Rezensionen von Barbara Siller
- Waltraud Mittich, Abschied von der Serenissima [Juli 2014]
- Gerhard Kofler, Das Universum der kostbaren Minuten / L‘ universo dei minuti preziosi
[Jan. 2014] - die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik. „Pressköter und Tintenstrolche!“ [Jan. 2014]
- Anna Maria Leitgeb, Mutter der sieben Schmerzen [Dez. 2012]
- Waltraud Mittich, Du bist immer auch das Gerede über dich [Juni 2012]
die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik. „Pressköter und Tintenstrolche!“ zusammengestellt von Sascha Feuchert und Jürgen Krätzer, 250. Band, Göttingen 2013 „Dass es Zeitschriften im Literaturbetrieb nicht leicht haben, ist eine Binsenwahrheit, und die Verluste sind inzwischen erheblich – andererseits gab es wohl kaum je zuvor so viele Neugründungen, ob auf Papier oder im Internet, oft auch beides“ (5), schreiben die HerausgeberInnen Sascha Feuchert und Jürgen Krätzer in der Einleitung zur Jubiläumsnummer die horen. Immerhin, diese renommierte Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik legt ihren 250. Band vor, Kurt Morawietz gründete sie 1955 in Hannover. Ihr Name geht auf die nach Schiller benannte Zeitschrift zurück, die ab 1795 für drei Jahre erschien. Dieser Band, der den Titel „Pressköter und Tintenstrolche!“ LiteraturZeitSchriften trägt, ist unterschiedlichsten – europäischen und auβereuropäischen – Literaturzeitschriften gewidmet, betrachtet ihre Entstehung, Entwicklung, oft auch ihren Untergang, stellt die Schwierigkeiten, auch Vorteile (und eben auch Nachteile) einer Zeitschrift gegenüber einem Buch dar, erzählt von individuellen Erfahrungen mit Literaturzeitschriften, von Leidenschaften und sogar von Abhängigkeitsverhältnissen. So mannigfaltig das Zeitschriftenspektrum, so vielseitig auch die Themen und Textsorten, die dieser über 300 Seiten reichende Band bietet. Von seiner persönlichen Annäherung an Literaturzeitschriften erzählt Günter Kunert. Er hebt „das haptische Moment“ (7) der Zeitschriften hervor, dem „etwas Wesentliches und Eindringliches“ (ebd.) anhaftet. Im Gegensatz zu Büchern haben Zeitschriften – dem Verfasser zufolge – auch eine gröβere Zeugnisfähigkeit, weil sie ihrer Zeit verhafteter sind und auch „Nebensächliche[m]“ (8) Raum geben. Persönlich sind auch die folgenden Beiträge, zusammengefasst unter dem Titel Nachgetragene Liebe. Konterbande. So geht Nadja Küchenmeister auf ihr Jahr 2004 ein, in dem die Literaturen sie monatlich begleiteteten. Die Literaturzeitschrift bildet ein wichtiges Forum für literarische Neuentdeckungen – Küchenmeister entdeckt W.G. Sebald und bleibt der Zeitschrift schon allein deshalb jahrelang treu. Die Auseinandersetzung mit alten Zeitschriften als eine Form aus der Zukunft in die Vergangenheit zu blicken, sieht die Verfasserin als eine weitere interessante Möglichkeit den Zeitschriften zu begegnen. Unter dem Titel Da ist das kümmerliche Wort von ‚Engagement‘... nehmen die Beiträge Bezug auf die politische und gesellschaftliche Haltung der Literarurzeitschriften. Rolf Schneider geht auf Karl Kraus‘ Die Fackel (1899-1936) ein, stellt seinen „lebenslangen Kampf gegen leeres Gerede und Geschreibe“ (34) dar und erwähnt seine Beurteilung der Neuen Freien Presse als „'Pressköter', 'Saupresse', 'Tintenstrolche'“ (35). Der Einfluss der Zeitschrift wird an Elias Canettis Titel des ersten Teils der Autobiographie Fackel im Ohr festgemacht, aber auch an der Zeitschrift Der Brenner, die sich an der Wiener Zeitschrift orientierte. Eberhard Sauermann widmet sich