer der Fall gewesen. Aber zunächst: Freuen wir uns über dieses neue Buch - freuen wir uns auf die folgenden Geschichten!

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Raoul Schrott, Das Geschlecht der Engel, der Himmel der Heiligen.
Ein Brevier. Mit Bildern von Arnold Mario Dall'O.
München: Hanser, 2001, 148 Seiten.

Zwei frohe Botschaften - zwei strenge Fragen.

Dieses Buch springt dem Betrachtenden aufgrund seiner Ausstattung ins Auge und liegt dem Lesenden wohlgewichtet in den Händen. Es vereint Bild und Text. Die Texte hat Raoul Schrott im südirischen "Bishop's Luck, Cappaghglass, Mai 99 - August 00" verfasst. Es sind einerseits die in 20 römisch nummerierte Kapitel geordneten Texte von "Das Geschlecht der Engel", welche Angelografisches mit Liebes-Episteln, Botschaften von oben also mit solchen von unten kreuzen; (der Ich-Erzähler, ein "Heiliger zum Schein", räsoniert u.a. vom Tresen in Hacketts Pub aus;) andererseits sind da Kürzest-Viten unter dem Titel "Der Himmel der Heiligen" versammelt, die eine lapidar-groteske Hagiografie darstellen und einen direkten Zusammenhang mit den Illustrationen herstellen. Diese, insgesamt 34 und ebenfalls im Zeitraum 1999/2000 entstanden, sind von Arnold Mario Dall'O. Er kombiniert verschiedene Techniken schichtenweise: Zeichnung, Foto, Siebdruck, Linolstempel, Übermalung. Diese oberflächliche Mehrschichtigkeit birgt durchaus auch den inhaltlichen Reiz der Mehrdeutigkeit; der Druck einer Schichte auf PVC bewirkt übrigens den semitransparenten Charakter.
Die Texte lassen den gelehrten Dichter Schrott erkennen wie die Illustrationen den gelernten Bleisetzer, Lithografen und Grafiker Dall'O. Beide Autoren arbeiteten autonom, der eine zu Engeln, der andere zu Heiligen. Die Vereinigung beider Themen geschah nicht zu Lob und Preis des Himmels, sondern ergab sich aus der Art- und Wahlverwandtschaft beider Autoren, die bereits 1993 ein gemeinsames Buch, "Sub Rosa", publizierten.
Wie dieses erfordert nun auch jenes neue, dass man - will man es beschreiben - etwas ins Fachliche der Buchherstellung abschweift. Versuchen wir das in aller Kürze: Deckenband mit bedrucktem Papier über angemessen dicker Pappe (Ausschnitt von Dall'Os Illustration zu Konrad dem Einsiedler); sorgfältig gestalteter Buchrücken; zweifärbig bedrucktes Transparentpapier als Schutzumsschlag; außergewöhnliches Format; außenseitig bedruckte, nicht geschnittene Doppelblätter, die dem Buchkörper Volumen geben; gelblich-weißes, mattes Papier (vermutlich von Schleippen). In einer Hauptkolumne mit großzügigem Schriftgrad lässt der Satzspiegel die Engeltexte parallel zu den Heiligenkurzviten laufen, denen eine Marginalkolumne, gegenüber einer Illustration Dall'Os und zumeist innen, vorbehalten ist.
Tendenziell sieht die kritische Branche des Literatur-Feuilletons Derartiges bloß als Spielerei: Für den Autor der Bilder weiß sie sich nicht eigentlich zuständig; das Bibliophile schert aus der gängigen Ware aus; den Autor der Texte wiederum tut sie eher als einen eitlen Geck ab. Das war schon zu jenen Zeiten so, als H. C. Artmann - dessen Nachfahre Schrott auch ist - Bücher wie die "Grünverschlossene Botschaft" (Zeichnungen von Ernst Fuchs), "Fleiß und Industrie" oder "Die Sonne war ein grünes Ei" schrieb. Solche Texte sind sozusagen "Kontrafakturen": Umtextierungen bestehender Genretexte wie Traumdeutungen, Berufsbilder, Ursprungsmythen - und hier bei Schrott/Dall'O sind es eben Heiligenviten und -requisiten bzw. Lesefrüchte aus der Engelliteratur. Dem haftet nichts von jenem Gigantismus an, welcher bei Schrotts großen Übersetzungsunternehmen zu finden ist und der das ebenso große Feuilleton zu Kontroversen hinreißt. Man kann schon eher an "RIME" denken, einen schmaleren Band, der von der knappen vida des ersten Trobadors Guilhelm IX., Graf von Poitiers, ausgeht (Illustrationen von Adolf Frohner). Was nun all diese erwähnten Bücher, die von Artmann wie die von Schrott, zusammenhält, ist - nennen wir es so: die frohe Botschaft als Maskenspiel der Genien. Es zeigt dem Betrachter die Maske und demaskiert zugleich, es respektiert die Larve und entlarvt doch, es versprüht Auratisch-Erhabenes und mokiert sich darüber.
Klar ist, dass solchen Büchern auch immer strenge Fragen ins Haus stehen. Als dieser Frühjahrestitel ausgeliefert war, stellte die "Neue Zürcher Zeitung" im Mai 2001 die erste: "In Schrotts und Dall'Os Buch wird hingegen aller Gelehrtheit der Ausführungen und trotz aller Kunstfertigkeit der Form nicht klar, warum sie sich gerade mit Engeln und Heiligen beschäftigen und ob diese mehr sind als nur Requisiten für ein reizvolles künstlerisches Verfahren." Im Dezember erfolgte eine mögliche Antwort: "Die Welt" listete eine Reihe von Engelbüchern auf und titelte "Flügelobjekte. Die Saison der Engel ist eröffnet". Zwischen diesem Fundamentalen und Saisonalen liegen Monate, die nicht ohne Rezensionen verstrichen: im Juni die "Frankfurter Rundschau" ("Sind wirklich alle schrecklich? Raoul Schrott, den poeta doctus, treibt die Engelfrage um"), im Juli der "Rheinische Merkur" ("Satyr mit Sommersprossen"), im August die "Frankfurter Allgemeine" ("Dreieck mit Himmelsboten. Licht und Lametta: Raoul Schrott läßt Engel vom Himmel fallen"). Soweit eine durchaus unvollständige Pallette.
Die andere strenge Frage, die Glaubensfrage des Literaturpapstes Marcel Reich-Ranicki, wurde nicht gestellt. Sie lautet: "Taugt's was oder taugt's nichts?"
Die frohe Botschaft ist: Es taugt was. Punktum.

