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Forschungsinstitut Brenner-Archiv

Rezensionen von Sylvia Tschörner


   

 
Helmuth Schönauer, Durnitalien: Südtiroler Provinzroman

Innsbruck-Wien: Kyrene, 2012

Zwei Kapitel lang sieht es fast so aus, als ob Durnitalien wirklich ein Roman sei - ein satirischer Roman, wie der Untertitel suggeriert, und wie man es sich von Helmuth Schönauer erwartet.
Drei Nordtiroler Schützen, Klachelberger, Gupf und Gitzler, sind in ihrem Vereins-Audi (mit der sprechenden „Kartoffelnummer“ IL-PUFFN1) unterwegs zum Südtiroler Landeshauptmann Luis Durnwalder. Da sie nahe der österreichisch-italienischen Staatsgrenze einen Unfall haben, übernehmen drei gleichnamige Südtiroler Kollegen die Aufgabe, für eine Gedenkfeier zum „zweihundert-ixten Todestag“ des Widerstandskämpfers und Tiroler Nationalhelden Andreas Hofer eine Förderung zu beantragen. Als Höhepunkt der geplanten staatsübergreifenden Festlichkeiten ist eine „feierliche Hinrichtung“ geplant. Bei dieser „Parallelaktion“ der Brüder im Norden und jener im Süden handelt es sich natürlich, wie bei Musil, um Schaumschlägerei, denn die Todesstrafe ist in Italien seit 1948 und in Österreich seit 1968 abgeschafft. Trotzdem bekommen die drei „Sydis“, nachdem sie das im Landhaus übliche Arschkriech- und Speichelleck-Ritual vollzogen haben, die gewünschte Subvention zugesagt.
Klachelberger, in Kapitel 1 als „Oberschütze des Trios“ Zielscheibe des Spotts, lebt in der „Sonnensiedlung“ St. Querenten, Nordtirol, einer Gemeinde, die es nicht gibt, weshalb der Leser ihn gedanklich im bekannten „Sonnendorf“ Terenten, also in Südtirol, ansiedelt. Andererseits wohnt er am Innsbrucker Mitterweg, dem Schönauerschen Anti-locus-amoenus, und vertritt im Lauf des Buches zunehmend Ansichten seines geistigen Vaters, wodurch er zu einer Art Alter Ego desselben gerät bzw. mit ihm verschmilzt. Schönauer erteilt also dem Identitätsprinzip  (A=A), dem Prinzip der Nichtwidersprüchlichkeit (A kann nicht A sein und gleichzeitig nicht sein) und dem Prinzip des ausgeschlossenen Dritten (A ist wahr oder falsch, tertium non datur) und damit dem abendländischen Rationalismus eine Absage. Ähnlich verfährt der Autor mit real existierenden Prominenten: Felix Mitterer tritt auch als Grasserer, Sabine Gruber als Bettina Gruber und der Landeshauptmann des Trentino, Lorenzo Dellai, als Delli oder Trienti auf. Postmoderne „Auflösung des Subjekts“ oder Irreführung von Juristen durch einen „gerichtlich anerkannten Schriftsteller“ (ipse dixit) ist hier die Frage.
Abgesehen von den Eingangskapiteln besteht der Text aus aneinandergereihten Aperçus, die einer Reihe von – oft ungenannten – Personen in den Mund gelegt werden - Satire im ursprünglichen Wortsinn - ein Mischmasch von Dingen über die gespottet wird, wie z.B. über die Sendung Südtirol-Bild:
[...] schon die Signation hat es in sich, über die bulimitische Moderatorin zieht in Flaggengestalt ein roter Adler, der auf der Flucht ist. Er wendet sich an das Publikum, flehentlich, ihn nicht zu verjagen, denn das Wappentier ist irgendwo in Saint-Germain gerupft worden und an den Schenkeln angebraten. Die Stimme des Adlers hat den verruchten Sound des Landeshauptmanns, der Adler ist ein Vorspann in Farbe, Rauch und Gefledder, wie man gleich sieht. (S. 32)
Im Zentrum steht natürlich „Durni“:
Aber schon wenn der Mund aufgeht, ist allen klar, hier spricht der BOKU-Spezialist, der die Heimat in Grund und Boden verwaltet und sie liebt über alle Moden und Microsoft-Betriebssysteme hinweg. (S. 33)
Bei Durni ist es sicher das Aussitzen, das alle Aktivitäten überstrahlt. An manchen Tagen handelt es sich bei dieser Politik um bloße Schwerkraft, selbst der Widerstand ist zu müde, eine Rede zu halten, eine Waffe in die Hand zu nehmen oder wenigstens einen Furz zu lassen. (S. 146)
Durnis und „Plattis“ (d.h. LH Günther Platters) Lieblingsprojekt ist der Brenner-Basis-Tunnel, dessen Bau sich als eine Art mythisches – und dennoch sattsam kommentiertes - Geschehen jenseits der Wahrnehmung der Bevölkerung vollzieht:
[...] denn wer nie sichtbar ist, muss ständig in Pressekonferenzen darauf hinweisen, dass was los ist, dass es Löcher gibt, Lüftungsschächte und Bohrungen allenthalben. (S. 42)
Das Innsbrucker Literaturhaus/Brenner-Archiv wird aufgrund der dort befindlichen Nachlässe, Vorlässe und Sammlungen als „Gruft im zehnten Stock“ (S. 102) bezeichnet.
Zum Abschluß noch einige von Schönauers netteren bösen Auslassungen:
Über Praktiken des Literaturbetriebs:
Der größte Vorlasser des Landes ist Zoderer, dicht gefolgt von Tumler, der allerdings wenigstens anstandshalber gestorben ist und so den Vorlass tatsächlich in einen Nachlass verwandelt hat, auch wenn es seine Witwe nicht wahrhaben will. (S. 105)
Und über Schriftsteller-Kollegen:
Die meisten Sydis schreiben so dünn, dass man selbst bei langsamem Blättern in einer Viertelstunde durch ist. (S. 111)
Die aktiven Schriftsteller haben indes das Schreiben eingestellt oder schreiben nur noch Krimis für den Haymon, was quasi für den Hugo ist. (S. 106-107)
Auch für andere Zwerge, möchte man hinzufügen. 

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Otto Licha, Geiger

Hohenems, Limbus, 2008

Geiger ist nach Rand der Berge (1990), Die Begegnung (2003) und Zuagroaste (2005) das vierte Buch von Otto Licha, der in seinen diversen früheren Leben auch ein brillanter Physiker, Computer-Fachmann, exzellenter Musiker, Liedermacher und Autor etlicher ebenso engagierter wie sehenswerter Dokumentarfilme war und – akzentfrei (versichern Muttersprachler) - mindestens vier Fremdsprachen spricht. Ein barockes Universalgenie sozusagen.
Sein neuer Roman ist u.a. ein Versuch, Ereignisse aufzuarbeiten, die zur Zeit des Nationalsozialismus und danach in Innsbruck stattgefunden haben. Erzählt werden, z.T. in Flash back-Technik, die Geschichten von David Lehar und einer ganzen Reihe anderer Personen, mit denen dieser und sein Sohn Simon in Kontakt kommen.
Der Roman beginnt im Jahr 1959 mit der Anmeldung des Sechsjährigen in der Musikschule. Der hochbegabte Simon soll erreichen, was sein Vater nicht geschafft hat, weil er vor den Nazis nach Italien (und dann weiter nach Tanger) fliehen musste und sich bei dem Übergang ins Pfitscher Tal Erfrierungen zuzog, die seinen Lebenstraum, Geiger zu werden, zunichte machten. Simon erreicht dieses Ziel, allerdings auf Kosten einer unbeschwerten Kindheit. Schwere Depressionen im Erwachsenenalter machen lange Aufenthalte in der psychiatrischen Klinik nötig. Schließlich gibt er seine Karriere als Konzertgeiger auf. Im zweiten Teil des Buches versucht er, zumindest teilweise nachzuholen, was er in seiner Jugend versäumt zu haben glaubt; er liest, lernt Italienisch und versucht in Erfahrung zu bringen, was seinem Vater und einer Reihe anderer Personen nach dem Anschluß an das Dritte Reich widerfuhr. Er grübelt über Langzeitfolgen von traumatischen Erlebnissen, mit denen sich die Überlebenden herumschlagen mussten, und die manchmal, wie in seinem Fall, sogar auf die nächste Generation weitergewälzt wurden. In Italien schließt er neue Freundschaften, bekommt bei den alten Bekannten seines Vaters Informationen, die ihn in seinen Erkundungen und menschlich weiter bringen und ihm helfen, „mit [s]einen Ursprüngen [...] ins Reine“ zu kommen (S. 263).
Ein Nicht-Tiroler wird Geiger als ebenso spannenden wie berührenden historischen Roman lesen und zudem viel Interessantes über Musik erfahren. Er wird beeindruckt sein, wie akribisch recherchiert wurde: „Simon blickte [...] in Richtung Patscherkofel. Er konnte ihn nicht sehen, weil ein Haus davorstand.“ (S. 217) Irgendwie drängt sich mir im Zusammenhang mit Lichas Erzählweise der Terminus  „Hyperrealismus“ auf: Die geschilderte Wirklichkeit mutet zeitweise geradezu phantastisch an. Für den Innsbrucker Leser wird dieser Eindruck noch dadurch verstärkt, daß der Autor einige wenige fiktive Figuren unter viele reale, z.T. prominente Personen gemischt hat, die sich an Orten aufhalten, Veranstaltungen besuchen und Dinge erleben, die der Leser ebenfalls kennt. Die Erzählung entwickelt sich parallel zu dem, was er selber erlebt hat, und so ist er ständig versucht vorauszublättern, ob er sich nicht vielleicht auf der nächsten Seite selbst begegnet.
Eine interessante Leseerfahrung also. Wenn ich eine Germanistin auf der Suche nach einem Diplomarbeitsthema wäre, würde ich diesen Roman zusammen mit Christoph W. Bauers vor kurzem erschienenem Graubart Boulevard besprechen. 
 

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Manfred Schild, Abgetaucht
Fischer Bühnenverlag, 2008 
 

Anlässlich der Übersetzung von Manfred Schilds Abgetaucht (Fischer Bühnenverlag) ins Tschechische 
 

Am 18.4.2008 wurde Manfred Schilds Theaterstück Abgetaucht in tschechischer Übersetzung in Bratislava vorgestellt – ein guter Anlass für eine Besprechung und eine kleine Werkschau des Dramatikers.
Der Autor wurde 1968 in Innsbruck geboren, studierte Regie am Salzburger Mozarteum, war Regieassistent und Regisseur am Tiroler Landestheater und ist designierter Leiter des Innsbrucker Kellertheaters.
Schild verfasste Theaterstücke, Hörspiele und - gemeinsam mit Thomas Gassner - den Roman Schrott & Korn. Seine Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet (u.a. durch das Förderstipendium des Landes Tirol für Literatur und den Preis der Stadt Innsbruck für dramatische Dichtung).
In seinem ersten Bühnenstück Zwischen Morgen und Mir (1D, 1H, UA frei) geht es um zwei Leute, die die Entdeckung machen, dass sie HIV-positiv sind, und um ihre Reaktionen auf diesen Sachverhalt.
Morgen mein Meister (1 D) wurde 1998 im Theater im Pub in Bruneck uraufgeführt. Beatrix bereitet sich auf ein entscheidendes Treffen mit dem Consulting-Berater ihres Chefs vor. Sie hat die herrschende Machbarkeits-Ideologie und die Werte der Yuppie-Kultur so verinnerlicht, dass ihr angesichts ihres Versagens vor den an sie gestellten Anforderungen nur der Weg in den Selbstmord bleibt.
Schilds Decamerone (4D, 4 H, UA frei) ist eine sehr freie und höchst originelle Boccaccio-Adaptation mit Liedern, zu denen Christian Wegscheider die Musik geschrieben hat. Der Dramatiker ersetzt die ursprüngliche Rahmenhandlung von der onesta brigata, die sich aus Furcht vor der Pest in ein Landhaus zurückzieht, durch eine Art Faust-Geschichte: Ein Boccaccio-Forscher wird nachts im Park von einer wunderschönen Frau am Selbstmord gehindert. Sie ist eine Allegorie seiner eigenen Lebenszeit und führt ihm das Werk, über das er sich habilitiert hat, vor. Die ausgewählten Geschichten sind so verknüpft, dass sich größere Handlungsbögen ergeben und dass jeder Schauspieler mehrere Rollen spielen kann. Am Ende findet ein Gericht über einen das (unmenschliche) Gesetz verkörpernden Richter statt, der während des Schluß-Vaudevilles (zum Thema Carpe diem) von der Lebenszeit abgeschminkt wird und sich als der Dozent der Rahmenhandlung entpuppt.
Im Gegensatz zu den anderen Stücken des Autors scheint die Komödie Wallstreet, Windel, Werkzeugkiste (UA Westbahntheater Innsbruck, 2007) nicht im Verzeichnis des Bühnenverlags Fischer auf. Es ist eine Monologie für einen männlichen Schauspieler und zwei Musiker, die auch die Rolle des Chors übernehmen. Der Plot ist die Geschichte eines „neuen Vaters“, die auf sehr unterhaltsame, aber auch besinnliche und keineswegs clichéhafte Weise erzählt wird.
Schilds bislang bestes Stück ist Sitzfleisch (1D 4 H bzw. 2H,  UA Tiroler Dramatikerfestival und Bierstindl Innsbruck, 2007). Es handelt von einem Wettsitzen auf Gartenmöbeln, das aus Marketing-Gründen stattfindet. Das „Comic in unlustigen Zeiten“ rechnet mit der Leistungsgesellschaft und Auswüchsen der Gewinnorientierung ab, und das mit unvergleichlicher Situationskomik und einer sprachlichen Brillanz, die den Autor aus meiner Sicht zur Nummer eins unter den ortsansässigen Dramatikern macht.

Das Bühnenstück Abgetaucht (1 D, 2 H) basiert auf dem 2001 im Innsbrucker Treibhaus vorgestellten Drama Zweifelhaft. Es wurde in seiner endgültigen Fassung 2003 in Bielefeld uraufgeführt. Abgetaucht spielt in der Herrentoilette eines großen Industrieunternehmens, in der ein Mann und eine Frau aufeinandertreffen. Beide befinden sich in einer existentiellen Krisensituation. Er ist der Chef der Firma, die er selbst aufgebaut hat, (57) und leidet offensichtlich unter Burn-Out; sie ist eine Blumenverkäuferin, eine grundsätzlich vernünftige, pragmatische Person, der soeben das Pech widerfahren ist, ihren Ehemann in flagranti mit einer anderen zu ertappen. Die dritte Figur ist der Wachmann Otto, ein Boxer, der seine Lizenz verloren, aber dann ein bürgerliches Auskommen gefunden hat, und insgeheim davon träumt, die Rolle eines Retters der Welt zu spielen. Die Titelmelodie des US-Agententhrillers Mission Impossible (Brian de Palma, nach der Fernseh-Krimi-Serie Kobra übernehmen Sie), die er mehrmals pfeift, hat die Funktion eines Leitmotivs.
Formal bewirkt Ottos Auftritt einen Bruch mit der bisherigen Erzählstrategie und eine Absage an den Naturalismus: Er hält lange Monologe, die im Gegensatz zu jenen der anderen Figuren an keinen Zuhörer gerichtet sind, und spricht eine Kunst-Sprache. Ein real existierender Ex-Boxer und Nachtwächter würde wohl kaum zwischen Metaphorik und Fäkalsprache angesiedelte Aussagen wie die folgende machen: „Ich spül mich jetzt durchs Klo, und im Klärwerk sollen die klären, was mit einem Stück Scheisse wie mir geschehen soll.“ (45)
Sein Auftritt ist außerdem der Auftakt für einen Genre-Wechsel. Über das Stück, das bisher nach dem Schema Schicksalshafte-Begegnung-macht-aus-zwei-vom-Leben-Geschlagenen-ein-geläutertes-neues-Paar ablief, legt sich unmerklich die Folie des Genres Agentenfilm, von dem Schild verschiedene Motive übernimmt: So stellt sich heraus, dass Erich in Wirklichkeit Georg heißt, und seine Erschöpfungs-Depression nimmt urplötzlich die Züge einer dämonischen Besessenheit an: Erich beschließt überraschend, eine Aussteiger-Utopie zu verwirklichen, der er seine 374 Angestellten zu opfern gedenkt, was Otto im letzten Moment verhindert, indem er ihn erschießt. Die gefährlichen Pläne des Unternehmers sind in seinem Laptop gespeichert. (Auch in Mission Impossible spielt ein Laptop als Aufbewahrungsort geheimen Wissens eine Rolle.) Dergleichen so umzusetzen, dass der Film (oder das Genre) im Spiel als solches erkennbar oder persifliert wird, ist zweifellos eine reizvolle Aufgabe für einen Regisseur.
Die in Abgetaucht angeschnittenen Themen kommen auch in Schilds anderen Werken zur Sprache. Eines ist die Einsamkeit des einzelnen in Paarbeziehungen, Familien oder inmitten seiner Arbeitskollegen. Ein anderes ist die – in den Augen seiner Figuren - zunehmende Verkomplizierung der Welt: „Da denk ich dann daran [...] wie Menschen wie Sie an einer Welt herumschrauben, die ich nicht mehr verstehe,“  sagt Otto, (64) und selbst der Unternehmer Erich meint: „Und irgendwie stehe ich da jeden Tag dazwischen mit einem Kopf, in den das alles nicht mehr hineinpasst, der dieses Tempo nicht mehr denken kann.“ Schilds Hauptthema ist die Entmenschlichung der Welt, an der bei ihm einseitig die Mächtigen schuld sind, meistens Wirtschaftsbosse wie Erich/Georg, der Meister, die Leute von Globl Mogl (Sitzfleisch). Während die beiden letztgenannten nur die Fäden im Hintergrund ziehen, wird dem grausamen Vater in Boccaccios Herzmäre eine Ehefrau zur Seite gestellt, wodurch das inzestuöse Motiv, das den Mord am Liebhaber der Tochter bei dem Renaissancedichter verständlicher macht, wegfällt. Der Unternehmer Erich gibt sich zwar kurzfristig jovial; aber als sich ihm die anderen nicht blind unterordnen, mutieren sie augenblicklich zu Wichsern (62), Neandertalern (64), Versagern (67) etc. „Weil ihr nichts seid ohne mich. Also leck mir gefälligst die Stiefel und halt’s Maul.“ (67) Schlecht kommt auch der ursprünglich nur sich selbst schädigende Intellektuelle in der Rahmenhandlung des Decamerone weg, der dann im Stück zu einem unmenschlichen, lebensfeindlichen Richter mutiert.
Schilds Lösung ist weder der Widerstand des einzelnen noch Solidarisierung zwecks gemeinsamen Handelns. Sie ist eine schildkrötenhafte Hartnäckigkeit im Verfolgen von Zielen, wobei vermieden wird, an den Strukturen des Systems Anstoß zu nehmen und Carpe diem bzw. kurzfristige Grenzüberschreitung – nicht als ethische Grundhaltung, sondern als eine Form von Eskapismus:

Otto: „Wenn du aufrecht keine fünf Schritte weiter kommst, dann musst Du dich eben umdrehen und Arsch voran drei weiterzuckeln“ (58)
Hanna: „Da fährt dir ein Gedanke in alle Knochen: Ich verliere mein Leben. Aber du stirbst nicht, sondern spürst nur, wie wertvoll dir dein Leben ist und wie gern du es lebst, weil sonst hättest du ja nicht Angst haben müssen, es zu verlieren. Und wenn du dieses Urgefühl wieder spürst, dann kannst du wochenlang weiter in der Tretmühle treten, weil du weißt: ich finde mein Leben schön.“ (27)

Das ist, philosophisch gesehen, ebenso unhaltbar, wie in der Praxis richtig. Und: Weisheit klingt immer etwas banal. 
 