dem kulturellen Konzept der Zeitschrift Der Brenner, wobei er ihre konservativen und konventionellen Tendenzen sichtbar macht. Das geforderte „Zurück zur Natur“ (40) als literarisches Programm stellte sich gegen die Vernunft und in die Nähe der Religion. Auch wenn die Herausgeber Kontakt zu fortschrittlicheren Zeitschriften auβerhalb des Regionalraums pflegten, blieben die Inhalte insgesamt konservativ. Die in zwei weiteren Beiträgen vorgestellten Exilzeitschriften Neue Deutsche Blätter, Die Sammlung und Die Dschunke hatten zum Programm den „Kampf gegen das Nazireich mit publizistischen Mitteln“ (47), wobei Sascha Feuchert am Beispiel der letztgenannten aufdeckt, dass dies im Detail nicht immer ganz so zutraf. Unter ...natürlich wurde gestritten. berichtet u.a. Peter Härtling von seinen journalistischen Jahren mit Monat, von den wichtigen Erstübersetzungen vom New Yorker ins Deutsche (Hannah Arendts Eichmann-Buch, Saul Bellows Prosa) sowie vom Besuch von Jorge Luis Borges und Mary Hemingway in der Redaktion. Interessant ist auch der Beitrag zu den seltenen Ausgaben der Streit-Zeit-Schrift, 16 insgesamt, die zwischen 1956 und 1969 im Heinrich Heine-Verlag erschienen und an denen alles „ungewöhnlich“ (73) war: „der Titel, das Format, die Machart, und natürlich die Konzeption – die Lust an der Provokation, das Satirische und das Spielerische“ (ebd.). Der Abschnitt unter dem Titel aber ich kann nie bereuen es versucht zu haben beinhaltet u.a. Anton G. Leitners Erfahrungen als Lyrik-Verlegers mit den Lyrikern, die für ihn mit so manchen peinlichen, für den Leser allerdings unterhaltsamen, Momenten verbunden sind. Das Entstehen, Verschwinden und das Comeback der studentischen Zeitschrift metamorphosen in Heidelberg, dargestellt von Ingo Drẑečnik, zeigt, wie sich eine Zeitschrift im Laufe der Jahre wandeln kann und dass der gegenwärtige Markt für Literaturzeitschriften sich nicht ganz so wesentlich von dem vergangenen unterscheidet. Der Verfasser schlieβt: „Gerade in Zeiten des Online-Publishings und der E-Books ist das kaum zu erwarten gewesen und muss einem natürlich auch sentimentalisch einnehmen. Vermutlich ist die Markt-Situation von heute aber grundsätzlich gar nicht so anders als 1991, denn der Kreis der Leser von gedruckten Literaturzeitschriften war auch damals schon eng gefasst – und damit recht präzise kalkulierbar.“ (166) Heiko Strunks Beitrag zu lyrikline stellt die Besonderheit und Zentralität der Stimme beim Erleben von Lyrik in den Vordergrund und präsentiert das Konzept dieser auditiven online-Zeitschrift als „eine wachsende, vielbändige, mehrsprachige Anthologie“ (167). Ein weiterer spannender Teil der Ausgabe befasst sich mit Literaturzeitschriften im Ausland, u.a. mit der französich-maghrebinischen Zeitschrift Intersignes, mit griechischen und polnischen Zeitschiften, aber auch koreanischen und chinesischen. Dabei kommt bzw. kam neben der allgemeinen nicht immer einfachen Situation für literarische Zeitschriften hier so manches Mal noch die politische Dimension hinzu, d.h. lange Zeit die offizielle Illegalisierung von Zeitschriften, wie Juliana Kaminskaja am Beispiel der russichen Zeitungslandschaft darstellt. Unter Ein unerhört aufregender Gegenstand oder Stile und Schreibhaltungen findet man u.a. Michael Brauns Bericht über seine „Zeitschriftenjahre“ (264), die für ihn „die Ingredienzen eines privaten Bildungsromans“ (267) bilden, „der dem Verfasser immer neue Wissens-Räume eröffnet“ (ebd.). Kurt Drawert dagegen befasst sich mit der Bedeutung der Literaturzeitschriften heute und schreibt u.a., dass über deren Bedeutung nachzusinnen einschlieβt, „auch über die der Literatur nachzudenken. Denn wie könnte eine Zeitschrift wichtiger sein als das, was sie vertritt?