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Raoul Schrott, Khamsin.

Frankfurt/Main: S. Fischer, 2002, 64 Seiten.

"Auf und davon nach Timbuktu".

Sollte Thomas Bernhards opus magnum, der Roman "Auslöschung", ins Arabische übersetzt werden, würde sein Titel ›ibada‹ lauten. Auf solche Gedanken kann man kommen, wenn man "Khamsin" liest, dieses schmale Buch, das die gleichnamige Erzählung und den Essay "Die Namen der Wüste" enthält. ›Khamsin‹ ist einer dieser Namen, jener, den die Nitalbewohner für ihre Wüste hatten.

1. "Als sie nordwärts auf ein paar Hügel "zuhielten" ... "
2. "... ihr Wagen, der unter einer "Auskragung" des Felsens lag."
3. "Es war eine teilnahmslose Stille, dumpf wie hinter einem "Schott" ..."
4. "Der Hunger war ein Tier, das man in sich trug. Er spürte, wie es eingerollt und plump sich langsam zu regen begann, hornig den verknöcherten und verknorpelten Rücken mit seinen ledrigen Schuppen an der Bauchdecke wetzte, die weiche Unterseite und ihre Borsten an der Kerbe des Brustbeins, die zentimeterlangen Grabkrallen unter seinen Rippen, den dicken, gepanzerten Kopf mit seinen verkümmerten Zähnen, der ihm bis zum Hals reichte, dieses Tier, das sich wand und krümmte, sich einen Bau in seinem Körper grub, ihn von innen ausschabte, Schicht um Schicht, bis an die Stränge der Nerven und die dünne Epidermis, die sich über dem härter werdenden Bauch spannte und ein einziger Schmerz war. Für Winchester war es wie eines der Gürteltiere, die er nachts früher oft gejagt hatte."