 

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Elmar Drexel, 
Die silberne Gasse
Hohenems: Edition Portus-Bucher, 2007 

Die silberne Gasse ist die erste Buchveröffentlichung des bekannten Tiroler Regisseurs, Schauspielers und Theaterleiters Elmar Drexel, der sein literarisches Talent schon verschiedentlich unter Beweis gestellt hat. Man denke an seine Bühnenadaptation von Mitterers Piefke-Saga für zwei Schauspielerinnen (UA Innsbruck, Bierstindl 2002), das Libretto zu einem Musical gleichen Namens (Musik Gregor Marini, UA 2005 Schwaz) und den 2004 an eben diesem Ort präsentierten Text Kellertheater.
Der bibliophile Band enthält drei Erzählungen, deren erste, Die silberne Gasse, von der Rückkehr des Protagonisten in das Haus seiner Großeltern handelt, in dem er als Kind Sommer- und Winterferien verbracht und das er vor kurzem geerbt hat. Während er durch die Räume wandert, werden Erinnerungen an Großeltern und Tanten, Mythen, Gewohnheiten und Zeitvertreibe der Familie lebendig, bleibt er an Keramik-Negerinnen, afrikanischen Holztieren und zwei Märchenbildern hängen, deren grotesk-laszive Erotik auch den Erwachsenen seltsam berührt. Die Großmutter und ihre sechs Töchter, die ihrerseits Mädchen in die Welt setzten und ihre Männer als Kasperln, Tanzbären und Vorzeigeaffen betrachteten, die entsorgt und ausgetauscht werden, wenn sie verbraucht sind, (S. 35) evozieren einen Bienen- oder Wespenstaat, und der Protagonist erscheint wie ein stachelloser, kleiner Drohn, der aus einem versehentlich unbefruchtet gebliebenen Ei geschlüpft ist. Die Erinnerung an die Vorbereitungen zu gemeinsamen Theaterbesuchen - narzißstischen Orgien, die viel wichtiger waren als die Aufführung - lässt ihn schließlich den Entschluß fassen, sich mittels Verkaufs von seinem Erbe und den damit verbundenen Verstrickungen zu befreien.
Im Zentrum der zweiten Erzählung, Karina, stehen ein junger Mann, der alle Grenzen sprengen und alles Denkbare denken, erleben und ausprobieren möchte, und ein Mädchen mit klar umrissenen, kleinbürgerlichen Vorstellungen von Glück. Dennoch ist ihre Beziehung nicht so problematisch, daß ein Selbstmordversuch, den sie unternimmt, nicht völlig überraschend für ihn käme. Der Abschiedsbrief an ihre Eltern wird ihm vorenthalten; eine Reihe von Rückblicken ergibt keine Anhaltspunkte, warum sie das getan hat. Dabei haben die beiden immer geredet. Es geht also um Kommunikationsdefizite, die gerade beim Reden entstehen; weiters um den Mangel an Proportion  zwischen der Verzweiflungstat und den Reaktionen einer mit sich selbst beschäftigten Außenwelt, die sie als lästig oder gar als Zumutung empfindet. Die Relativität und Banalität menschlicher Gefühle wird offenbar, wenn der jungen Frau bereits zwei Tage nach dem missglückten Suizid ihre Beweggründe abhanden gekommen sind:
„Und bist du jetzt nicht froh, daß du lebst?“
„Doch!“, sagte sie fröhlich.
In der dritten Geschichte, Das gebrochene Herz, geht es um die platonisch-heroische Liebesgeschichte eines Schülers. Der (auch hier nicht genannte) Protagonist betet seinen Schulkollegen Gustav an, der ihm vor allem im sozialen Bereich überlegen ist und der seine diesbezüglichen Fähigkeiten auslotet, wenn die beiden in Gesellschaft anderer sind. Von den Eltern organisierte Lerngemeinschaften und die Lendenstolz-Rivalität seines Vaters, der „nur“ Gymnasiallehrer ist, mit Gustavs Vater, einem Professor an der Universitätsklinik, machen dem Sohn das Leben zusätzlich sauer. Eine unerwartete Lösung ergibt sich, als sich der Protagonist Jahrzehnte später einer Herzoperation unterziehen muß, die ausgerechnet Gustav durchführen wird. In dieser existentiellen Situation kommt genau jene Nähe auf, nach der er sich bis dahin gesehnt hat.
Formal gesehen besteht die Geschichte, wie auch die beiden anderen, aus einer Rahmenerzählung, in der das eigentliche Geschehen stattfindet, und jeweils einer Reihe von Rückblicken. Reflexionen nehmen mehr Raum ein als Dialoge. Drexel verzichtet auf Sensationelles, Spektakuläres und auf laute Töne: die Selbstmordgeschichte wird bezeichnender Weise nicht aus der Sicht der Person erzählt, die ihn begeht und auch nicht aus jener eines Menschen, der sie liebt. Drexel blufft nicht, weder inhaltlich noch sprachlich; er meidet Manierismen und setzt umgangssprachliche Ausdrücke – man ist versucht zu sagen: ordentlich - in Anführungszeichen, was einen gewissen Eindruck von Bedächtigkeit vermittelt, der dann jäh in Brüche geht angesichts von glücklichen Formulierungen wie dem pubertären „kopflosen Flügelschlagen, das irgendwo ein Astloch suchte.“ (S. 76)
Ein gelungenes Debüt, dem hoffentlich weitere Bücher folgen werden. 
 

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Felix Mitterer, Stücke 4
Innsbruck: Haymon, 2007, 450 S. 

Der vierte Sammelband von dramatischen Werken des Tiroler Autors Felix Mitterer enthält sechs Theaterstücke und zwei Libretti aus den Jahren 1999 bis 2006, eine Einführung des Dramatikers zu jedem Werk und einen Bildteil mit Photos von den Aufführungen. Einige der Texte (Tödliche Sünden, Mein Ungeheuer, Gaismair, Johanna oder die Erfindung der Nation, Die Beichte sind bereits früher in Buchform beim Haymon-Verlag erschienen.
Die sieben Einakter „Tödliche Sünden" (UA Tiroler Landestheater, 1999, Regie Torsten Schilling) wurden auf Anregung des Schauspieldirektors des Tiroler Landestheaters Dietrich W. Hübsch für ein grenzübergreifendes Projekt verfasst, in dessen Rahmen auch die Todsünden-Versionen von Franz Kranewitter und Bertold Brecht/Kurt Weill aufgeführt wurden. Mitterers Zyklus spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft. Die einzelnen Episoden sind in einer von einem Konzern namens Fairyland digitalis beherrschten Außenwelt verortet, die sich nur in Gestalt von Moderatoren von Talkshows und Reality-TV, missionierenden Sektenangehörigen, Postboten, die Keiler-Gewinne bringen und Telephonsex-Kunden einschaltet. Der Austausch zwischen dem (mehr oder weniger gleichbleibenden) Personal der Stücke und den Menschen jenseits der Lichtschranken, die die Bühne begrenzen, besteht in der gegenseitigen Wunsch- bzw. Triebbefriedigung. Dramaturgisch schafft das Spiel im Spiel eine interessante Doppelbödigkeit; Gags, die auf das Konto derer da draußen gehen, sorgen für unerwartete Peripetien.
Mitterer definiert den Begriff der Sünde als „ein unsolidarisches Verhalten dem Mitmenschen und der Gesellschaft gegenüber“ und löst ihn aus dem kirchlichen Kontext - was eine weise Entscheidung ist, weil die Aufklärung und die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung den Bereich dessen, was uns heute als sündhaft gilt, stark eingeschränkt haben. Mancher, der im Mittelalter als träge bezeichnet worden wäre, würde in unseren Tagen wegen Depressionen behandelt werden, Formen von „Unzucht“ gelten als normale Sexualpraktiken und eine gewisse Dosis von „Hoffart“ als gesundes Selbstvertrauen. Mitterer versucht deshalb innerhalb des Geltungsbereichs der alten Todsündenbegriffe Haltungen und Verhaltensweisen zu finden, die auch ein einigermaßen toleranter, aufgeklärter Mensch von heute verurteilen würde. Z.B. attackiert er in der Episode Hochmut übermäßigen Ehrgeiz in Verbindung mit der modischen Machbarkeitsideologie - eine moderne Form von Hybris. Das funktioniert bei einigen Todsünden, aber nicht bei allen. Wenn Unzucht nicht mehr schlicht und einfach mit Sex gleichgesetzt wird, kommen andere als moralische Bewertungs-Kriterien ins Spiel. Z.B. ästhetische: Mitterers gehäuften Tabubrüchen fehlt die Attraktivität. Das ist vermutlich nicht seine Schuld, sondern die, daß Sünden, die andere begehen (sofern nicht Voyeurismus oder, im Fall von Pornographie, Identifikation ins Spiel kommt) gänzlich unattraktiv für uns sind. Wir empfinden ja auch die Schilderungen bei Petronius, Casanova, De Sade oder – um ein aktuelles Beispiel aus der Welt der Bühne zu bringen – das andauernde Kopulieren und Masturbieren in Luk Percevals Moliere. Eine Passion bei den Salzburger Festspielen 2007 als fad und peinlich.
Ein anderes Problem ist unsere veränderte (d.h eine zunehmend systemische) Wahrnehmung von Schuld. Das anorektische Kind in Unmäßigkeit erscheint uns genauso wenig verantwortlich für sein krankhaftes Verhalten (ein Übermaß an Askese), wie die Mutter (vor deren Culpabilisierung bereits Laing warnte), wie der zweifellos egozentrische Vater, der Familienmythos „Wir sind eine glückliche Familie“ (den Selvini-Palazzoli oder Watzlawick verantwortlich machten) oder die „böse“ Gesellschaft jenseits der Lichtschranken, die ihm ein fragwürdiges Schönheitsideal vorgibt. Mitterers Maxime: „Die eigene Sünde richtet sich auch gegen einen selbst. [...] Die Bestrafung erfolgt schon hier und jetzt“, ist zwar problematisch, wenn man die Sache philosophisch betrachtet, sorgt aber im Kontext des Stücks für wirkungsvolle Episoden-Schlüsse.
In dem Hörspiel „Mein Ungeheuer“ (ORF 1993, UA der Bühnenfassung bei den Tiroler Volksschauspielen in Telfs, 2000, Regie Elmar Drexel) sind Fakten aus Mitterers Familiengeschichte verwoben. Es handelt von zwei Menschen, die einander hassen, zerfleischen und doch nicht von einander lassen können. Beide - Blaim/Zach und Julie/Rosa - haben kein Elternhaus gehabt, sind abgebrüht und dabei extrem liebesbedürftig. Er ist ein arbeitsscheuer Luftikus, „a bißl a Hallodri“, aber „lustig und kreuzfidel“ und beliebt bei den Leuten. Sie ist es gewohnt, wegen ihrer roten Haare verspottet zu werden und deshalb eine leichte Beute für ihn. Ihre ersten drei Kinder kommen tot zur Welt, weil Blaim seine Frau verprügelt, wenn er getrunken hat. Er läßt sich aushalten, während sie für fremde Leute arbeitet, einen Grund erwirtschaftet, ein Haus baut und die überlebenden Kinder zu ordentlichen Menschen erzieht. Irgendwann entdeckt sie, daß sie zurückschlagen und Blaim durch ihr Schweigen quälen kann. Die Ehe-Hölle wird nicht einmal durch seinen Erstickungs-Tod bei einem Hausbrand, den sie nicht verhindert, beendet. Erst, nachdem sich beide durchgerungen haben, einander zu vergeben, finden sie Ruhe.
Motive, die sich auch in den Märchen vom Froschkönig, in Peraults La belle et la bête und in Hartmanns  Dichtung vom leprakranken Armen Heinrich finden, verquickt Mitterer mit der Geschichte einer zerstörerischen Paarbeziehung (Stichwort: Kollusion) im bäuerlichen Milieu. Eigentlich müßte man als Ästhet und als Feministin protestieren, wenn Julie am Ende des Stückes in einem Akt der Versöhnung, den würmer-überlaufenen Leichnam zu sich in Bett nimmt. Man müßte es aufgesetzt finden, wenn Blaim in die Rolle des Kindes und sie in die seiner Mutter schlüpft und beide auf diese Weise das Trauma des Verlusts dieser Mutter wie in einer therapeutischen Psycho-Drama-Sitzung ausagieren. Aber die Feministin regt sich nicht, weil Mitterer es in diesem, im wahrsten Sinn des Wortes mörderischen Spiel, fertig bringt, im Zuschauer tiefe Anteilnahme für beide Protagonisten zu wecken und bewußt zu machen, daß sie bei aller Grausamkeit und allem Unmenschlichen, das sie einander antun, Opfer einer Art Erbsünde sind, die an ihnen begangen wurde, als sie noch klein und unschuldig waren. Und der Ästhet verstummt, weil Dinge, die in Märchen geschehen, eine eigene Wahrheit und Schönheit haben, mit der das, was sich im Alltag als richtig, sinnvoll, vernünftig, zumutbar erweist, nicht konkurrieren kann. Das noch einmal durchlebte und so verarbeitete Verlust-Trauma schließlich, bleibt kein fremdes Versatzstück wie wissenschaftliche Details in der Science Fiction, sondern wird durch Mitterers große Kunst zur berührendsten Szene des Stückes.
Die Form von Mein Ungeheuer hat natürlich mit seiner ursprünglichen Konzeption als Hörspiel zu tun. Lange epische Monologe, wechseln mit meisterhaften Dialogen ab, in denen Blaim und Julie den Inhalt ihrer Aussagen und die Person des jeweils anderen teilweise oder zur Gänze in Frage stellen, entwerten, negieren, ignorieren. Zahlreiche Rückblenden erhellen Geschehnisse auf verschiedenen Ebenen der Vergangenheit. Sie haben nicht nur eigene Erlebnisse zum Inhalt, sondern auch durchaus einfühlsam geschilderte Kindheitserlebnisse des Partners, wodurch die Verstricktheit der beiden Antagonisten im Guten wie im Bösen bewußt gemacht wird.
„Gaismair“ (UA Tiroler Volksschauspiele Telfs, 2001, Regie Christian Stückl) erzählt die Geschichte eines Bauernführers im 16. Jahrhundert. Mitterer geht chronologisch vor und schafft es, die Vielzahl der Akteure in einem hier siebenjährigen Ringen zwischen weltlichen und kirchlichen Machthabern, Bürgern und Bauern auf nur 12 Figuren und die Vielzahl der Ereignisse auf  21 Szenen (Bilder) zu komprimieren. Er zeigt seinen Protagonisten als Sekretär des Fürstbischofs von Brixen, als Sprecher der Aufständischen beim Landtag in Innsbruck, als Gefangenen, auf der Flucht, als Führer eines Söldnerheeres in den Diensten der Serenissima gegen Karl den V. und schließlich als Pionier, der in der Poebene Sümpfe trocken legt und Land urbar macht. Er erkrankt an Malaria und wird schließlich von Meuchelmördern, die König Ferdinand ihm schickt getötet. Warum, wird in der letzten Szene klar, wo der Realpolitiker Salamanca, der Berater des Königs, laut Szenenanweisungen Sympathie für den ermordeten Bauernführer zeigt. Sein Schlusswort: „Niemand kann verlangen, was Ihr verlangt habt, Michael Gaismair. Niemand. Nie und nimmer“ verweist zurück auf die Landtagsszene, in der der Protagonist die wichtigsten Forderungen seiner revolutionären Tiroler Landesordnung vorgestellt hat und lässt sein Ende als eine Art Märtyrertod erscheinen. Durch diesen Kunstgriff sieht es im Rückblick fast so aus, als ob Gaismairs Leben zielgerichtet verlaufen sei und als ob es im Stück so etwas wie eine Intrige gäbe.
In "Johanna oder die Erfindung der Nation“ (UA Salzburger Landestheater, 2002, Regie Michael Worsch) verflicht Mitterer die bekannte Geschichte der Jeanne d’Arc von ihrer Berufung durch den Erzengel Michael bis zu ihrem Tod auf dem Scheiterhaufen in Rouen mit jener einer unbekannten, heutigen Johanna, die nach einer Vergewaltigung psychische Störungen entwickelt, die ihr ermöglichen, ungeahnte Energien freizumachen und den Lauf der Geschichte zu beeinflussen. Dabei verbraucht sie sich aber – verbrennt – wie eine Kerze niederbrennt.
Die 16 Tableaux sind auf zwei nebeneinander fließenden und verfließenden Zeitströmen angesiedelt: Mittelalter und Gegenwart koexistieren, was sich in den Kostümen, Requisiten und der Sprache ausdrückt:

Erzbischof: Du bist zu Pferd gekommen?
Jeanne: Nein, mein Bike ist eingegangen. Kolbenfresser. Der Burghauptmann war so nett und hat mich im Wagen mitgenommen. (V 24-25)

Die Johanna-Handlung ist außerdem verflochten mit der Geschichte von Gilles de Rais, des historischen Vorbilds von Ritter Blaubart. Das Stück ist ein politisches Schlüsseldrama - Mitterers Frankreich hat große Ähnlichkeit mit dem Österreich der blau-schwarzen Koalition von 2000. Faschistisches Denken, Extremismus, Unmenschlichkeit und die Ausgrenzung von Menschen auf Grund ihrer Hautfarbe, Nationalität, ihres Geschlechts oder einer Krankheit werden verurteilt.
Mitterers erstes Libretto „Wolkenstein“ (Musik Wilfried Hille, UA am Staatstheater Nürnberg, 2004, Regie Percy Adlon) erzählt die Geschichte des spätmittelalterlichen Abenteurers und Minnesängers Oswald von Wolkenstein (1377-1445). Der Untertitel Eine Lebensballade erklärt sich durch balladentypische Merkmale: Der Text ist eine Mischung aus lyrischen und dramatischen Passagen, da viele Lieder, darunter solche auf Ladinisch und originale Dichtungen/Kompositionen des Wolkensteiners eingebaut sind; der Kontrast der unterschiedlichen Gattungen innerhalb des Werks wird dadurch verstärkt, daß es in der Oper eine Reihe reiner Sprechrollen gibt. Die Handlung schreitet in Bildern fort, ist also sprunghaft. Am Beginn greifen übersinnliche Mächte ein; das Ende - ein Terzett der drei Oswalds (Kind, junger Mann, Erwachsener) ist surrealistisch.
Der Lebensgeschichte Oswald voraus geht die Rosengartensage vom Man de Foyer und der Antermòya. Das Kind Oswald wird vor die Wahl gestellt, der größte aller Musiker und unglücklich oder kein Künstler und glücklich zu werden. Es wählt die Musik, aber seine Mutter sabotiert diese Entscheidung mit Hilfe einer Sagengestalt, der Wildfrau. Alle Instrumente, die Oswald von nun an anfasst, zerbrechen in seinen Händen. Als junger Mann verliebt er sich in eine Salige, die Antermòya, deren Namen er nicht aussprechen darf. Er tut es dennoch, und sie muß ihn verlassen, aber vorher nimmt sie noch den Fluch der Wildfrau von seinen Händen, so daß er Musiker werden kann. Bei Mitterer wird er an dieser Stelle noch einmal vor die existentialistische Entscheidung Künstlertum/Unglück oder ein glückliches Leben gestellt und er wählt wiederum die Musik. Der erwachsene Oswald führt sich, interessanter Weise, mit einer bösen Tat ein. Er verkauft den Schmuck seiner Schwägerin und verleumdet sie seinem Bruder gegenüber, der ihm empört ein Auge aussticht. Es folgen eine Liebesgeschichte mit einer Bäuerin (einer von Mitterers ambivalenten „wilden Frauen“, die ihn später an seine Feinde verraten wird), die Heirat mit Margarethe von Schwangau (eine Mutterfigur, die ihn zu tändelnden Liedern inspiriert) und eine Reihe von Kindern, hohe und niedere Politik, Besitztumsstreitigkeiten, Gefangenschaft, Folter. Öfter als in seinen Dramen löst Mitterer in diesem Libretto Situationen in Bilder auf. Sehr wirkungsvoll sind die Szenen, in denen die drei konkurrierenden Päpste (Abendländisches Schisma) mit Huren in Waschzubern sitzen und einander mit Hilfe von Auszählreimen aus dem Spiel werfen oder die burleske Geburt der Kinder, für die ein typischer Lazzo der Commedia dell’arte Pate gestanden haben mag. Die Oper endet versöhnlich mit dem bereits erwähnten Terzett der drei Oswalds.
„Die Hutterer“ schrieb Mitterer für die Schlossbergspiele Rattenberg und die Ur-Aufführung (2004, Regie Pepi Pittl) war einer der größten Erfolge des semiprofessionellen Theaters in Tirol. Es ist wichtig, das festzuhalten, weil das Stück nicht losgelöst von den Rahmenbedingungen seiner Entstehung gesehen werden kann. Schreiben für das Volkstheater setzt den Willen voraus, Leute, die Kunst weitgehend aus ihrem Alltag ausgeklammert haben, dazu zu bringen, ein halbes Jahr miteinander zu arbeiten und gemeinsam - auf der Basis eines Texts - ein Kunstwerk zu schaffen. Im Fall der Hutterer ging es Mitterer vermutlich auch um die Fruchtbarmachung jenes künstlerischen Potentials, das eine große Zahl von ehrenamtlich arbeitenden Schauspielern nun einmal darstellt.
Der Autor erzählt die Geschichte der Hutterer (=Wiedertäufer) beginnend mit dem Jahr 1529 bis zum heutigen Tag. Besagte Hutterer sind eine christliche Sekte, deren Mitglieder sich u.a. weigern, Waffen zu tragen und zu töten, Eide auf weltliche Machthaber zu schwören, und die kein Privateigentum anerkennen. Deshalb kommen sie seit jeher immer wieder in Konflikt mit der Obrigkeit und müssen ihre jeweilige Heimat verlassen. Mitterer begleitet eine solche Gruppe und deren Nachkommen auf ihrer fast 500jährigen Wanderschaft, die von Rattenberg, einem der Zentren der Bewegung, über Mähren, Siebenbürgen, die Walachai, Russland, in die USA und nach Kanada führt. Dabei sind seine Hutterer mit religiöser und staatlicher Intoleranz, Unverständnis, aber auch mit Problemen in den eigenen Reihen konfrontiert, wenn z.B. wieder einmal die Frage der Sinnhaftigkeit der Einführung von Privateigentum auftaucht oder wenn sich die Unfähigkeit ausgestoßener Mitglieder der Gemeinschaft, auf sich allein gestellt in der modernen Welt zu überleben, zeigt. Das Ergebnis ist ein Episoden-Drama ohne herkömmliche Intrige und abgesehen vom Chronisten auch keiner gleichbleibenden Identifikationsperson.
Wie schon Mein Ungeheuer basiert auch „Die Beichte“ (UA Telfer Volksschauspiele, 2004, Regie Martin Sailer) auf einem gleichnamigen Hörspiel (ORF 2003), zu dem eine 1999 im irischen Fernsehen gesendete Dokumentarfilmserie über jugendliche Mißbrauchsopfer in kirchlich geführten Waisen-, Erziehungs und Schülerheimen in Irland den Anstoß gab.
Die Beichte behandelt in einer Reihe von Rückblicken die Geschichte des verwaisten Chorknaben Martin, der von einem Priester mißbraucht wird und als Erwachsener das gleiche mit seinem Sohn tut. (In diesen Flash-backs übernimmt Martins Sohn die Rolle des Kindes Martin und dieser selbst einmal die eines älteren Schulkollegen.) Entschlossen, sich und das Kind zu töten, um ihm ein Schicksal wie sein eigenes zu ersparen, begibt er sich in die Kirche, in der sein ehemaliger Beschützer und Peiniger die Beichte abnimmt. Es kommt zu einer Abrechnung des Opfers mit dem Täter; der Geistliche kann zumindest den Mord am Kind verhindern. 
Mitterer malt nicht schwarz-weiß. Er zeigt, daß gerade das vermeintlich beste in uns - unsere Gefühle - uns täuschen können. Er macht den gesellschaftlichen Druck sichtbar, der auf den verschiedenen Beteiligten lastet, die Nöte des Priesters, und daß der Zögling die Beziehung zu diesem nicht nur als traumatisch erlebt, sondern auch einen sekundären Gewinn davon trägt; er entlarvt die Entschuldigungs-clichés und spricht das normalerweise Ungesagte, Fehlinterpretierte zwischen Opfer und Täter aus. Er vermittelt Katharsis - Erkenntnis durch emotionales (Mit-)Erleben – ungeachtet dessen, daß diese z.Z. nicht besonders en vogue ist.
„Die Weberischen: Ein Bänkelgesang aus dem Hause Schikaneder“ (Musik Wolfgang Amadeus Mozart und Martyn Jacques, Arrangements und musikalische Bearbeitungen Christian Kolonovits, UA Vereinigte Bühnen Wien, Museumsquartier, 2006, Regie Stephanie Mohr) waren ein Auftragswerk für das Mozartjahr 2006. Das Stück handelt von der Familie von Mozarts Frau Konstanze und wird von Emanuel Schikaneder (dem Librettisten der Zauberflöte) in dessen Freihaustheater als eine Art Benefiz-Veranstaltung für die Witwe Mozart aufgeführt. Schikaneder selbst übernimmt in diesem Spiel im Spiel die Rolle der Familien-Managerin Cilly. Mozart erscheint selbst nie auf der Bühne, aber seine Person ist der Angelpunkt des Geschehens, denn zwei der Weber-Schwestern sind erfolgreiche Sängerinnen, die wollen, daß er ihnen Rollen schreibt; eine liebt ihn und die, die er heiratet, lernt ihn schließlich lieben. Der Text ist originell, bedient aber - genrebedingt - so manche Clichés über Frauen (über die man sich als Leserin nicht freut, obwohl man nicht ausschließen kann, daß es bei den Weberischen tatsächlich ähnlich zuging) und natürlich auch die Story von Mozarts angeblicher Vergiftung durch den eifersüchtigen Salieri – obwohl dieser Hofkapellmeister, also zu Lebzeiten in jeder Beziehung erfolgreicher war als sein Kollege und infolgedessen wenig Anlaß hatte, ihn zu ermorden. Die Tiger Lillies kommentieren das Geschehen mit einer Art Bänkelgesang in englischer Sprache. Mozartmusik dient als Überleitung zwischen den Szenen oder als – manchmal auch ironische – Interpunktion, etwa wenn an der Bahre des toten Weber-Vaters Leporellos „Notte e giorno faticar“ gespielt wird oder wenn Sofie sich aus dem Fenster stürzen will und der verliebte Mozart darunter steht – also echte Emotion im Spiel ist und dazu „Deh vieni alla finestra“, das verlogenste, clichéhafteste aller Ständchen, erklingt. Das eigentliche Problem des reizvollen Stücks ist wohl ein außerliterarisches, die Besetzung betreffendes: vermutlich sind die Tiger Lillies, die bei der Uraufführung auftraten, leichter durch andere Musiker zu besetzen als die vier Schwestern, die Schauspielerinnen sein sollten, aber von denen zumindest zwei so gut singen müssen, daß man ihnen abnimmt, daß sie sich an großen Opernhäusern halten konnten.
Das vorliegende Buch ist, wie gesagt, Teil einer Werksausgabe. Es greift einerseits Fäden wieder auf, die Mitterer früher fallen ließ, und spinnt andere weiter: Angesichts des Totsünden-Zyklus erinnert man sich an seine verbindenden Bänkellieder beim Haller Sieben Todsünden-Zyklus von Kranewitter (1981). Gaismair und Die Hutterer sind große Historiendramen wie Die Kinder des Teufels oder Verlorene Heimat, Mein Ungeheuer und Die Beichte sind, von der Besetzung her gesehen, „Kammerspiele“ wie Sibirien, allerdings mit jeder Menge Leiden und Leidenschaft aufgeladene. Das Jeanne d’Arc-Drama Johanna, mit seinem komplizierten Aufbau und seinen vielen intertextuellen Bezügen fällt etwas aus der Reihe. Neue Wege werden in den beiden Libretti (Wolkenstein und Die Weberischen) beschritten. Gemeinsam ist allen in diesem Band vereinigten Werken, daß sie, wie der Autor selbst einmal sagte, Theater für und nicht gegen das Publikum sind. 
 

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Hubert Flattinger, Als ich Lord Winter war. Eine Reise zu Astrid Lindgren
Innsbruck: Kyrene 2005

Die Welt im Kopf des Tintenmanns 

Mit Als ich Lord Winter war legt der bekannte Tiroler Kinder- und Jugendbuchautor, Dramatiker, Journalist und Zeichner Hubert Flattinger sein zweites Buch für Erwachsene vor. (Das erste war Das Lied vom Pferdestehlen, Innsbruck: Berenkamp, 2000.)
Eine Reise zu Astrid Lindgren ist der Untertitel des Bandes, und um eine solche – nämlich den Flug eines Journalisten zu einem Interview mit der großen schwedischen Kinderbuch-Autorin - geht es auch auf einer der Erzählebenen des fast wie ein Musikstück konstruierten Texts. Auf einer anderen (hier ist die Ausgangssituation eine Zugreise) handelt das Buch von der Wirkungsweise der Phantasie und der Entstehung von Geschichten im Kopf des Erzählers.
Ein Gespräch zwischen der Schriftstellerin und Flattinger, bzw. einen Phototermin mit ihr, hat es tatsächlich gegeben, wie einige Bilder im Anhang von Lord Winter belegen. In der Erzählung wird das Interview allerdings nicht behandelt; die Geschichte endet vor der Wohnungstür der Lindgren. Einen Türausschnitt mit einer schneebedeckten Klinke zeigt denn auch der Buchumschlag. Der Schnee verweist wiederum auf den Namen Lord Winter im Titel.
Dieser ist, wie wir im Buch erfahren, eine „Monica“, d.h. ein Spitzname, den ein Landstreicher oder Vagabund in Holz ritzt - in diesem Fall einer der Übernamen des Erzähler-Ichs. Der Philologe denkt angesichts dieses Namens an den Ex-Gespons der Mylady, der intriganten Bösewichtin aus den drei Musketieren von Dumas-père, d.h. an den edlen Ritter Athos.
Flattinger arbeitet in dieser neuen Talentprobe viel mit z.T. mehrdeutigen Verweisen - solchen innerhalb der Erzählung und solchen aus seinem Privat-Mythen-Schatz, aus dem sich real existierende Personen und erdachte Figuren in die Erzählung schmuggeln. Manche tragen Namen aus der Literatur, dem Film, von musikalischen Werken oder sind Gemälden entsprungen. Sie erscheinen aber in verwandelter Gestalt (z.B. Gin-Kelly, der weiße Gamaschen über Cowboystiefeln trägt und dessen „Art, in eine Gefängniszelle zu schreiten, einem kleinen Tänzchen gleicht“ oder Mister Bojangles aus dem u.a. von Sammy Davis Junior interpretierten Song). Bekannte literarische Figuren tragen dagegen einen anderen Namen. (Pippi Langstrumpf etwa hat sich in eine Aztekenprinzessin verwandelt.) Das Ergebnis ist eine phantastische, d.h. eigentlich eine wunderbare Erzählung nach Todorovs Klassifikationsschema.
Im ersten Kapitel werden verschiedene Tagtraum-Sequenzen erzählt, die der Reise nach Stockholm vorausgehen. Der Einstieg in diese Träume oder Phantasien erfolgt auf ganz unterschiedliche Weise. Einmal kippt z.B. das, was der Protagonist durch die Fensterscheiben eines fahrenden Zuges sieht, in das von der Fensterscheibe reflektierte Bild der Insassen des Abteils. (Das erinnert daran, wie manche Escherbilder beim Betrachten plötzlich umspringen.) Ein andermal sieht der Protagonist (der auch Quiqueg, der Tintenmann, heißt wie der tätowierte Harpunier in Melvilles Roman Moby Dick) die Gedanken und Einfälle eines kleinen Jungen namens Boo (Mister Bojangles) als Projektionen auf dessen Stirn. Seine Schuhe verwandeln sich in Eisbrecher, und sein Kopf in eine Cessna, die diese Eisbrecher steuert usw. Im zweiten Kapitel des Buches sorgt der Sekt-Orange der Fluggesellschaft und der Gin aus dem Flachmann des Sitznachbarn dafür, daß nicht zu viel Realismus aufkommt. Das dritte kurze Kapitel erzählt von einer Bank im Stockholmer Vasapark, in die „Monicas“, Namen von Lindgren-Figuren, eingekerbt sind, und von der Ankunft des Erzählers vor dem Haus der Autorin.
Das Buch ist zu Anfang verwirrend, wenn man jedoch das Prinzip durchschaut hat, sehr amüsant und sprachlich brillant geschrieben. Der Kyrene-Verlag hat sich da ein kleines Juwel gesichert.

Als ich Lord Winter war. Eine Reise zu Astrid Lindgren soll noch in diesem Jahr bei Polyglobe Music als Hörbuch Musik von Frajo Köhle erscheinen. Der bekannte Schauspieler und Radio-Sprecher Johannes Nikolussi leiht dem Erzähler seine Stimme.
 