“ (268) Die Ausgabe der Zeitschrift lässt im letzten Abschnitt Schiller zu Wort kommen. Er teilt in einem Brief seinem Verleger Cotta das Ende der Zeitschrift die horen mit und bittet ihn darum, „allen Eclat zu vermeiden“ (303). Abwechslungsreich, spannungsvoll und mit zahlreichen interessanten Einzelheiten präsentiert sich der 250. Jubiläumsband die horen. Ihm seien viele interessierte LeserInnen gewünscht! |
Anna Maria Leitgeb, Mutter der sieben Schmerzen Sich selbst erzählen lernen: Die kleinen Geschichten in Anna Maria Leitgebs Roman Mutter der sieben Schmerzen “Sie verstehe, sie müsse zu dem stehen, was gewesen war. Deshalb rede sie jetzt. Reden tue ihr gut“ (290), so die Worte aus der Perspektive der Protagonistin Hanna in Anna Maria Leitgebs Roman Mutter der sieben Schmerzen. Als Zugreisende erzählt sie ihre Lebensgeschichte im Rückblick und im Anschluss daran will sie „nur mehr aus dem Fenster schauen“ (299). Was sie erfahren hat, sind lieblose Zeiten, zwei Weltkriege, den Verlust ihres Mannes und beinahe aller Kinder, die Armut, wenig Unterstützung von Seiten der Mitmenschen, dagegen viel Entwürdigung. Sie ist mit zahlreichen Stigmata behaftet – ein außereheliches Kind von einem „Karrner“ macht sie im Südtiroler Dorf Stallbach zur Hure; nach dem Tod ihres Mannes, der, infiziert mit Tuberkulose und geplagt von zahlreichen unverarbeiteten Erfahrungen, vom Krieg heimkehrt, werden ihr die noch verbliebenen Kinder entzogen; mehrere sind bereits im Kindesalter verstorben. Auch den Kindern widerfährt nichts Gutes: Verachtung, Hungersnot, Misshandlung, Vergewaltigung. Martha nimmt sich schließlich selbst das Leben, Nannele stirbt im Heim an Bronchitis und Anton fällt während des Zweiten Weltkrieges in Finnland. Lediglich Kurt wird später mit Hilfe eines deutsch-englischen Paares ein Pharmaziestudium absolvieren können. Die Opferrolle der Mutter – der Titel deutet sie an – durchzieht den Großteil des Romans: In der Tat hat sie kein einfaches Leben. Doch Hanna wächst auch über diese Rolle hinaus: Sie reflektiert ihre Situation als Frau innerhalb patriarchaler Strukturen, die Sinnlosigkeit der Kriege und deren Auswirkungen auf ihre Familie, die Schmerzen, die ihr widerfahren und die, die sie bei anderen auslöst. Sie ist empfänglich für religiös und feministisch aufklärerische Ideen: Sie erkennt die Diskriminierungen des Katholizismus und beginnt sich ihnen zu widersetzen. Die religiösen Diskurse, die übernommenen und nie reflektierten Sprüche, die Gebete und Ausdrücke prägen den Text und werden von den Figuren immer wieder herbeizitiert. Doch Hanna beginnt zusehends, sich dieser ritualisierten Sprache zu entziehen und auch die Unsinnigkeiten so mancher Diskurse zu erkennen. Es bleibt jedoch eine Herausforderung für sie, dieser Sprache gänzlich zu entweichen, hat sie es sich doch zu lange darin eingerichtet. Sie ist beeindruckt von Maria Ducia, der Mitbegründerin der sozialdemokratischen Frauenbewegung Tirols und ersten Sozialdemokratin im Tiroler Landtag, der sie in Lienz begegnet und sieht in deren Worten eine Bestätigung der Richtigkeit ihrer eigenen “kleinfügigen” Rebellionen. Hanna weiß auch, dass sie künstlerische Fähigkeiten in sich hat und versucht sie – trotz aller Hindernisse – zu entfalten. Auf narrativer Ebene werden im Roman unterschiedliche