1. bis 3. - das sind einige der schönsten Formulierungen und Wörter der Erzählung, die man gerne wie in der Volksschule mit offenem Mund von der Tafel abschreiben möchte. ›Wadi‹, ein anderes dieser Wörter, wirft einen unwillkürlich und so zusagen "Durch die Wüste" in die Karl-May-Phase zurück. Weil man schon erwachsen ist, liest man Schrotts Kalligrafie bloß und ist froh, dass es nicht nur Karl May gibt. Enwindet man sich der Sprachmagie, entdeckt man 4.: eine packende, kenntnisreich und makellos erzählte wahre Wüstengeschichte des Jahres 1941, deren einer Protagonist eben Winchester heißt.
"›Er ist auf und davon nach Timbuktu‹, lautet eine Redensart, was bedeutet: ›Er ist durchgedreht (oder im Drogenrausch), ›Er hat seine Frau (oder seine Gläubiger) im Stich gelassen‹, ›Er ist auf unbestimmte Zeit fortgegangen und kommt wahrscheinlich nicht mehr zurück‹, oder ›Ihm ist nichts Besseres als Timbuktu eingefallen.‹", schreibt Bruce Chatwin, Raoul Schrotts Verwandter im Geist. "Timbuktu" ist der erste Eintrag in Schrotts Essay und spricht vom Londoner Saturday Club, der Ende des 18. Jahrhunderts u.a. Mungo Park dorthin entsendete. Dieser befuhr den Niger, in dem er 1806 ertrank: Der amerikanische Erzähler T.C. Boyle weiß davon eine "Wassermusik" zu singen, einen süffigen Schmöker hat er darüber geschrieben. Raoul Schrott versteht unter seinen Expeditionen ad fontes selbstredend anderes. Bei ihm kann man ins Detail gehen. Freilich, ob René Caillié, der ebenfalls ›auf und davon nach Timbuktu‹ ging, nun "eine Anhäufung schiefer Lehmhäuser" (Schrott) oder einen "Haufen häßlicher Lehmhäuser" (Chatwin) vorfand, ist im Grunde egal. Boyle seinerseits stellt ohnedies fest: "Ich pflege in ›Wassermusik‹ absichtlich Anachronismen, erfinde Sprachen und Terminologien, und die Originalquellen dienen mir als Material für Abschweifungen und Ausschmückungen. Wo immer die historischen Tatsachen den Bedürfnissen meiner Phantasie Barrieren bauten, habe ich sie, in vollem Wissen und mit reinem Gewissen, in einer Weise umgestaltet, die meinen Absichten entsprach."
Der Venezianer Marco Polo berichtet übrigens von Wüstenmusik: "Wunderbar in der Tat und kaum glaublich sind die Geschichten, die von diesen Geistern der Wüste berichtet werden; sie sollen auch zuweilen die Luft mit den Klängen von Musik erfüllen." Wo? In jenen Wüsten der heutigen Provinz Sinkiang, die hinter der Stadt Lop liegen. "Erzähl mir eine Geschichte, egal, ob sie wahr ist", forderte eine der drei Frauen vom ruhelosen Erzähler und Helden Raoul Louper in Schrotts Novelle "Die Wüste Lop Nor"; "Erzähl mir eine Geschichte und mach', dass sie wahr ist", bat eine andere. Man kann es ihnen nachempfinden, denn diesen Geschichten, von denen "Khamsin" eine exemplarische ist, lauscht man gerne. "Der Ursprung der Zivilisation liegt in der Wüste", heißt es bei Schrott. Dort kreuzen sich, mag es scheinen, auch die Wege der Weltliteratur. Es ist kein neues, sondern altes Wissen, das weiter erzählt werden muss. Und Raoul Schrott, soviel steht fest, ist ein Mann des alten Wortes, kein Neutöner.

Zum Weiterlesen und -hören:
Raoul Schrott, Die Wüste Lop Nor. Novelle. Hanser Verlag, München 2000 (123 S.), als CD im Hörverlag, München 2000 (65 min.) - T. C. Boyle, Wassermusik. Roman. Rowohlt TB, Reinbek bei Hamburg 2001(20. Aulf., 712 S.) - Bruce Chatwin, Der Traum des Ruhelosen. Hanser Verlag, München 1996 (250 S.) - Bettina Feldweg (Hg.), Den Dünen entgegen. Geschichten für alle, die die Wüste lieben. Malik, München 2001 (319 S.)

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