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Erika Wimmer, Schund. Farce in 8 Szenen mit einem Epilog.
UA von Teilen des Textes am Tiroler Landestheater im Rahmen des Dramatikerfestivals 2006.
Besprechung des Textes und Überlegungen zur Copyright-Situation in Österreich
von Sylvia Tschörner

Die Uraufführung des Wimmer-Stücks Schund ging mit einem Protest der Autorin gegen massive Regie-Eingriffe in ihr Werk und mit einigem Presse-Echo einher. Nun ist es nicht die Aufgabe dieses Forums für oder gegen Gebräuche des Regietheaters Stellung zu nehmen. Hingewiesen sollte jedoch vielleicht im Rahmen der Besprechung eines Dramas, das vor allem durch Unstimmigkeiten wegen seiner Umsetzung Schlagzeilen gemacht hat, auf den Umstand, daß die Copyright-Frage von Theaterstücken in Österreich ungenügend geregelt ist.
Uraufführungen sind deshalb so wichtig, weil sie entweder Standards für weitere Aufführungen setzen, oder aber in der gegenwärtigen Theatersituation, in der neue Stücke selten nachgespielt werden, ein für allemal die Botschaft bzw. das künstlerische Credo des Autors vermitteln sollten. Autoren mit einem großen Bekanntheitsgrad, wie z.B. Elfriede Jelinek kann es egal sein, wie die erste Inszenierung ihrer Stücke aussieht, weil diese meistens gleichzeitig im Druck erscheinen. (Die Nobelpreisträgerin erlaubt bekanntlich, daß Regisseure ihre Theatertextblöcke als „Steinbruch“ betrachten, aus dem sie sich „Textmaterial“ holen, das sie nach eigenem Gutdünken montieren, häufig mit stückfremden Material vermengen und manchmal zu einer Story zusammenfügen.) Manchen Autoren geht es vor allem darum, überhaupt aufgeführt zu werden. Für andere ist die Botschaft, die sie vermitteln wollen, oder formale Aspekte ihrer Arbeit so wichtig, daß sie lieber in Kauf nehmen, daß ihre Stücke in der Schublade bleiben, als daß sie in nicht adäquater Form auf die Bühne kommen. Der jüngste Fall zeigt, daß hier Handlungsbedarf für die IG-Autoren und den österreichischen Gesetzgeber besteht. Ich denke als ersten Schritt etwa an die Erarbeitung von Kriterien dafür, was von den Parteien Autor und Theater als massiver Eingriff in den Text angesehen wird und verpflichtende Gespräche zwischen Autor, Dramaturgie und Regisseur hinsichtlich solcher Eingriffe.

Wimmers Farce Schund handelt von zwei Pensionisten. Herta hat nach dem Tod von Maxens Frau Hella, die Rolle einer Hausangestellten übernommen. Dafür wird sie bezahlt, sie steht aber auch für gelegentlichen Sex zur Verfügung. Die beiden erinnern ein wenig an Werner Schwabs grausliche Kleinbürger: sie sprechen wie dessen Figuren eine Kunstsprache – ein Hochdeutsch, das mit dialektalen Wendungen, Sprichwörtern und Versatzstücken aus der Mediensprache durchsetzt ist. Auch der Racheplan, den Herta mit Maxens verstorbener Frau ausgeheckt hat, entspricht der Boshaftigkeit der Figuren dieses Dramatikers: Hella hat Herta vor ihrem Tod ihre Wohnung überschrieben; ihr Ehemann wird zehn Jahre lang im Glauben gehalten, sie gehöre ihm, und an seinem 70sten Geburtstag, als er erwartungsgemäß so hinfällig ist, daß kein massiver Widerstand mehr von ihm zu erwarten ist, ins Altersheim abgeschoben.
Max hat sich von der Welt zurückgezogen und lebt in einer Scheinwelt, die Boulevard-Zeitungen, das Fernsehen und von den Medien geschürte Ängste erzeugen. Darin besuchen ihn Allegorien von Politik, Fiskus, Sex, Sport und Skandalchronik, und zwar in der Gestalt, wie sich diese Dinge einem alten Mann mit Maxens Bildungsgrad eben präsentieren. Der Politiker ist ein politisch rechts stehender Strahlemann, der Fiskus ein bedrohlicher Schnüffler, der Sex das Nacktmodell von der Seite 3 oder 5 der Boulevardzeitungen, das die Kommentare unter dem Photo immer als liebes und sauberes Mädchen hinstellen und der Sport ein Vereins-Maskottchen. Die Absurdität der Laufs der Welt zeigt sich an einem Lotto-Gewinn, den ausgerechnet das ermordete Paar aus der Skandalchronik macht.
Der Text bewegt sich wie Jelinek-Texte vorwiegend auf der Objekt-Ebene: Sprachmüll wird Sprachmüll entgegengesetzt. Emotionalen Subtext (der in herkömmlichen Dramen die Nahrung für das Spiel des Schauspielers darstellt) gibt es fast nur in den Szenen zwischen Herta und Max. Das Sprachspielerische stellt natürlich eine große Herausforderung an den Zuschauer dar. Wirklich erschließen wird sich dieser Text, ähnlich wie Texte der Jelinek, wohl nur dem Leser. In diesem Sinne wäre es wünschenswert, wenn dem ersten Annäherungsversuch auf der Bühne bald eine Veröffentlichung folgte.
 

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Barbara Hundegger, kein schluss bleibt auf der andern.
nutte nonne lesbe – drei mal raten zählen bis drei.
Innsbruck: Skarabaeus, 2004, 118 Seiten; Є 14.
Sonderedition mit Audio-CD: fem.art.chor & barbara hundegger, Є 24.

     „kein schluss bleibt auf der andern“ ist der erste Theatertext der Tiroler Dichterin Barbara Hundegger, die vor allem durch ihre Lyrikbände „und in den schwestern schlafen vergessene dinge“ (1998) und „desto leichter die mädchen und alles andre als das“ (2002) auffiel und (nach einer Reihe anderer Auszeichnungen) 2003 den Christine-Lavant-Preis erhielt. Das Stück war eine Auftragsarbeit für die Frauentheaterprojektgruppe coop.fem.art, deren Leiterin Margit Drexel auch Produktion und Regie der Uraufführung im Mai 2003 im ORF-Kulturhaus Innsbruck übernahm.
     Der „theatertext für drei frauen, beste freundin und frauenchor“ ist inhaltlich und formal unkonventionell. Den gedanklichen Anstoß dazu gab die bis vor kurzem reale räumliche Nähe des Karmeliterinnenklosters, des Bordells und des FrauenLesbenZentrums im Innsbrucker Stadtteil Wilten. Im Zentrum der „Handlung“ stehen drei Frauen, deren Lebensentwürfe von der heterosexuellen „Norm“ abweichen: eine Nutte, eine Nonne und eine Lesbe. Ungeachtet dieser Personenkonstellation, die man eher in einem naturalistischen Drama mit Beichten und emotionsgeladenen Konfrontationen erwarten würde, ist das Ziel der Autorin das „evozieren von stimmungen, die die reflexionsräume nicht verengen, sondern öffnen für ungewohnte annäherungen jenseits der diskreditierenden und reißerischen töne, welche gängig sind in der darstellung“ (S. 2) solcher Frauen. Das Ergebnis ist ein Stück in der Art von Dylan Thomas’ „Spiel für Stimmen“ Under Milk Wood (1953) und löste bei manchen Aufführungs-BesucherInnen mit strikten Vorstellungen davon, was gattungsadäquat sei, Verwunderung aus. Insofern ist es dem Skarabaeus-Verlag hoch anzurechnen, dass er diesen schönen Text auf den Markt brachte.
     Hundeggers Text ist streng gegliedert in Prolog, Epilog und neun szenische Sequenzen. Prolog und Epilog werden vom Chor gesprochen. Die szenischen Sequenzen bestehen aus Monolog- und Dialog-Abschnitten und weiteren Chorpassagen. Diese stehen in einem inhaltlichen Zusammenhang mit der jeweils nachfolgenden „Szene“, sind in reimlosen Versen – klein geschrieben und ohne Interpunktion – abgefasst und bestehen aus aneinandergereihten Aufzählungen, Wortgruppen, Gedankensplittern, seltener ganzen Sätzen, Bruchstücken von Redewendungen, die (ähnlich wie bei Jelinek) häufig so geklittert bzw. montiert werden, dass eine zweite Bedeutung in den Vordergrund tritt:

„[...] und dann hure und schlampe und
dirne und luder und jahr und tag ans bett
gefesselt sein gewerbliche zwecke unterm
strich straßenlagen damenträume schimmelrand“ (S. 19)

     Auffallend bei einer Autorin, die als Lyrikerin eingestuft wird, ist die Absenz jeglicher Sentimentalität und ein ausgeprägter Sinn für Komik:

„[...] handentspannung massage ihr haar
fällt ihr kurs steigt kaviar safer
sex mein parkzettel läuft
ab kreditkarten keine“ (S. 48)

     Die handelnden Personen – wenn man das bei einem Stück ohne Plot sagen kann – sind nicht als Typen oder Charaktere konzipiert. Sie tragen uniforme Kleidung; erst bei ihren „Abtritten“ erscheinen sie „in hochgradig den jeweiligen klischees entsprechendem outfit“ (S. 107). Sie sind gleichermaßen intellektuell, diszipliniert, „gesellig“ (S. 21, 30, 39), haben vage anarchistische Tendenzen, neigen zu milder Provokation und kommunizieren in der gleichen Umgangssprache. Gloria, die Hure, verabscheut Alkohol und wählt ihren Beruf ganz bewusst, nachdem sie sich gründlich eingelesen und informiert hat (S. 20). Gestützt wird die Annahme, dass es solche respektablen Dirnen tatsächlich gibt, durch das vorangehende Chorlied, das das ganze mögliche Betätigungsfeld zwischen Straßenstrich und einem Platz an der Seite des Perikles evoziert. Die Autorin übersetzt die Perzeptionsraster ihrer Protagonistinnen in jene ihres Publikums und erzeugt planmäßig den Eindruck, von der heterosexuellen „Norm“ abweichende Modelle, Liebe und Sexualität zu leben, hätte – abgesehen von den realen Diskriminierungen – nicht so viel schwerer wiegende Bedeutung als die Vorliebe für Schnitzel mit Mayo-Salat.
     Hundeggers Frauen sind allwissende Erzählerinnen. Sie berichten oder analysieren Sachverhalte, die der jeweiligen Gesprächspartnerin bekannt sind und die eigentlich dem Publikum mitgeteilt werden. Andere Sprachfunktionen, von denen das herkömmliche Drama lebt, sind allenfalls in den „Freizeit“-Szenen auszumachen. Der Aspekt der versteckten Selbstoffenbarung ist fast ohne Bedeutung; Bemühungen, die Beziehung abzustecken (bzw. Statusverhandlungen) und der Appellcharakter (bzw. der manipulative Aspekt) der Botschaft spielen kaum eine Rolle. Das macht der Schauspielerin, die sich in der Rolle selbst darstellen will, und jenem Teil des Publikums, der emotionsgeladenes Theater – Erkenntnis durch kathartisches Miterleben – erwartet, Schwierigkeiten. „kein schluss bleibt auf der andern“ ist zwar sprachzentriert, strebt aber keine Mimesis an. Das heißt, es ist kein aristotelisches Theater. Es ähnelt darin Jelineks Theatertext-Blöcken, die einer Regietheater-Inszenierung bedürfen, wenn ein großes, sozial und bildungsmäßig durchmischtes Publikum angesprochen werden soll.
     Barbara Hundeggers sprachliche Virtuosität zu loben, erübrigt sich mittlerweile.
     Insgesamt ein Buch, das sich nicht nur zur Nachlese eines aus der Reihe fallenden Theaterabends empfiehlt.

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Felix Mitterer, Die Beichte: Theaterstück.
Innsbruck: Haymon, 2004.
UA Tiroler Volksschauspiele Telfs,  24. Juli 2004.
Regie: Martin Sailer. Mitwirkende Kurt Weinzierl, Pepi Pittl, Rafael Haider.

Felix Mitterers Stück Die Beichte basiert auf einem gleichnamigen Hörspiel, das im Oktober 2003 vom ORF produziert und vom Publikum zum „Hörspiel des Jahres“ gewählt wurde. Den Anstoß dazu gab eine 1999 im irischen Fernsehen gesendete Dokumentarfilmserie über jugendliche Mißbrauchsopfer in kirchlich geführten Waisen-, Erziehungs und Schülerheimen in Irland, und nicht die skandalösen Zustände im Priesterseminar Sankt Pölten, die erst im November 2003 bekannt wurden und den traurigen Beweis lieferten, daß das Thema leider auch in Österreich aktuell ist.
Die Beichte behandelt in einer Reihe von Rückblicken (in denen Martins Sohn die Rolle des Kindes Martin und dieser selbst einmal die eines älteren Schulkollegen übernimmt) die Geschichte des verwaisten Chorknaben Martin, der von einem Priester mißbraucht wird und als Erwachsener dasselbe mit seinem Sohn tut. Entschlossen, sich und das Kind zu töten, um ihm ein Schicksal wie sein eigenes zu ersparen, begibt er sich in die Kirche, in der sein ehemaliger Beschützer und Peiniger die Beichte abnimmt. Es kommt zu einer Abrechnung des Opfers mit dem Täter; der Geistliche kann zumindest den Mord am Kind verhindern. 
Durch das Drama zieht sich als Leitmotiv ein altes Marienlied: Meerstern, ich dich grüße. Gemeint ist die stella maris, der Morgenstern, der so heißt, weil er am Morgen als letzter erlischt. In den frühen Zeiten der Seefahrt war er eine wichtige Orientierungshilfe und wurde deshalb zu einem Symbol für die Gottesmutter, die man um Rat und Beistand anflehte. Paradoxerweise ist er identisch mit dem Abendstern, der die Nacht ankündigt und ein Symbol Luzifers – des Bösen - ist. Hinter den beiden Namen verbirgt sich der Planet Venus, der nach der römischen Liebesgöttin benannt ist, die Mutter und Geliebte war und für alle verschiedenen Aspekte der Liebe stand, während das Christentum und besonders die katholische Kirche die Sexualität abspalteten und verteufelten und das Mütterliche und Liebreizend-Engelhafte auf eine unnatürliche Weise verklärten.
„Ich hab die Frauen nie verstanden,“ sagt Martin. „Ich hab immer Angst gehabt vor ihnen. [...] Die Muttergottes aber [...] hab‘ ich immer verehrt. Gottesmutter süße...“ (74) und an anderer Stelle: „Der heilige Sebastian war mir immer der liebste Heilige. Ein Märtyrer, von römischen Pfeilen durchbohrt. Er war so schön, so unglaublich schön [...]“ (17)
Die postulierte Dichotomie – hier schön und gut, da häßlich und böse – verschleiert, daß man sich leider nicht darauf verlassen kann, daß alles schön und gut ist, was man im Zustand der Verliebtheit so empfindet. Eben diesem Fehlschluß saß Pater Eberhard auf, wie die kuriose Beteuerung, er habe von allen mißbrauchten Kindern nur Martin geliebt, (38) zeigt. Abgesehen davon, daß es (generell) zum Himmel schreit, wenn Liebesobjekte mit diesem Argument entsorgt werden, befreit natürlich keine noch so große Leidenschaft einen Erwachsenen von der Verantwortung, die Geschlechtsverkehr mit einem Partner, der nicht reif dafür ist, bedeutet. Daran ändern der gesellschaftliche Druck, der den Priester veranlaßte, diesen Beruf zu ergreifen, die Unmenschlichkeit des Zölibats, (49, 68-69) und die vorgebrachten Entschuldigungs-clichés nichts (daß Martins „nein“ in Wirklichkeit „ja“ bedeutet habe oder - in Anlehnung an Freud - daß Kinder sehr wohl sexuelle Wesen seien. 40, 39) Andererseits darf man dem Priester glauben, daß er sich der vollen Tragweite seines Handelns nicht bewußt war – etwa des Gewissenskonflikts, in den er das Kind stürzte - und daß ihn Wunschdenken blind machte. Letzteres um so mehr, als Martin offen sagt, daß er gern gestreichelt wurde, (37) stolz auf diese und später auf eine andere Beziehung war, (44, 58) durch die Koalition mit einem Erwachsenen Status gewann (44) und sich aus Liebe manches gefallen ließ, was ihm nicht besonders gefiel. (39) Hierin liegt m. Ea. die Besonderheit des Stücks, daß es das normalerweise Ungesagte, Fehlinterpretierte zwischen Opfer und Täter ausspricht, denn die letztgenannten meinen in den meisten Fällen ja wirklich, daß sie zu sexuellen Handlungen aufgefordert wurden.
Im Vorwort sagt Mitterer, „das alte Prinzip der Kirche“ im Umgang mit sexuellem Mißbrauch sei: „unter den Teppich kehren, zudecken, mauern,“ und die Gesellschaft verhalte sich höchst ambivalent, stecke einerseits angesichts von Mißständen den Kopf in den Sand, und behindere andererseits durch ein Klima politischer Korrektheit die Entfaltung einer ungezwungenen Körperlichkeit innerhalb der Familie. (7) Genau das spiegelte die Reaktion eines Kritikers wieder, der im Einsatz eines 13-jährigen Schauspielers bei der Uraufführung prompt eine „die Kinderseele belastende Grenzüberschreitung“ und die „Grenzen des (Volks-)Theaters erreicht“ sah. (Kurier, 26.7.04. S. 7) Dergleichen zeigt, daß ein halbes Jahrhundert Regietheater in Vergessenheit geraten ließ, daß es von jeher eine wichtige Aufgabe des Theaters war, Erkenntnis durch emotionales (Mit-)Erleben zu vermitteln. Diese kathartische Funktion hat heute die boomende Theaterpädagogik und das therapeutische Psychodrama übernommen (was den Schrei des Kritikers nach psychologischer Betreuung des jungen Darstellers besonders bizarr erscheinen läßt), vor allem aber durch jenes Volkstheater, für das Felix Mitterer schreibt.

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Sepp Mall,
 Wundränder.
Roman.