Perspektiven eingeführt: Zunächst gibt es die Haupt-Erzählperspektive in der dritten Person, welche die Handlung aus der Sicht der Mutter Hanna schildert. Daneben kommen die Kinder Kurt, Martha, Nannele und der Vater Jakob in der Ich-Perspektive zur Sprache. Die Textteile werden voneinander abgetrennt, indem sie mit den Namen der jeweiligen Figuren gezeichnet werden und kursiv gedruckt sind: Allerdings ist nicht jede Sicht sprachlich und gedanklich überzeugend voneinander abgegrenzt; beispielsweise scheinen die Überlegungen Marthas mit jenen Hannas ziemlich genau übereinzustimmen und die Kinderstimmen muten insgesamt sehr erwachsen an, mit Ausnahme der Stimme von Nannele. Dennoch sind die unterschiedlichen Blickwinkel interessant, da sie einen Einblick in die schwierigen Verhältnisse von Kindheiten in Kriegs- und Nachkriegszeiten gewähren. Im letzten der drei Kapitel begegnet der Leser einer weiteren Perspektive mit dem Titel Fremde, die die Sicht des deutsch-englischen Paares, das sich aufgrund eines Forschungsprojektes in Südtirol aufhält und dort Kurt begegnet, in Briefform darstellt. Anna Maria Leitgeb lässt die Figuren eine umfassende Zeitspanne aus ihrem Leben erzählen: Die Geschichte beginnt in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und endet Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Der Handlungsort des Romans wechselt kaum, die Figuren bewegen sich bis zum Ende der Geschichte vor allem im selben Dorf bzw. Tal. Nur die Männer, die in den Krieg ziehen, erfahren Ortsveränderungen. Die Mutter hingegen verlebt ihr Leben im Dorf, erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges findet ein vorübergehender Ortswechsel nach Osttirol statt, wo sie ihre Schwester besucht. Auch ihr Sohn zieht schlussendlich aus dem Dorf weg. Neben den historischen Ereignissen, die der Roman erzählt, wird auch die Bedeutung der Erinnerung reflektiert: Schließlich ist der Text ein Erinnerungstext, wobei das Sich-Vergegenwärtigen im Roman Leitgebs in sehr engem Zusammenhang mit dem Trauern steht; es gibt im Text sehr wenige Erinnerungen an Positives. Die Protagonistin formt ihr Leben zu einer Geschichte und ist sich dessen bewusst, dass sie dabei selektiv vorgeht, Erlebnisse mit einbezieht und so manche andere ausspart: „Sich erinnern und erzählen sei dasselbe, wie eine Geschichte erfinden, einen Roman. Vielleicht habe das damit zu tun, dass man die Bruchstücke aus der Geröllhalde des Erinnerten erst zusammenflicken müsse. Sie fahre mit der Eisenbahn und erzähle dem, der ihn hören wolle, den Roman ihres Lebens. Was spiele da die Wahrheit für eine Rolle? Sie wisse es nicht. Es gebe viele Wahrheiten, so viele wie es Momente der Rückbesinnung gebe. Sie fahre bald jeden Tag und lege die Erinnerungsbruchstücke auf die Waage. Für die Leute sei sie die komische Alte mit den Geschichten, niemand nehme sie ernst. Aber sie könne nicht vergessen. Sie müsse erzählen, müsse das Gewesene ausspucken“ (86 ff.). Der Erinnerungsprozess wird als ein Erzählprozess verstanden, wie ihn Paul Ricoeur theoretisiert hat: Er hat erkannt, dass die Fähigkeit, sich selbst zu erzählen, auch bedeutet, fähig zu sein, sich selbst auf unterschiedliche Weise zu erzählen. Dies streitet der Erinnerung und den Erzählvarianten über das eigene Leben jedoch keineswegs ihre Wichtigkeit ab. So wie die Hauptfigur behauptet, sie habe die Pflicht, das Verlangen, zu erzählen, was für sie gewesen ist, weil ihr das “Reden gut tue” (290), sind die Erzählungen für das Verständnis des Ichs