Wundränder ist der erste Roman des mehrfach ausgezeichneten Südtiroler Autors Sepp Mall. Veröffentlicht wurden bisher seine Gedichtbände Läufer im Park (1992) und Landschaft mit Tieren unter Sträuchern hingeduckt (1998), die Erzählungen Verwachsene Wege (1993) und Brüder (1996, alle bei Haymon) und diverse dramatische Werke unter dem Titel Inferno solitario (Skarabäus, 2002).
Wundränder besteht aus zwei Handlungssträngen, die am Ende zusammen laufen. Im ersten erzählt Mall die Geschichte einer Kleinbürgerfamilie mit halbwüchsigen Kindern, die den Vater verlieren, weil dieser zu Beginn des Buches als Südtirol-Attentäter gefaßt wird und später Selbstmord begeht. Im zweiten geht es um ein Geschwisterpaar, das von einem Bergbauernhof in die Stadt zieht, wo sich der sprachgestörte Bruder politisch zu betätigen beginnt. Er emanzipiert sich dadurch zwar von seiner Schwester, verliert aber dann bei einem Terror-Anschlag das Leben.
Die Ereignisse werden auf eine nüchterne, gänzlich unsentimentale und unpathetische Weise abgehandelt. Eine ausgefeilte Spannungstechnik - mit zahlreichen Zeitsprüngen auch innerhalb der Kapitel – sorgt dafür, daß man das Buch nicht aus der Hand legt, obwohl man ahnt, wie es ausgehen wird.
Den Hintergrund des Romans bilden die „Bumser“-Attentate der 60er-Jahre - Sprengstoff-Anschläge von Südtirol-Aktivisten auf Starkstrommasten, Polizeikasernen und staatliche Einrichtungen, bei denen häufig auch Menschen umkamen. Das Südtirol-Problem entstand, weil diese Provinz 1919 im Friedensvertrag von Saint Germain Italien zugesprochen wurde, obwohl die Bevölkerung zu 99% deutschsprachig war. Es verschärfte sich in der Mussolini-Zeit; das „Pariser Abkommen“ von 1947 brachte nur eine Scheinautonomie. Erleichtert wurde die Unterdrückung der deutschen Minderheit erst in den 70ern durch ein Maßnahmenbündel, das „Paket“, das nach zähen Verhandlungen beschlossen wurde und viele Jahre für seine Umsetzung brauchte.
Der durchschnittliche Nordtiroler bekam diese Ereignisse nur am Rande mit. Für die Generation, der Malls junge Leute angehören, bedeutete Südtirol eine Art Schlaraffenland. Er verband damit billiges Schilaufen, Törggelen, Wein- und Salami-Schmuggel und Pullover-Käufe am Brenner-Markt, weshalb ein großer Teil der Öffentlichkeit auch nicht verstand, warum die „Bumser“ unbedingt zu Österreich wollten. Insofern könnte dieses Buch bei vielen nördlich des Brenners beheimateten Lesern das Südtirol-Bild korrigieren. Etwa dahingehend, daß Pasta, Ossobucco, Wein statt Bier, und nostalgische 600er Fiats für „unsere Brüder im Süden“ weniger Vorstellungen von Sonne, Sand und Urlaub als von Ärmlichkeit und Kleinbürger-Alltag beschwören und dass Straßen-Namen wie Carducci und Rosmini nicht als Exotismen wahrgenommen werden (oder bestätigen, daß man ungeheuer gebildet und kosmopolitisch ist, wenn man die beiden Herren kennt), sondern wie Markierungen fremder, feindlicher Horden im eigenen Territorium. Ebenfalls verblüffend ist für den Nordtiroler, daß den Mittel-Schülern in Wundränder Kontakte zu gleichaltrigen Italienern verboten werden, während unsereins in den 60er-Jahren bereits mit ausländischen Briefpartnern gequält und zu Feriensprachkursen genötigt wurde. Zweisprachigkeit und kulturelle Vielfalt - das, was viele Österreicher schon damals als Chance erkannten, wird zumindest von den Erwachsenen in Malls Roman als Zeichen ihrer Knechtschaft wahrgenommen. („Unser schönes geknechtetes Land,“ heißt es auf S. 36.) Damit soll nicht gesagt werden, daß es für deutschsprachige Südtiroler nicht tatsächlich Benachteiligung auf vielen Gebieten gab, etwa, was Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst, Kindergartenplätze und Sozialwohnungen anlangt.
Um Politik geht es allerdings in diesem Roman nur hintergründig, im Vordergrund stehen die unschuldig in den Konflikt gezogenen Angehörigen der Terroristen. Den beiden Schuljungen gelingt es, psychisch einigermaßen unbeschadet zu überleben, weil sie auf die Abwesenheit der Väter mit dem Rückzug in eine Welt des Fußballs, der Alltagsmythen und der erwachenden Sexualität reagieren können. Die wirklich Betroffenen sind die Frauen, die in ihrem Streben nach Kommunikation und Beziehung fortwährend frustriert werden, weil für sie in diesem Ambiente nur die Rollen des Muttertiers, des Lockvogels und Ausländer-Flittchens vorgesehen sind. So zeichnet sich ab, daß der Junge aus dem ersten Erzählstrang, der seinen Unfall mit einer leichten Behinderung übersteht, für die Krankenschwester zum Substitut für den von der Bombe zerrissenen Stotterer werden wird, und die junge Erika findet – zumindest im Rahmen des Romans - keinen geeigneteren Weg, ihren Vater zu strafen, als eine Ehe mit einem Mann aus dem italienischen Viertel anzupeilen. (S. 158)
Nach der Lektüre des Romans habe ich mich zum ersten Mal bei dem Gedanken ertappt, daß es Länder gibt, für die die EU vielleicht kein Übel war.

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Margareth Obexer,
 Ein Triptychon: F.O.B. – Free on board. Liberté toujours. Hidden See.
Köln: Hartmann & Stauffacher, 2004.

In dieser Konstellation wurden die drei Einakter erstmals im Stadttheater Bruneck und im Innsbrucker Kellertheater im Rahmen des 2. Dramatikerfestival des Tiroler Landestheaters 2004 gezeigt. Regie: Margareth Obexer, Mitwirkende Thordis König, Irmgard Sohm und Lars Studer.

Unbekümmert um die viel beschworene Krise des Dramas in der Postmoderne liefert die Südtirolerin Margareth Obexer seit einigen Jahren gescheite, menschlich berührende und sprachlich ausgefeilte Texte - Texte, über die sich der Literaturfreund, der Theaterbesucher und auch der Schauspieler, der sich dankbare Rollen wünscht, gleichermaßen freuen. So ist es nicht verwunderlich, dass die junge Autorin einen Preis nach dem anderen einheimst und im Sturm die deutschen Bühnen erobert.
Obexer studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Philosophie und Romanistik. Sie besuchte die Klasse von Wolfgang Bauer an der Schule für Dichtung in Wien, die Autorenwerkstatt für Sprechtheater am Literarischen Colloquium Berlin, und war u.a. Stipendiatin der Akademie der freien Künste in Berlin und der Akademie Schloß Solitude. Sie lebt als freie Theater- und Hörspielautorin in Berlin. Zu erwähnen wären ihre Stücke Offene Türen (Schillertheater Berlin, 2000), Gelbsucht (Theaterdock Berlin, 2001), F.O.B. Landestheater Tübingen, 2002), Die Störung (Vereinigte Bühnen Bozen, 2003), Das Risiko (Landestheater Tübingen, 2003), Decapitation Strike (Rotterdam, 2003), Die Liebenden (Landestheater Tübingen, 2004), Von Kopf bis Fuß (früher: Liebesgeflüster, Städtische Bühnen Osnabrück, 2004.) Für den Rundfunk übersetzte, übertrug und/oder bearbeitete sie u.a. Texte von Michel Tournier, Dacia Maraini und Ludovico Ariosto.
Das Triptychon besteht aus drei Monologien – einer seit den späten 70ern besonders beliebten Gattung, bei der ein Adressat angesprochen wird, der stumm bleibt, bzw. das Publikum. (Siehe Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M.: Verlag d. Autoren, 1999, S. 231-232.) Es gibt keine Handlung, nur Erzähltes, Erinnertes und Reflexion. Die Sprecher sind zwei Frauen und ein Mann. Nur in Hidden See tritt kurz ein Kellner auf.
F.O.B. - Free on board (frei an Bord Versandhafen) ist eine Klausel aus der Geschäftssprache, die bedeutet, dass der Lieferant jenen Teil der Transportkosten übernimmt, der bis zur Ankunft der Ware auf dem Schiff anfällt. Im Stück fällt dieser Terminus im Zusammenhang mit einem Vorgesetzten, dessen Inkompetenz sich u.a. darin zeigt, dass er nicht einmal die Incoterms (eben diese Klauseln) kennt. Inhaltlich geht es in F.O.B. um eine Stellenbewerbung, die mit einem Mord(versuch) endet. Frau Kreuzweg ist jung und hochqualifiziert, und scheitert dennoch immer wieder an den patriarchalischen Strukturen ihrer Berufswelt, die mit der Intelligenz, dem Können, Selbstbewußtsein und der Urteilsfähigkeit von Frauen nichts anfangen kann. Erfolge erzielt sie bezeichnenderweise nur mit einer Strategie des Schweigens und der Bestätigung von Vorgesetzten und ihrer Fähigkeit, einen Krawattenknoten zu binden. Man könnte F.O.B. als Metapher für das Bis-hierher-und-nicht-weiter im Werdegang der Sprecherin interpretieren, aber als solche würden auch andere Incoterms dienen.
Der Titel Liberté toujours (Freiheit + immer) geht auf eine Zigarettenmarke, die in Deutschland verkauften Gauloises blondes, zurück. (Pers. Mitteilung Obexer.) Darüber hinaus spielt das Wort liberté wohl auch ironisch auf die Internierung des Protagonisten in einer psychiatrischen Klinik an. Dort landet er auf Grund vorgetäuschter Selbstmordabsichten, nachdem ihn seine ehrgeizige, neurotische Freundin hinausgeworfen hat und ein Hearing für eine Universitäts-Assistentenstelle schiefgelaufen ist. Auch er ist menschlich sympathisch, hoch intelligent und durchaus geeignet für den Job.
Beide Figuren scheitern also nicht wegen mangelnder Fähigkeiten oder einem Fehlverhalten, sondern fallen einer Art Darwinscher Selektion zum Opfer. Fit in dem (von Herbert Spencer übernommenen) Schlagwort Survival of the Fittest bedeutet bekanntlich nicht besser oder tüchtiger (im Sinn einer eigenständigen Perfektionsskala), sondern passend, in dem Sinn, wie ein Schlüssel ins Schloß paßt. (Siehe Charles Darwin, The Origin of Species, London: Penguin, 1968, S. 33-35, 116.) "Das Gremium entschied sich gegen eine endgültige Übernahme," heißt es etwa in F.O.B.: "es geschah aus Gründen der Harmonie, man befand, dass Sie... nun... nicht in die Harmonie unseres Teams hineinpassen..." (S. 5) und dem Assistenten in spe in Liberté toujours fehlen "die nötigen Zellen" (S. 20), die ihm die Wahrnehmung herrschenden Macht-Strukturen erlauben bzw. die Anpassung an sie ermöglichen würden.
Der Titel Hidden See leitet sich zum einen von der Ostsee-Insel Hiddensee ab. (Pers. Mitteilung Obexer) Zum anderen vergleicht sich die Sprecherin selbst mit einem "versteckten See", der "von dieser Welt" sei und dennoch "keine Fragen" stelle. (S. 32) Sie ist eine sympathische, lebenslustige, ältere Frau, die am Vorabend in dem Lokal, in dem sie sich auch jetzt befindet, einen Schwächeanfall erlitten hat. Der Kellner hält sie deshalb fälschlich für eine Alkoholikerin und verweigert ihr den bestellten Rum. An diese theatrale Situation knüpfen sich Reflexionen und Erzählungen, die an den homosexuellen Ex-Gatten, den Kellner, eine Verstorbene, die die Sprecherin gepflegt hat, und an das Publikum gerichtet sind. Die wichtigsten behandelten Themen sind die gesellschaftliche Situation älterer Menschen angesichts des grassierenden Jugendkults und – wiederum - die faktische Ausgrenzung eines Menschen auf Grund eines persönlichen Credos und eines Verhaltens, das alle, die guten Willens sind, von Rechts wegen loben müßten.
Das gemeinsame Thema in allen drei Teilen des Triptychons ist das Klaffen zwischen gesellschaftlich propagierten Werten - Intelligenz, Aufgeschlossenheit, positivem Denken, Toleranz gegenüber den Bedürfnissen anderer usw. - und dem Umstand, dass gerade Menschen, die diese Werte verinnerlicht haben und danach handeln, zu Einsamkeit und zum Scheitern verurteilt sind. Das bedeutet nicht, dass Margareth Obexers Stücke hoffnungslos stimmen. Ganz im Gegenteil – man legt den Text zur Seite bzw. verläßt das Theater im Gefühl, Wesentliches über die Welt erfahren zu haben.

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Claudia Paganini, Panopticon.
Hall: Berenkamp, 2003, 112 Seiten.

Panopticon ist das fünfte Buch von Claudia Paganini. Unter ihrem Mädchennamen Claudia Mathis veröffentlichte die Theologin und Schriftstellerin die Erzählung Wie ich aufgestanden bin (Berenkamp, 2001), ein Sachbuch über Gipfelkreuze (Dem Himmel nah, Berenkamp, 2002) und den Lyrik- und Kurzprosaband Schwarzer Schnee (Mathis, 2001). Nach ihrer Heirat folgte Froh gelebt und leicht gestorben (Berenkamp, 2003), ein weiteres Sachbuch über Marterln und Grabinschriften.
Panopticon ist eine Dystopie (negative Utopie). Wie in George Orwells 1984 gibt es in diesem Roman Überwachungskameras, sind nicht ideologie-konforme Ideen der Vergangenheit dem Vergessen anheim gefallen, wie in Aldous Huxleys Brave New World gilt eine neue Zeitrechnung, werden unangepaßte Individuen dem Ideal einer reibungslos funktionierenden Gesellschaft geopfert, und wie im Truffaut-Film Fahrenheit 451 (nach dem Science Fiction-Roman von Ray Bradbury) entspricht der technische Entwicklungsstand unserem gegenwärtigen: Immer noch haben Psychopharmaka unerwünschte Nebenwirkungen, gibt es nichts besseres als Formaldehyd zum Konservieren, werden Schuhe naß, wenn man im Schnee damit herumläuft.
Die Protagonistin ist eine junge Ärztin, die an ein verbotenes Buch, die Bibel, gerät, darin Gott und eine neue Form zu denken entdeckt, deshalb mit den geltenden Normen und Gesetzen in Konflikt gerät und zur Strafe verbannt wird.
Das Panopticon, auf das sich der Titel bezieht, wurde 1791 vom Englischen Philosophen Jeremy Bentham erfunden. Seine Zeichnungen zeigen einen Turm, umgeben von einem Gebäude aus wabenartigen Zellen, in denen sich Gefangene bzw. Kranke, Schüler, menschliche Forschungs-Objekte etc. befinden, die auf diese Weise keinen Kontakt zueinander herstellen, aber von einem hinter Jalousien verborgenen Beobachter im zentralen Raum beobachtet werden können. Diese Art der Unterbringung sollte auch bewirken, daß die Beobachteten ihr Verhalten "freiwillig" bestehenden Normen anpaßten. Dieses Panopticon wird in Michel Foucaults Abhandlung Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (1975) zu einer Metapher für moderne Unterdrückungspraktiken mit Hilfe von Information. Das aus dem genannten Werk übernommene Motto signalisiert, daß es in Paganinis Roman hauptsächlich darum geht.
Neben den bereits erwähnten Kameras, die in Panopticon nur in öffentlichen Räumen angebracht sind, werden Schlafüberwachungsgeräte eingesetzt. Die Bürger sind verpflichtet, ihre Träume aufzuschreiben, von oben verordnete Unterhaltung zu konsumieren und laufend an Teambesprechungen, Therapiegruppen und Befindlichkeitsrunden teilzunehmen, die ideologiekonformes Denken und Fühlen garantieren sollen. Da von der Religion, den Geisteswissenschaften und Künsten ausgelöste Gedanken und Emotionen nicht kontrollierbar sind, hat man diese Disziplinen abgeschafft. Kunst darf ausschließlich therapeutischen Zwecken dienen. Oberste Ziele der Politik sind die psychische Gesundheit des einzelnen und ein störungsfreies Zusammenleben.
Das alles führt dazu, daß zwischenmenschliche Beziehungen generell durch Verstellung und Falschheit gekennzeichnet sind, daß der Wunsch nach Freiräumen bei Personen mit ausgeprägterer Individualität und einer Aversion gegen Fremdbestimmung übermächtig wird. Daß die Protagonistin in den Berichten über die Berufung der Propheten Ezechiel und Moses (Ezechiel I, 1-21, Exodus II-IV) ein höheres Wesen entdeckt und einen interpretierbaren Diskurs kennenlernt (der sich von jenen der approbierten ein-geleisigen, naturwissenschaftlichen und technischen Schriften radikal unterscheidet), ( 82) bedeutet für sie in erster Linie die Eroberung von solchen Freiräumen. (Religionen, Geisteswissenschaften und Künste sind zweifellos auch deshalb verboten.) Darum entscheidet sich Nathalie, obwohl sie sich berufen fühlt, nicht für das Engagement wie die beiden Propheten, sondern für den Rückzug des Mystikers, und verzichtet in letzter Konsequenz auf eine Operation, mit der sie ihr Gehör retten könnte.
Auch die Gegenwarts-Satire kommt in diesem Roman nicht zu kurz. Den Zwang zum positiven Denken, zur popularity, dem Glauben an die Allmacht der Psychohygiene, Psychologie und Psychiatrie, die zu Praktiken wie verlogenen Befindlichkeits-Runden bzw. zur Zwangspsychiatrierung nicht normgerechter Individuen führt, gibt es nicht nur in den USA, sondern mittlerweile auch schon in Europa in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Köstlich ist z.B. die Darstellung einer Befindlichkeitsrunde, in der Böswillige, ohne sich rechtfertigen zu müssen, die absurdesten Unterstellungen vorbringen dürfen, wenn die Anschuldigung formal nicht als Sachverhalt präsentiert wird, sondern als Äußerung der eigenen Gefühle:
"Mein Tag ist eigentlich sehr gut gelaufen," sagt sie, "trotzdem fühle ich eine große Traurigkeit. Ich habe mich gefragt `Warum´? oder auch `Woher´?. Woher kommt diese Traurigkeit? Und ich denke, sie hängt mit Ihrem Verhalten zusammen. [...] Wie Sie zu schreiben begonnen haben, während wir anderen zusammen den Film ansahen. Das hat mich so traurig gemacht, weil es gezeigt hat, dass Sie uns, die Gruppe und eigentlich auch sich selbst nicht wirklich ernst nehmen." (16)
Paganini schreibt sehr klar, und das führt dazu, dass der Leser u.U. an Wendungen hängen bleibt, die in weniger präziser Sprache nicht weiter auffallen würden. So war ich einige Male irritiert von einem mich paranoid anmutenden Hang zur Selbstbeobachtung: "Voll Hohn und Schmerz zieht sich meine Stirn in Falten, und ebenso unwillkürlich setze ich mich auf" (94) noch dazu an einem Punkt der Erzählung, an dem die Protagonistin aus einer Art Ohnmacht erwacht, oder "mechanisch lege ich ein paar Scheiter nach," (95) "und indem mein Blick weicher wird," (91) "auf diese Weise nähre ich meine Magengeschwüre, denke ich mit einem bitteren Beigeschmack." Vielleicht jedoch soll hier ganz bewußt auf die Paranoia einer ständig unter Kontrolle stehenden Person hingewiesen werden. Sehr gelungen erscheinen mir die Schilderung der Berufungsvision, die vage die Episode von Moses und dem brennenden Dornbusch evoziert (87-88, Exodus III) und die Versuche, den Erwerb neuer Methoden des Denkens und Erkennens in sinnliche Wahrnehmung zu übersetzen: Sie spricht von Hören, Sehen, Begreifen. (61, 90) Wenn man bedenkt, daß die Autorin erst 25 ist und daß sich das Ergebnis eines so anspruchsvollen Projekts so erfreulich liest, darf man weiteren Büchern mit gespannter Erwartung entgegensehen.

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Raoul Schrott, Gilgamesh. Epos.
Mit einem wissenschaftlichen Anhang von Robert Rollinger und Manfred Schretter. Uraufführung der Spielfassung: Akademietheater 2002. Regie Theu Boermans.
München: Hanser, 2002, 343.

Abkürzungen: Übersetzung (=Ü), Nachdichtung (=ND) und Spielfassung (=SF). Römische Zahlen bezeichnen die Tafeln/Gesänge/Szenen, arabische die Seiten, wo dies sinnvoller erscheint.

"Das Theater", sagt der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Raoul Schrott, habe "eine ganz andere Denkweise [...] als Lyrik oder Prosa." (Profil 25.2.2002, 190) Da die Burgtheater-Dramaturgie mir erlaubt hat, einen Blick auf die Spielfassung des „Gilgamesh“ zu werfen, möchte ich eine vergleichende Besprechung von Schrotts Übersetzung des zugrundeliegenden Epos, seiner Nachdichtung und der Bühnen-Version versuchen. Erwähnt sollte werden, daß der Dichter selbst sein bester Kommentator ist, und daß ich, wie die meisten seiner Rezensenten, mein Wissen über seine Quellen und Absichten aus den Einführungskapiteln des Buches bzw. Interviews beziehe.
„Gilgamesh“ war, nach einer Neufassung von Euripides' „Bakchen“, Schrotts zweite Auftragsarbeit für das Burgtheater. Als Basis für seine Nachdichtung des oft als "ältestes Epos" der Literatur bezeichneten Werks dient ihm die ninivitische Zwölf-Tafel-Fassung aus der Bibliothek des assyrischen Königs Assurbanipal. Diese wird einem gewissen Sin-leqe-unninni zugeschrieben, der irgendwann gegen Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. lebte. (16, 171) In Zusammenarbeit mit den Innsbrucker Altorientalisten Robert Rollinger und Manfred Schretter stellte Schrott eine neue, dem aktuellen Stand der Forschung entsprechende Übersetzung her. Das fehlende Fünftel des Texts wurde mit Hilfe von an anderen Orten aufgefundenen Tafelfragmenten derselben Version rekonstruiert. (171) In seine Nachdichtung bezog der Dichter zusätzliche literarische Quellen ein, u.a. (ältere) sumerische Kurzepen, die um die Figur des Gilgamesh kreisen, das Sintflut-Epos um „Atrahasis“ und die Schöpfungsgeschichte „Enuma Elish“. (26)
Gilgamesh ist König des Stadtstaats Uruk (und hat möglicherweise ein historisches Vorbild, das um 2650 v. u. Z. im Zweistromland lebte.) Um seine Gewaltherrschaft zu mildern, erschaffen ihm die Götter einen Widerpart - Enkidu. Die beiden Männer werden Freunde und Liebhaber, töten den Dämon Humumba und den Himmelsstier (=das Sternbild). Der Verlust Enkidus, der zur Strafe für diese Vergehen sterben muß, bewirkt, daß Gigameshs weiteres Leben unter dem Zeichen seiner Auseinandersetzung mit dem Tod und der Suche nach Möglichkeiten, ihm zu entgehen, steht.
Das Epos verbindet Erzählweisen, die für orale Kulturen (direkte Rede, Perspektivenwechsel), und solche, die für Schriftkulturen typisch sind (komplexe Wortspiele und Intertextualität). Schrott spricht deshalb von einem "epischen Oratorium", dessen auffallende Theatralik er mit der Aufführungspraxis (Vortrag durch Rhapsoden oder rituelles Spiel, vielleicht sogar mit Masken) in Zusammenhang bringt. (31) In seiner Nachdichtung bzw. der Spielfassung wird der dramatische Charakter des „Gilgamesh“ noch augenfälliger, weil er die Ereignisse des Epos in eine Rahmenhandlung stellt. Als Quellen für diese nennt Schrott das Kurzepos „Tod des Gilgamesh“, die Hymne „Urnammuns Tod“ und einen Massenselbstmord im Grab der Königin Pu-abi in Ur. (26) Die Führung durch die Unterwelt benutzt den zweiten Teil des sumerischen Kurzepos „Gilgamesh“, „Enkidu und die Unterwelt“, der sich, ins Akkadische übertragen, auf der 12. Tafel der ninivitischen Fassung findet. Im Rahmen geht es um die Frage, ob die Götter dem Protagonisten Unsterblichkeit verleihen. Als Entscheidungshilfe wird seine Geschichte erzählt bzw. vorgeführt. Der Kunstgriff des Spiels im Spiel schafft die Voraussetzung für ein minimalistisches Bühnenbild und den Mehrfacheinsatz der Schauspieler. (So wird z.B. der Ältestenrat vom Fährmann der Schatten Ur-shanabi und dem Totenstadt-Wächter Neti vertreten. ND X, S IX).
Abgesehen vom Spannungsbogen, den der Rahmen erzeugt, liefert er auf Fragen, die im Epos gestellt werden, Antworten, wie sie heutige Philosophen geben würden, etwa daß man von Offenbarungen keine Wahrheit erwarten solle ("glaubst du wirklich die götter würden dir über sich selbst/rede und antwort stehen?" Epilog ND 166, SF 84), daß die „conditio humana“ Allwissenheit, Unsterblichkeit ausschließt und die postmoderne (in Wirklichkeit gar nicht so moderne) Ansicht (Vgl. Ariost: „Orlando furioso“ XXXV, v. 22-30), daß nur Erinnerung bzw. Literatur eine Form von Weiterleben ermögliche. Weiters ergänzt der Rahmen das im Basistext vermittelte Jenseitsbild durch Material aus anderen Texten. Dasselbe gilt für Enkidus Todestraum (Ü VII 232, ND XX, SF XVIII 52), dessen 40 fehlende Zeilen durch eine Führung durch die Unterwelt ersetzt wurden, wie sie der Leser von anderen Epen kennt. In der Spielfassung werden allerdings nur zwei Beispiele von Schicksal nach dem Tod erwähnt, (S XVIII 52) die nicht zu sehr von christlichen Vorstellungen abweichen, wohl, um den Zuschauer nicht vom Fortgang der Handlung abzulenken. Auch sonst ist in der Bühnenversion manch Reizvolles Strichen zum Opfer gefallen: mythologische Hintergründe, Kulturgeschichtliches, Epistemologisches – und auch Figuren, wie die Ishtar-Verkörperung Siduri oder die Skorpionsmenschen. (ND XXIII) Schrott macht dem Theaterpublikum sprachliche Zugeständnisse (z.B. „Grabhügel statt tumulus“ (ND 43, SF 6) oder „Staken“ statt der rätselhaften „Steinernen“ (ND 139, SF 60)) und eliminiert politisch Inkorrektes (Enkidu wird zwar als „Söldling“ bezeichnet, aber nicht als schwul. (ND 96, S 39) Lange Berichte werden durch knappe Einwürfe eines Zuhörers dramatisiert, der Inhalt manchmal dargestellt, z.B. die Erschaffung Enkidus (ND II, S II) oder der Ringkampf der beiden Helden (ND X, S VIII). Der Diebstahl der Anti-Aging-Pflanze - nicht durch die Schlange, die sich seitdem häutet, sondern durch die alternde Liebesgöttin Ishtar - der angesichts moderner Peeling-Präparate ein echter Gag ist, dürfte wohl eher auf das Konto der Regie gehen.
Das führt zu den Fragen Psychologie und Humor. "Mir ging es darum, diese Reliefs mit Fleisch und Blut auszufüllen. Die Erzählweise von damals kennt ja unser Psychologisieren nicht," wird Schrott im Pressedossier des Burgtheaters zitiert. Dieses Vorhaben geht im Großen und Ganzen auf. Dem mesopotamischen Noah Ut-napishti (ND XXVI) gesteht man das auch zu, weil er es auf lustige Weise tut. Etwas irritierend wirkt es hingegen, wenn Gilgameshs Mutter Ninsun – die göttliche Wildkuh - in der Art besserer Hälften besserer Herren die Prahlerei der beiden aventiure-geilen Machos Gilgamesh und Enkidu kommentiert (ND XI 72, SF X 28, detto SF 43), weil man doch mit einer gewissen Erwartungshaltung an die Lektüre herangeht. In der Spielfassung hingegen, die episches Theater ist, nimmt man dergleichen als Verfremdung hin.
In seinem Vorwort zur Übersetzung spricht Schrott über Satire und Humor im „Gilgamesh“ und bringt auch Beispiele für Parodie wie den hohen Stil der Hure, den vergleichsweise niederen der Göttin Ishtar und sprachliche Eigenheiten wie Ut-napishtis Aussprache von Konsonanten. (174-175). So liest er auch die im Epos wohl eher ernst gemeinte Episode vom Himmelsstier, der von Ishtar losgelassen, den Euphrat aussäuft, mit seinem Schnauben Grabenbrüche verursacht, in denen ganze Hundertschaften umkommen, während der 12 Meter große Enkidu nur bis zum Bauch darin versinkt und den nachfolgenden Kampf, bei dem Enkidu das Tier am Schwanz hält, während der Protagonist es wie ein Torero absticht, mit den Augen eines heutigen Lesers. (Ü VI 223-224, ND XVII 107-108) Die Schilderung ist dem entsprechend ur-komisch. Die ironische Distanz funktioniert aber nur in der Erzählung. Eine Inszenierung müßte wohl von der realen, lebensgefährlichen Situation ausgehend eine völlig andersgeartete Komik für die Szene finden. So erstaunt es nicht, wenn die Spielfassung auf den Stierkampf verzichtet und auf Ishtars Rachemonolog abrupt Gottvater Anus Meldung folgt, die Protagonisten hätten den Stier getötet. (S XV 46) Nicht ganz glücklich ist auch das folgende Beispiel von Aktualisierung: Gilgamesh gehört einer Kultur an, die in starkem Maße von der Natur abhängig ist. Er denkt wie ein Mensch, der auf dem Land aufgewachsen ist. Deshalb schlägt er vor, Enkidu eine Hure zu schicken, denn wenn er nach dem Kontakt mit ihr nach Mensch riecht, wird ihn die Herde nicht mehr annehmen und er wird kein Motiv mehr haben, die Fallen und Netze des Jägers zu zerstören. (Ü I 182) Diese Lösung zeigt die gerühmte Weisheit des Protagonisten, die doch – Konvention hin Konvention her – auch in einem Epos irgendwann unter Beweis gestellt werden muß. Wenn nun Schrott Gilgamesh in den Mund legt, daß der "hinterwäldler" Enkidu auf den "breitesten arsch" der Dame hereinfallen und "auf die Balz gehn" (ND V 58, S V 16-17) werde, zieht er ihn (ähnlich wie Peter Sellars seinen Don Giovanni) auf das Niveau eines simplen Ganoven herunter. In der dramatisierten Version geht dies wiederum hin. (Mit der wunderschönen Szene von Enkidus Mensch-Werdung und Spracherwerb unmittelbar danach, macht Schrott das allerdings wieder gut. Trotzdem:) die Beispiele zeigen, wie schwierig das Unterfangen einer Nachdichtung ist und daß die Bühne wirklich ihre eigenen Gesetze hat. Insgesamt – trotz der genannten Kritikpunkte (einem Großen gegenüber hat man naturgemäß weniger Hemmungen ) ein wunderschönes Buch und ein sehr interessantes Stück.

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Franz Haas, Herrmann Schlösser, Klaus Zeyringer:
Blicke von außen. Österreichische Literatur im internationalen Kontext.
Innsbruck: Haymon, 2003.

Franz Haas, derzeit professore associato an der Universität Mailand, und Klaus Zeyringer, z.Z. Vorstand des Deutsch-Départements an der Université Catholique de L'Ouest in Angers, diskutierten mit dem Leiter des Innsbrucker Zeitungsarchivs, Ao.Univ.-Prof Michael Klein.

Besprechung von Sylvia Tschörner anlässlich der Buchpräsentation und Diskussion im Literaturhaus am Inn, Freitag, 4. April 2003