unerlässlich. Sprachlich sind die Reflexionen im Roman nicht immer angemessen formuliert: Beispielsweise wird das Erinnern mit vielen feinen Schichten “einem Backwerk aus Blätterteig nicht unähnlich” (156) verglichen – ein Vergleich, der sicherlich hinkt. Ebenso sind zahlreiche Metaphern und Vergleiche im Roman Leitgebs nicht überzeugend und häufig zu wenig ausdrucksstark. Beispielsweise, wenn es heißt: “Sie fing an, sich ein bisschen wie die Ente zu fühlen, die gegen die Strömung ankämpft” (26), “Er war einer, dem die größten Gemeinheiten leicht über die Lippen rutschten, glatt wie die Leiber in Öl ersoffener Nachtschnecken” (45), “Die Wut ist grüngallige Hundekotze” (85), “Da kam die Bombe: ‘Kurt, möchtest du mit uns nach England kommen?’” (257) oder “Die Stille, die entstand, war wie ein Gummiband” (297). Vergleichbar mit Leitgebs erstem Roman Der Boden unter den Füßen (2009) vervollständigt auch dieser Roman die „Geschichte“, wie sie in den Schulbüchern steht, durch die Geschichten der einfachen Menschen, die diese Zeit erlebt haben. Das macht letztlich den Wert des Buches aus. |
Waltraud Mittich, Du bist immer auch das Gerede über dich. Prosaband Tatsächlich, du bist immer auch das Gerede über dich. Sie denkt das. (94). Mit sie ist im Prosaband von Waltraud Mittich die Erzählerin gemeint, die sich im Postkriptum als "Moja, eigentlich Marie" (117), enthüllt. Das dich bezieht sich auf Hans Egarter (*1909 in Niederdorf, ┼1966 in Brixen), eine Figur des antinazistischen Widerstandes in Südtirol, vielfach unbekannt, bewusst ausgeklammert und vergessen. Da die Schuld und Mitschuld lieber verdrängt wird und weil Egarter dazu herausforderte, sich damit zu konfrontieren. Er legte ein Archiv an, in dem er alle Namen auflistete, "es ging ihm um eine Art kathartische Gerechtigkeit, Schuld und Sühne" (86), also um das Auffinden, Sichtbarmachen und Festhalten der Schuldigen. In 22 kurzen Kapiteln erfolgt eine Annäherung an die historische Person Egarter; gekonnt werden unterschiedliche Erzählperspektiven eingesetzt: Die Erzählerin beschreibt die Figur, tradiert historisch Festgehaltenes, sucht nach Tagebüchern und Geschriebenem, stellt Vermutungen an, führt einen fiktiven Dialog mit ihr, lässt sie selbst sprechen und schildert auch die Außenperspektive auf sie, eben das Gerede über sie. Mit 'Gerede' wird aber auch der Bezug zu einem – dem Band vorangestellten – Zitat von Martin Heidegger hergestellt, in dem 'das Gerede' als ein positives Phänomen erkannt wird. Egarter wird als eine Figur geschildert, die fortwährend auf der Suche nach Antworten auf die Fragen des Lebens, auf der Suche nach dem eigentlichen Sinn und nach sich selbst ist. Glücklich zu sein, dazu sind die Menschen nicht gemacht, sagt sie. Etwas, wofür es sich lohnt zu leben, danach sucht sie. Im Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Südtirol hat Egarter vermutlich diesen Sinn gesucht. Wiederholt taucht dieses vermutlich im Text auf, denn wie die Erzählerin den LeserInnen offenbart, haben wir ein Puzzle vor uns liegen und suchen nach Teilen. Nicht alle Teile sind vorhanden, einige sind verloren gegangen, nach einigen suchen wir lange und am Ende haben wir ein unfertiges Puzzle vor uns. Fehlinformationen und „stümperhafte Recherchen“ (45) gehören dazu, wie die Erzählerin klarstellt. Viele Facetten Egarters werden im Prosaband von Mittich nachgezeichnet: eine gebildete Mutter, die den Nachzügler Hans sehr liebte, ihren ersten Sohn, ein intelligentes und verunsichertes Kind, der frühe Verlust der Mutter, eine