Das vorgestellte Werk ist das Ergebnis einer Debatte, die Zeyringers 1999 bei Haymon publiziertes Buch Österreichische Literatur 1945-1998. Überblicke, Einschnitte, Wegmarken (2001 neu aufgelegt unter dem Titel Österreichische Literatur seit 1945) zwischen den drei Autoren ausgelöst hatte.
In einem Einleitungsgespräch wird das Arbeitsfeld abgesteckt. Ziel der Studie ist es, Blicke aus der Sicht des deutschen, des französischen und des italienischen Literaturbetriebs auf das österreichische Schrifttum zu werfen und Tendenzen der ästhetischen Diskussion zu erfassen, welche seine Rezeption im Ausland beeinflussen. Dabei ist eine der Grundhypothesen, daß die literarische Szene in Österreich sehr auf sich selbst bezogen ist: Haas spricht von "austriakischem Autismus" (7, 30) und Zeyringer mildernd von "Solipsismus.
Der zweite Teil bringt drei kurze, einigermaßen heterogene Lagebeschreibungen. Haas stellt fest, daß von Literaten noch nie so viel über österreichische Innenpolitik und Gesellschaft geschrieben worden sei, häufig jedoch nur die Meinungen der Boulevard-Presse in ihr politisch korrektes Gegenteil verkehrt würden. Schlösser vergleicht den Blick des Insiders mit jenem von außen und erwähnt Clichés der Österreich-Deutung wie Politik- und Gegenwartsflucht. Zeyringer sieht in der österreichischen Subventionierungspolitik einen auffallenden Unterschied zu den Vergleichsländern, wo der Markt das Kunstschaffen beeinflusse, und nicht das wenig flexible, ästhetische Gewissen von Jurys, die sich aus einem relativ kleinen Kreis von Leuten rekrutieren.
Der dritte Teil analysiert ausführlich das Verhältnis der intellektuellen Meinungsträger in den drei Ländern zu Österreich. Zunächst der Standpunkt von Schlösser: Die Beziehung Österreichs zu Deutschland wird durch ein "Starkes Abgrenzungsbedürfnis" gekennzeichnet, was auf deutscher Seite als "Xenophobie im Walzertakt" (55) empfunden wird. Seit der Waldheim-Affaire und dem politischen Rechtsruck ist viel von der "Österreichlüge" die Rede, die ein eigenes literarisches Genre, die Österreich-Essayistik (Menasse, Schuh, Thurnherr, Rabinovici, Franzobel, Hochgatterer, Schindel, Charim, Jelinek, Streeruwitz usw.) hervorgebracht hat. Die engagierten, kritischen Intellektuellen verlieren im deutschen Literaturbetrieb an Bedeutung; die Opposition gegen Kapitalismus und Konsumgesellschaft ist out. Viele junge Schriftsteller treten auf wie Popstars, geben sich locker und hedonistisch und machen kein Hehl aus ihrer Beeinflussung durch Medien und Werbung. Weichenstellungen der Sozialdemokratie haben in Österreich das Überleben einer hermetischen Avantgarde erlaubt, die zum Sprachspielerischen, Experimentellen tendiert, für exklusive Kleinzirkel schreibt und - was nicht selbstverständlich ist - staatlich anerkannt ist, (Büchner-)Preise und Ehrungen bekommt. In Deutschland ist eher eine Abkehr von experimentellen Schreibweisen festzustellen, gefordert wird zunehmend, daß die Literatur nicht systematisch an den Interessen breiter Leserschichten vorbeischreiben und Kapitalismus, Medien und Konsum als Herausforderung begreifen solle.
Über Frankreich berichtet Zeyringer. In den Augen der französischen Presse und Intelligenzia ist Österreich ein Land des Verdrängens und der Xenophobie. Österreich-Kritiker wie Le Rider und der große Vereinfacher Bernard Henry-Lévy tragen dazu bei, daß das von Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek vermittelte Österreichbild als richtig und wahr empfunden wird. Von österreichischen Schriftstellern wird Leiden am Land und ständige Beschäftigung mit der Nazi-Vergangenheit erwartet, während französische historische Romane selten vor dem Hintergrund der Vichy-Regimes spielen, und die Berlusconi-Regierung hat die Gemüter längst nicht so erregt, wie die österreichische Schwarz-Blau-Koalition. In Frankreich wird Theater weniger politisch als ästhetisch bewertet, der Staat als Subventionsgeber verzichtet auf jede Form zensierender Eingriffe. In Österreich hingegen üben die Boulevardpresse und gewisse politische Kreise scharfe Kritik. Schimpftiraden auf die Grande Nation auf der Bühne der Comédie française wären allerdings undenkbar, und so bieten Bernhard und Jelinek, die Fragen artikulieren, die das Gemeinwesen und das Volk betreffen, ein poetisches Ventil. In Frankreich werden vor allem französisch-sprachige Bücher gelesen. An österreichischen Autoren sind vor allem Zweig, Schnitzler, Musil und Bernhard bekannt, Jelinek weniger, weil sie nicht in einem der großem Pariser Verlage publiziert. Literaten wie Modiano, Echenoz, Quignard, oder die Dramatikerin Jasmina Reza, die ein breiteres Publikum erreichen, werden durchaus auch von Kritikern geschätzt. In Österreich würden sie vermutlich nicht einmal ein Staatsstipendium bekommen, weil Lesbarkeit hier den Beigeschmack von Minderwertigkeit hat, und die Avantgarde nicht kritisiert werden darf. Einen großen Unterschied gibt es im Umgang der Literatur mit der Sexualität. Während bei Angot, Millet und Houellebecq die Provokation einer im Vergleich ziemlich prüden Gesellschaft im Vordergrund steht, geht es bei Jelinek, Reichart, Wogrolly u.a um Sprachfindung für das Obszöne und den Körper.
Aus Italien berichtet Haas: Dort ist die österreichische Literatur noch weniger präsent als in Frankreich. Das Österreichbild, das eine Zeitlang von Magris' Habsburg-Mythos beherrscht war, hat sich seit der Waldheim-Affaire ins Negative verkehrt, woran z.T. verdrehte, verkürzte Meldungen wie die Behauptung, Schriftsteller seien gezwungen, ins Exil zu gehen, schuld sind. Daneben gibt es ein verkitschtes Österreich-Bild, zu dem u.a. die Kulturinstitute beitragen. Man kennt allenfalls die Autoren der Wiener Moderne, und von den Neueren Handke. Die Wiener Gruppe ist praktisch unbekannt und die Österreich Erklärer Scharang, Turrini, Roth, Haslinger, Menasse interessieren allenfalls Germanisten, nicht aber die breite Öffentlichkeit. Da kleine Verlage von der Presse nicht wahrgenommen werden, ist Jelinek nicht präsent, während die letzten beiden schlechten Romane von Robert Schneider, der bei Einaudi publiziert, mit milder Nachsicht besprochen wurden. Jelinek und andere Sprachspieler stellen natürlich auch die Übersetzer vor fast unlösbare Schwierigkeiten. Absolute Renner unter den italienischen Autoren, die auch exportiert werden, sind Camilleri, Eco, Tamaro und Baricco.
Das Abschlußgespräch nimmt verschiedene Themen wieder auf, wie z.B. den Aspekt der Unterhaltsamkeit und daß in Österreich Erzählen und Leselust negativ beurteilt werden. Schuld daran sei u.a. die auf der Genieästhetik der Weimarer Klassik basierende Vorstellung, Kunst sei per se eine ernste Angelegenheit. Während es in früheren Zeiten den Hanswurst, Nestroy und die Wiener Gruppe gegeben habe, für die Kunst nicht automatisch heilig war, fände derzeit eine Sakralisierung statt. Des weiteren wird festgestellt, daß die Avantgarden, die anderswo weitgehend abgelöst seien, in Österreich überdauert hätten, daß wichtige Literaturpreise (z.B. der Prix Goncourt) in Frankreich kaum dotiert sind, aber die Verkaufszahlen der ausgezeichneten Bücher steigern, während das österreichische Preis- und Stipendien-Vergabe-System bewirke, daß manche Autoren schreiben, wie es die Jurys von ihnen erwarten. Die abschließende Überlegung, was man in Österreich von der tschechischen, dänischen oder belgischen Literatur wüßte, relativiert die narzißtische Kränkung, die das geringe Interesse des Auslands an der einheimischen Literatur darstellt. Ein sehr interessantes Buch, und eine Pflichtlektüre für österreichische Autoren.

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Egon A. Prantl, Die Hörspiele.
Die Zelle, Tender Wolf, The Radiotelegraphic Joyce, Idaho I (Das Original), Verhör. Mit einem Vorwort und einer Bibliographie von Prantls radiophonen Arbeiten (eap on the air!) von Verena Teißl und einem Nachwort von Martin Sailer
Innsbruck: Skarabaeus, 2002, 290 Seiten.

AugenHören, OhrenSehen oder die Gefangenen der RaumZeit

Seit er 1983 mit „Die Nacht der augenscheinlichen Becuntschaft“ und dem dadaistischen Gustostückerl „Fasanbraten nebst Maroni-Püree und Serviettenknödel“: „Eine lyrische Novelle aus jenen Tagen, in denen die Erde noch ein Quader war“ im Rundfunk debütierte, hat der Tiroler Dramatiker, Romancier und poète maudit Egon A. Prantl eine ganze Reihe von Hörspielen geschrieben. Die meisten davon waren für den ORF bestimmt und wurden auch gesendet.
Eine bei Skarabaeus erschienene Anthologie macht nun endlich einige Hörstücke von (eap) - so die an Edgar Allen Poe erinnernde Sigle, mit der er zeichnet - dem Lesepublikum zugänglich. Die Textfassungen wurden von Verena Teißl (die schon die Druckversion von „Villingers Kinder“ betreute), ausgewählt und durch ein Vorwort und eine teilweise kommentierte Bibliographie der radiophonen Arbeiten ergänzt, womit ein erster Schritt zur wissenschaftlichen Erfassung dieses Autors getan ist (der ein dankbares Sujet für eine Dissertation abgeben würde.) Martin Sailers Aufsatz befaßt sich mit dem poeta doctus und Sprachjongleur Prantl aus der Sicht des Rundfunk-Praktikers.
Der Band enthält fünf Stücke, die unterschiedlicher nicht sein könnten. „Die zelle als rot gedacht – eines morgens“ (1983, gesendet 1986) ist ein szenisch-dialogisches Hörspiel, in dessen Zentrum ein Konflikt zwischen dem inhaftierten Revolutionär Schorsch und dem "Besucher", einem erfolgreichen Politiker, steht. Die Konfrontation ist Teil eines Wettkampfs, den die beiden seit ihrer Kindheit austragen. Der Gefangene gewinnt auf der Realitäts-Ebene des Spieles, verliert aber auf jener der realen Wirklichkeit. Die vorliegende Version ist komplexer als die seinerzeit vom ORF bearbeitete, die „Die zelle“ als intra-personales Drama im Kopf eines in sich geschlossenen und sich selbst belügenden Menschen interpretierte.
Während Die Zelle von dem witzigen Einfall lebt, Tätigkeiten hörbar zu machen, die sich die Figuren nur vorstellen, und deshalb nur als Hörspiel denkbar ist, ist „= Tender Wolf = over "The m/nightyQueen": 'zur Sonne'“ (1987, gesendet 1988) "1 narrativum" (63), in dem die Musik aus dem Wurlitzer zumeist assoziativ und nicht bedeutungsvertiefend eingesetzt wird. So erklingt z.B. zu "Zugang zu'nn FreiMaurern 'sue' erlangen" Jo[h]nny Cashs "A Boy Named Sue" (68). „Tender Wolf“ ist ein Totengespräch - eine Gattung in der Lukian, Fénelon, Fontenelle und Wieland brillierten: eine im Jenseits stattfindende Unterhaltung von historischen oder fiktiven Personen, die sich in Wirklichkeit nie begegnet sind – in unserem Fall eine Unterhaltung zwischen Mozart und Jimi Hendrix, die gattungskonform nicht über Musik sprechen, wie man erwarten würde, sondern über Drogen, den Tod und Todesboten in den Mythen verschiedenster Völker, die Pest, schwarze Magie etc. Prantl reduziert Leben und Werk seiner Protagonisten auf die Skandalchronik, etwa im Fall Mozarts auf die mysteriöse Geschichte von der Requiem-Bestellung (78-79) und das Vergiftungs-Gerücht, wobei nicht Salieri, wie z.B. in Peter Shaffers „Amadeus“ (1980), sondern die Freimaurer unter Mordverdacht geraten. (73, 84, 107) Beobachtet werden sie dabei von einem Wirt, der Züge des Autors hat, eine Parodie der Erzählsituation in „Finnegans Wake“ darstellt und eine Art Kommentar liefert.
Ein Ergebnis von Prantls jahrzehntelanger Beschäftigung mit „Finnegans Wake“ und dem „Roaratorio“ von John Cage ist das Hörstück „Radiotelegraphic-Joyce“ (1992). Es handelt sich um ein z.T. aleatorisch erzeugtes Kunstwerk (in der Tradition von Mallarmé, OULIPO, Sollers „Drame“ etc.). Prantl bildete auf der Basis des „Wake“ mit Hilfe mathematischer Formeln Mestosticha. Ein Mestostichon ist eine dem Akrostichon ähnliche Figur, bei der die in der Versmitte stehenden Buchstaben, hintereinander gelesen einen bestimmten Sinn – in diesem Fall den Namen JohnCage - ergeben. Der so gewonnene Text wurde mit anderen Texten (den benutzten Formeln, Bibel- und literarischen Zitaten), Musik und Geräuschen unterlegt.
„Idaho“ (1996) ist ein dramatisch-szenisches Hörspiel ohne herkömmlichen Plot und erinnert an das absurde Theater eines Samuel Beckett (z.B. „Fin de partie“) oder Edoardo Sanguineti. Das "Personal" sind ein alter Mann und eine junge Frau, die beide unter einer Krankheit leiden, die sie bei lebendigem Leib verfaulen läßt. (180, 186) Er ist blind und sie taub; nichtsdestoweniger geht er leidenschaftlich gern ins Kino, und sie liebt Musik. Das Stück spielt in einer "antiWelt", in der teilweise andere Naturgesetze wirksam sind als in der unseren und in der ein nicht genauer bezeichnetes Kollektiv (sie) Krieg führt (164) und Löcher und unterirdische Gänge gräbt. (160) Die von den Protagonisten als apokalyptisch empfundene Situation ist vermutlich die Strafe einer höheren Instanz, die sich wie Godot nicht zeigt. Die Moral des Stücks ist paradox wie ein Zen-Rätsel: die Suche der Protagonisten endet damit, daß sie sie aufgeben.
In „Verhör“ (Live-Uraufführung am 25. September 2001 im ORF Kulturhaus Innsbruck, Regie Martin Sailer) geht es inhaltlich um die andauernde Missachtung der Genfer Konvention vom 27.7.1929, die die Behandlung von Kriegsgefangenen regelt und u.a. Verstümmelung, Folterung und Hinrichtungen ohne vorhergehendes Urteil eines bestellten Gerichts in einem rechtsstaatlichen Verfahren verbietet. Das Stück ist größtenteils in reimlosen Versen geschrieben. Die Sprecher bilden zwei Gruppen. Mann'O'Mann, der Folter und Verhör ausgesetzte Gefangene und zwei ihn dabei beobachtende Frauengestalten sind überindividuelle Typen. Die als Chor/Delinquent bezeichnete Entität besteht dagegen aus einer Reihe individualisierter, historischer oder fiktiver Personen, z.B. Lord Byron, Richard III, Hitler und Stalin, Ulrike Meinhof, De Sade etc., die alle ihren Fall in Zusammenhang mit der Genfer Konvention bringen und so den Bezug zwischen dem Thema und der sehr komplexen Realität herstellen. Nach einer anderen Lesart geht es um Dichterwehen und die indifferente bzw. sich daran aufgeilende Umwelt. Anklänge gibt es bereits an einen neuen 2-Akter von (eap) AK-47.THE ART OF MURDER (2002, geplante Uraufführung in Schwerin), in dem es um Selbst/Mord als Kunstwerk geht, sozusagen eine übersteigerte Variante von Performances, wie sie u.a. Marina Abramovicz und Elke Krystufek veranstaltet haben oder die von Orlans als Kunst inszenierten Schönheitsoperationen.
Zusammenfassend wäre zu sagen, daß Prantl dem Gesamtkunstwerk-Charakter des Hörspiels durch präzise Regieanweisungen und die genaue Bezeichnung der zu verwendenden Musik Rechnung trägt. Formal ist er erstaunlich experimentierfreudig: Die Bandbreite seiner Versuche reicht vom mathematisch generierten Text des „Radiotelegraphic Joyce“ bis zum absurden Hör-Theater „Idaho“. Sprachlich ist ein ruhigerer Duktus festzustellen als in seinen Bühnenwerken, die Radioarbeiten wirken glatter und thematisch weniger provokant. Aus literaturkritischer Sicht gehören „Idaho“ und das „Verhör“ sicherlich zum Besten, was (eap) geschrieben hat. Es wäre erfreulich, wenn sich Skarabäus zu einem Nachfolgeband entschließen könnte, der weitere Hörspiele, wie z.B. den erwähnten „Fasanbraten“, die in Zusammenarbeit mit Manfred Mixner entstandene Collage „Flusstraum“ (1990), Die Nacht des „Liberty Valance2 (1995) oder das "Kammerspiel" „Omaha“ (1999) enthielte.

Bibliographie:
Grissemann, Stefan: "Wozu überhaupt noch?" Profil 6, 3.2.2003, S. 114-117.
Joyce, James: A Shorter Finnegans Wake. Hrsg. Anthony Burgess. London: Faber & Faber, 1966.
Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 1999, S. 251-252.
Prantl, Egon A.: AK-47.THE ART OF MURDER.. Wien: Sessler, 2002.

Gesendete Hörspiele:
Prantl, Egon A.: Die Zelle. Interview mit (eap). Produzent: ORF-Hörfunkintendanz. Regie: Augustin Jagg. Ton: Alfons Galotti. Schnitt: Gabriele Nell. Mit: Günter Einbrodt, Wolfgang Böck, Hans Piesbergen. Erstsendung (Welt der Literatur): 27.5.1986, 59'20''. Eine Kopie des Mitschnitts des Autors wurde mir dankenswerter Weise von Fabian Kametz, der einige Prantl-Uraufführungen inszenierte, zur Verfügung gestellt.
Prantl, Egon A.: Tender Wolf. Produzent: ORF Tirol. Regie: Josef Kuderna. Mit: Robert Hauer-Riedl, Rainer Egger, Johann Nikolussi. Erstsendung (Kunstradio): 7.7.1988. Dauer: 44'50''.
Prantl, Egon A.: The Radiotelegraphic-Joyce. Gespräch mit eap und Petra Rosa von Süss. Gestaltung: Petra Rosa von Süss. Regie: Egon A. Prantl, Reinhard Handl. Ton: H. Wieser. Mit: Rainer Frieb, Howard Nightingale. Erstsendung (Kunstradio): 2.7.1992, 44'30''. Eine Kopie wurde mir von Regisseur Fabian Kametz zur Verfügung gestellt.

Tonträger:
Cage, John et al: Roaratorio. Audio CD. Wergo, Ars Acustica, 1994.

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Egon A. Prantl, Villingers Kinder.

Stück in I Akt. Das Stück basiert auf dem Hörspiel IDAHO. Uraufführung: 17.10.1999 am Tiroler Landestheater. Regie: Thomas O. Niehaus.
Innsbruck: Skarabaeus, 1999, 159 Seiten.