Kindheit ohne Vater, die katholische Sozialisation am Vinzentinum in Brixen und die vermutlich frühe Erfahrung des sexuellen Missbrauchs, die abnehmenden schulischen Leistungen und schließlich das 'Hinausgeworfenwerden' aus der Schule. Viele Demütigungen also, in der Kindheit und Jugend. Dann zunächst die Faszination für die nationalsozialistische Ideologie, für die Jugendbewegung der Wandervögel sowie für die Bücher von Hans Blüher - dies alles im Kontext von ungeklärten Fragen zur eigenen Sexualität. Daher wohl auch Egarters Gefallen an Rollenspielen, am erlaubten Hervorbringen anderer Seiten in sich, am Theaterspiel und auch am Kreieren von Rollen im Schreiben von Theaterstücken - ganz anders als im wirklichen Leben, wo Egarter seine geringe Achtung für Frauen und seine Vorliebe für Männer zu verbergen gelernt hatte. Seine Begeisterung für das schöne Wort, er soll 'ein Wörterfreak' (39) gewesen sein, wird im Text mehrmals betont, deshalb sein Gedichteschreiben. Die Brennende Liab ist der Titel eines seiner Gedichte, in dem er die rote Geranie als ein Zeichen der Treue, als ein Symbol für Heimatliebe und für einen starken Glauben beschreibt. Heimat war ein großes und schönes Wort für Egarter, und er stellte die Heimat in den Kontext von Glauben und Politik. Daher auch sein Gefallen an prunkvollen, 'verkleideten' Veranstaltungen, am "Spiel mit dem Wunderbaren", den Wallfahrten beispielsweise. Als die Erzählerin Egarter aus seiner Fotografie hervortreten und selbst sprechen lässt, sagt er: "Mein Einsatz fürs Dableiben war also auch einer fürs Wallfahren, aber doppelbödig hab ich diesbezüglich gelebt und agiert, und auch sonst." (58) Geschildert wird Egarters überzeugter Einsatz als Optionsgegner, indem er sich auch journalistisch betätigte, lange bevor ihn die Dolomiten 1955 aus der Bozner Redaktion ausschloss; dargestellt wird seine Arbeit im Andreas-Hofer-Bund, der bald zum offiziellen Partner der Allierten wurde, da er als österreichische Widerstandsgruppe gegen Hitler angesehen wurde. Auch seine Mitarbeit an der Gründung der SVP wird erzählt, der Partei, die ihn letztendlich misstraute und fallen liess. Eine Biographie der Ausschlüsse. Den Auftrag der Figur, ‚Sag ihnen allen, sag's deinen Zeitgenossen, sie sollen alles nachlesen.‘“ (69), nimmt die Erzählerin ernst. Immer wieder wird auf Foucault Bezug genommen, beispielsweise dann, wenn die Rede davon ist, „die Mechanismen des Vergessens und Verdrängens aufzudecken“ (117 ff.) oder auch in der Textstelle: "Wie ein raüdiger Hund wurde Hans Egarter weggesperrt." (96) Dieses Wegsperren, um zu verdrängen. Der Prosa vorangestellt ist das Zitat von Pierre Vidal-Naquet: "Die Geschichte ist etwas zu Ernstes, um sie den Historikern zu überlassen." Vidal-Naquet hat 1971 gemeinsam mit Foucault und Jean-Marie Domenach die Groupe d'Information sur le Prisons gegründet. Es ging ihnen um das Weggesperrte. Gegen Ende der Prosa wird aufgezeigt, wie die Südtiroler Gesellschaft aus dieser Zeit sich Egarter gegenüber verhielt: Egarter wurde im Alltag ausgegrenzt und bespottet, seine vermutete Homosexualität wurde zum Anlass von Beschimpfungen. Das 'braune Gesindel' kehrte wieder zurück, die 'Nazis saßen bald alle wieder in allen Amtsstuben' (96) und es ist die Rede von der Umkehrung der Werte. Mittich legt mit diesem Band eine sprachlich und inhaltlich vielschichtige Prosa vor. Das nicht vergessende Erinnern ist der Erzählerin Moja wichtig, denn wie sie zurecht behauptet, gibt es auch ein Erinnern, das (bewusst) vergisst. |