"Grauen und Schauder / ob gräßlichster Schande" (Walküre II, 3)

Werner Villinger, der Protagonist von Egon A. Prantls Stück „Villingers Kinder“, ist eine historische Figur. Er war ein vielfach ausgezeichneter Kinder- und Jugend-Psychiater und Eugeniker, d.h. ein Vertreter jener frühen Richtung der Humangenetik, die ihr Ziel darin sah, die Erbanlagen der Gesamtbevölkerung langfristig zu verbessern. Deshalb befürwortete er (bereits 1926) die Zwangssterilisation "Erbkranker" und wurde (1941) Gutachter der T4-Aktion, in deren Rahmen "minderwertige" Kinder und Jugendliche getötet wurden, und gestattete an seiner Breslauer Nervenklinik Humanversuche mit Hepatitis-Erregern. Ungeachtet dessen setzte das Kriegsende seiner Karriere kein Ende. Zuletzt war er Ordinarius für Psychiatrie und Nervenheilkunde in Marburg. Erst 1961, kurz nachdem er sich als Sachverständiger eines Bundestagsausschusses gegen eine Entschädigung von Zwangssterilisierten ausgesprochen hatte (weil dies zu einer "Entschädigungsneurose" bei den Betroffenen führen könne) wurde sein Fall im „Spiegel“ aufgerollt, (Beitrag "Die Kreuzelschreiber", am 3. Mai 1961) und er mußte sich in Limburg vor dem Marburger Amtsgericht verantworten.
Das Stück beschäftigt sich mit den mysteriösen Umständen, unter denen er am 9. August 1961 während einer Bergtour in der Nähe von Innsbruck tödlich verunglückte. Auf das Sujet stieß der Dramatiker, nach eigenen Angaben, in Walker Percys Roman „The Thanatos Syndrome“, der Euthanasie als zwangsläufige Folge ehrgeiziger Projekte zur Schaffung einer schönen neuen Welt darstellt. Als Vorläufer innerhalb des eigenen Werks nennt Prantl "IDAHO (#1)=THE ORIGINAL" (5), ein Hörspiel, das soeben bei Skarabäus erschienen ist, einen Text, der an Becketts „Fin de partie“, Edoardo Sanguinetis Dramen und Hörspiele erinnert. Die einzig auffällige Parallele zu „Villingers Kinder“ ist freilich, daß hier wie dort eine Figur ein brandiges, stinkendes Bein hat.
Bei Prantl ist Villinger nicht zu einem Kongress angereist, sondern um sich auf seinen (d.h. weitere Verhöre im Limburger) Prozeß vorzubereiten. Er ist 60 und schwarz gefärbt, (S. 6) während er in Wirklichkeit 74 und kahlköpfig war. (Internet) Der "ZeitFaktor", sagt der Autor, spiele keine Rolle "da der WahnSinn nach 1945 nicht aufgehört" habe: "nein! -: Er ist schlimmer geworden. Zur Gewohnheit fast!" (S. 5)
Als Kontrahenten stellt Prantl dem Psychiater einen Hüttenwirt, der sich selbst als Rechtsphilosophen bezeichnet (S. 33) und dessen drei Kinder gegenüber, die mit Hegel (S. 67), (schlecht verdautem) Popper (S. 67) und Jung (S. 112) um sich werfen. Im Laufe der Diskussionen verschieben sich allerdings die Fronten und Sympathien auf unerwartete Weise. Villinger, der als dünkelhafter (S. 10, 13) Kindermörder eingeführt wurde, erscheint letztendlich auch als Opfer eines Zeitgeists, der sich von Haeckels Mißverständnis der Darwinschen Theorien als Aufforderung, Sozialtechnik zu betreiben, von Hegels Mythologisierung des Staates, Nietzsches Proklamation des Übermenschen, den Schriften früher Eugeniker wie Frances Galton oder der zitierten „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ des Psychiaters Alfred Hoche und des Strafrechtslehrers Karl Binding, (S. 57, 83) sowie Rassenanthropologen wie Arthur Gobineau und Houston Steward Chamberlain nährte. Villingers Freitod im Schneesturm – denn die Wirtsleute vergeuden ihre Energien in familieninternen Konflikten, so dass die Lage nicht wirklich bedrohlich für ihn ist – hat etwas Heroisches: Er verurteilt noch im Abgehen die Heuchelei der anderen und bekennt sich zu seiner "Wahrheit". Damit erweckt er den Eindruck, er sterbe für seine Überzeugungen, und das nötigt allemal Respekt ab, auch wenn er im Unrecht ist. In dieser Hinsicht gleicht er Lydia, die "das wirkliche Leben" wählt und "frei sterben" will. (S. 117) Inwiefern der Drogenrausch – nur dieser erlaubt ihr, die Schmerzen, die ihr das brandige Bein verursacht, zu ertragen –"wirkliches Leben" genannt werden kann, bleibt dahingestellt. Der Wirt hingegen, mit dem man anfangs fast sympathisiert – selbst wenn den einen oder anderen Leser von Poppers „Offener Gesellschaft“ angesichts seiner Reden über Hegels „Philosophie des Rechts“ leises Misstrauen beschleichen mag - entpuppt sich ab Szene 8 als ein Vertreter der "graue[n] dumpfe[n] Masse" (S. 131) derer, die nichts sehen und nichts hören, hinterher nie dabei gewesen sind, nichts gewußt (S. 132) oder vergessen (S. 131) haben, sich auf "die Mentalität des Landes" (S. 123, 93) herausreden und, wenn man tiefer gräbt, Leichen im Keller liegen haben – der Wirt hat seine untreue Frau ermordet. Im Laufe des Stücks erscheint Villinger immer mehr als Vertreter einer Elite, die diese Masse belügt und lenkt, aber mit ihr in einer Kollisionsbeziehung steht, weil die Masse belogen und gelenkt werden will: (S. 116, 121) "Zwei Arschlöcher haben sich gesucht und gefunden", (S. 78) konstatiert Alfons sehr richtig.
Eine der vielen literarischen Folien, die Prantl in „Villingers Kinder“ benutzt, ist der erste Abschnitt der skandinavischen „Volsunga Saga“, die Geschichte der inzestuösen Geschwister Sigmund und Signy, bzw. – näherliegend - der erste Akt „Walküre“. Der Dramatiker übernimmt nicht den Plot, wie Richard Wagner, sondern ordnet Motive häufig anderen Figuren zu. So spricht etwa der Wirt von einem mysteriösen Gast, an den ihn der Arzt erinnere (S. 30, 50) was mit Sieglindes Erzählung von Wotans Besuch korrespondiert. Alfons will wissen, ob Villinger der "namenlose Fremde" sei, und spielt auf Siegmunds Namensgebung durch Sieglinde an: "Nenne mich du,/ wie du liebst, daß ich heiße:/ den Namen nehm ich von dir!" Villinger wird also einmal mit Wotan und einmal mit Siegmund gleichgesetzt. Andererseits entspricht auch der Vater des inzestuösen Geschwisterpaares, der Wirt, der nicht sieht (nicht sehen will), was um ihn herum vorgeht, dem einäugigen Wotan. Wie Siegmund in Hundings Hütte gelangt Villinger auf der Flucht vor seinen Feinden in das Schutzhaus, der Schneesturm mitten im Sommer verhält sich – sozusagen -umgekehrt proportional zu "Winterstürme wichen / dem Wonnemond". Alfons und Lydia sind ein heroisches Liebespaar wie die Wälsungen: er berichtet auftretend von einem "glänzende[n ...] grandiose[n] Kampf". Sie schwärmt vom Sturm und gefährlichen Kletterpartien. Der Liebesakt zwischen den Geschwistern (S. 65, 81, 125 etc.) findet bei Prantl im Eis statt, was in den Kontext des Wagnerschen Bären- und Thomas Mannschen Eisbärenfells (in der Novelle Wälsungenblut) paßt, auch wenn es nicht der gemütlichste Ort für dergleichen ist. So verwundert es auch nicht, daß der Kommentar des Humangenetikers zur Blutschande: "Und wenn schon: Dann richtig (Pause) Durch den Inzest der Inzucht der arischen Rasse eine neue Bedeutung / (Pause)" nüchterner ausfällt als das entsprechende "so blühe denn, Wälsungenblut!" des Bayreuther Meisters, von dem der folgende Stabreim stammen könnte: "Sinnlos lallende Lügen glaubend." (S. 140) (alle Zitate Walküre I,3)
Auch bei Shakespeares Tempest macht Prantl Anleihen, nicht nur insofern, als der Sturm hier wie dort Katalysator für menschliche Konfliktsituationen ist, sondern auch durch Übernahme eines längeren Zitats, in dem er der "Leute Tracht" in der "Leute Niedertracht" verwandelt und das er durch einen Blankvers aus der eigenen Werkstatt ergänzt, der metrisch tadellos ist, was eap zumindest durch Verschiebung der Versgrenze sabotiert: "Und zwar so stark, daß sie den Mond im Zwange hielt - und ihn / beherrschte, seiner Macht entrückt." (S. 149) Zitiert werden auch Canettis Masse und Macht (S. 140) und die Bibel (Hiob 4.13 (S. 150), 3 Moses 20, 9 bzw. 20, 17 (S. 134). Das „Vater Unser“ und das „Ave Maria“ werden parodiert. (S. 133-134) Die Geschichte der Blutschande Noahs und seiner Töchter, aus der Stalin hervorgeht, (S. 115) bildet eine Art Kontrapunkt zum Wälsungen-Inzest, der zur Geburt Siegfrieds, des "furchtlos freiesten Helden" führt. (Walküre III, 3) An dieser Stelle vielleicht ein kleiner Exkurs in die Naturwissenschaft: Inzest ist nur dann "schlecht", wenn es in der Familie eine Erbkrankheit gibt, die im genetischen Material beider Eltern angelegt ist. Dann nämlich steigt das Risiko der Nachkommen, daran zu erkranken.
Zum Abschluß noch eine Textstelle, deren Wortlaut verändert und deren Sinn ins Gegenteil verkehrt wurde, weshalb der ehrgeizige Leser, der darauf anspringt, daß "eine humanistische Bildung doch von Wert wäre", zwei Seiten weiter erfährt: "Da steckt er einmal die Nase in den Aischylos [...]" und die Passage folgerichtig in den Chorpartien der Eumeniden sucht, schwerlich fündig wird. Zum Vergleich:
Orestes: Herrin, Herrscherin, / Athene / auf Befehl Apollons komme ich hierher, / nimm den Alastorschweren, / den Fluchbeladenen gnädig auf. / Er fleht nicht um Entsühnung, / er hat keine unreinen Hände mehr. / Stumpf ist er geworden / und schon abgerieben / durch die Berührung mit Menschen / in Häusern und Straßen. / Festland wie Meer habe ich durchmessen; / den Seherspruch des Loxias / im Herzen tragend / nahe ich mich / deinem Haus und deinem Bild, Göttin. / Hier bleibe ich / und warte auf den Ausgang des Gerichts. (Eumeniden 229-246)
Alfons: [...] Fluch über dich, sodenn, Athene Herrin, auf Loxias Geheiß kommt er; so nimm ihn nicht auf den BlutVerfehmten! (Pause) Mehr noch mordbefleckt und mit ungesühnter Hand und nicht abgestumpft und verschliffen sei der Fluch – auf vielen Wegen und in fremder Menschen Haus – umhergeflohen so über GehirnLänder und über die See der Seele. (Pause) Der Weisung folgend welche dir das Orakel beschied – kniest du im Staub nahe dem Hause, dem Bilde der Göttin, du – und harren sollst du, warten auf des Gerichts Beschluß (Pause) doch gnadenlos soll dieser sein. (S. 135)
Bei der Uraufführung von Politik und Presse als das "Hohelied der Behinderung" gefeiert, wirft das Stück bei der Lektüre mehr Fragen auf, als es beantwortet: War die Zwangssterilisation, z.B. einer geistig Behinderten, zu einer Zeit, als es keine Pille gab, wirklich so verwerflich, wie man spontan geneigt ist zu urteilen? Ist ( z.B. angesichts der aktuellen Diskussion um den Selbstbehalt von Patienten) Villinger nicht nur realistisch, wenn er sagt, weder die HerrenRasse noch die SklavenRasse könne und wolle sich Behinderte leisten: "Auch die UnterMenschen müssen psychisch & physisch funktionieren". (S. 102) Der Wirt, der Euthanasie verurteilt, aber seine Tochter mit dem brandigen Bein als "Klotz am Bein" (S. 88, 94) empfindet und sie deshalb am liebsten erschießen würde, führt auf erschreckende Weise vor Augen, wie scheinbar lächerliche ökonomische Zwänge auf die persönlichen Werthaltungen Einfluß gewinnen können, und die schwierige Frage, ob ein Arzt auch gegen den Willen des Patienten zur Erhaltung des Lebens verpflichtet ist, wird am Beispiel Lydias demonstriert, die den Tod einem Leben mit amputiertem Bein vorzieht, (S. 116-117) während ausgerechnet Villinger, der Euthanasie-Arzt, zur Beinabnahme rät. (S.80) Prantl macht es uns – wieder einmal - nicht leicht. Vorgefertigte Antworten liefert er keine – und das ist herzerfrischend in einer Zeit grassierender politischer Korrektheit.

Bibliographie:
Aischylos. Die Orestie. Übers. Peter Stein. München: C.H. Beck, 1997.
Prantl, Egon, A. Die Hörspiele. Innsbruck: Skarabaeus, 2002.
Popper, Karl R. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. 2 Bde. Tübingen: Francke, 1958.
Shakespeare, William. Der Sturm. Übers. August W. Schlegel. Shakespeares Werke in zwölf Teilen. Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart: Bong & Co, [?].
Wagner, Richard. Die Walküre. Stuttgart: Reclam, 1988.
Internet-Artikel:
Müller-Küppers, Manfred. "Die Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie unter besonderer Berücksichtigung der Zeit des Nationalsozialismus." http://www.kinderpsychiater.org/forum/for201/forum201.htm
Schäfer, Wolfgang. "Beiräge zur Geschichte der Marburger Kinder- und Jugendpsychiatrie." http://gw-marburg.online-h.de/screens/rueckblick/psychiatrie.htm
Artikel auf italienisch zu: Euthanasie, Aktion T4, Sterilisation, Maximilian de Crinis, Werner Heyde, Paul Nitsche, Wannsee-Konferenz (7 Seiten), Protokoll der Wannseekonferenz (9 Seiten), Brief v. Wilhelm Stuckart unter:
http://www.olokaustos.org/

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Egon A. Prantl, Hirntod: Ein Stück in vier Bildern.
Innsbruck: Skarabaeus, 2001, 92 Seiten.

Uraufführung: Dezember 2000 im Schauspielhaus Wien, Regie: Fishy Wurm.

Dem Duden (1996) zufolge bezeichnet der Begriff „Hirntod“ den "Zeitpunkt endgültigen und vollständigen Erlöschens der lebensnotwendigen Gehirnfunktionen". Egon A. Prantl verwendet das Titelwort seines Stück in vier Bildern jedoch ausschließlich in der Bedeutung „verrückt und verbohrt“, (18, 42) als Steigerung von „hirnkrank“. So übersetzte Dorothea Tieck „brainsickly“ in „Macbeth“ II, 2. Wir werden auf Shakespeares Tragödie zurückkommen.
Der Plot von „Hirntod“ benutzt die Handlung von Goethes Faust als Folie: Das erste Bild zeigt den Protagonisten Bürger in seiner Studierstube über philosophischen Problemen brütend. Wie Faust unterbricht er seine Arbeit an einem „Opus magnum“ - in seinem Fall, einem Werk über die Gewalt - um sich ins Leben zu stürzen: Hubsls Kneipe, in der er landet, entspricht Auerbachs Keller; die philosophierende Nutte Krista korrespondiert mit den Walpurgisnacht-Hexen, Margarethe (deren Begegnung mit Faust in Bild 2 (S. 47) verfremdet zitiert wird) und Helena; Bürgers Versäumnis, Krista gegen ihre Vergewaltiger beizustehen, spiegelt Fausts Unterlassungssünde in der Gretchentragödie, die Ermordung von Tom & Jerry jene Valentins.
Anlässe zur Entstehung des Dramas waren die Erfahrung, was eine Waffe in der eigenen Hand bewirkt, die der Dramatiker 1967 während seines Präsenzdiensts an der Brennergrenze machte, (Internet) und wohl auch die regelmäßig aufflammende Diskussion um privaten Waffenbesitz.
Der Name des Protagonisten – Bürger - kann angesichts der Selbst-Inszenierung des Autors als Bürger-Schreck nur negativ belegt sein. Prantl beschreibt ihn mit einem Nietzsche Assoziationen beschwörenden Oxymoron: "Philosoph; wahnsinnig", folgert widersprüchlich: "und deshalb normal" und stellt die Aussage insgesamt durch ein "oder?" (S. 3) in Frage. Kristas Berufsbezeichnung, "Schöne der Nacht", wandelt den Filmtitel „Belle du jour“ teilweise ab. Tom & Jerry sind Gewalttäter und keine Antagonisten und Komplementärfiguren wie im Comic. All das zeigt Prantls Vergnügen an logischen Spielereien und rhetorischen Figuren (siehe auch die Lehrveranstaltung über Lewis Carroll's „Alice“-Erzählungen in seinem Curriculum) und legt nahe, daß das Drama in keiner konsequent verkehrten Gegenwelt spielt, sondern in einer, in der Aussagen generell zu hinterfragen sind.
Sicherlich deckt sich vieles in den bernhard-artigen Tiraden von Prantls Antihelden mit Meinungen des Autors, ebenso wie sein Kulturpessimismus, der in der Dichotomie „Zivilisation“ (oft in der US Bedeutung des Wortes) – „Wildnis“ fußt, wobei der Autor diesen Begriff synonym für ein geographisches Outback, die Welt der Gesetzlosen, des Wahnsinns und des kreativen furor verwendet. Auch sind offenbar beide "wollüstig entsetzt über diese Seltsamkeit der Faszination / welche die Angst und die Gewalt einerseits / und diese Macht welche nur die Waffe verleiht / andererseits / auf [sie] ausüben". (S. 76. Siehe auch 67, 79, 80)
Reduktionistisch erscheint Bürgers Deutung des Phänomens der Gewalt als alleinige Ursache und Folge der genannten Missstände. Der Zusammenhang zwischen Aggression und Gewalt ist in „Hirntod“ kein Thema. Das Wort Aggression kommt im Stück ein einziges Mal, und zwar in der Bedeutung „Aggressionsakt“ vor: "Die Waffe [...] [e]ine [...] Verstärkung [...] und Absicherung seiner Aggression" (S. 41). Der vernachlässigten anthropologischen Sichtweise kommt zwar die in der Tradition von Thomas Hobbes' "homo homini lupus" stehende Feststellung: "Der menschlichste Mensch ist die Brutalität an sich / Die wahre Bestie". (S. 8) nahe. Ein solcher Pessimismus erscheint jedoch im Licht moderner naturwissenschaftlicher Erkenntnis nicht gerechtfertigt: Aggressivität ist angeboren, weil sie im Lauf der Stammesgeschichte einen Selektionsvorteil bedeutete. Die Bereitschaft zur Verteidigung des Territoriums, des Sexualpartners, der Brut und des eigenen Ranges, in Kombination mit ebenfalls angeborenen moralanalogen Verhaltensweisen (Beschwichtigungs-Mechanismen, Ritualen), erwiesen sich als arterhaltend, was sich in unserer positiven Bewertung solchen Verhaltens niederschlägt: Wir können nicht billigen, daß Bürger weder seinen Platz an der Theke, seine Zigaretten und sein Glas, noch Krista, noch seine Würde gegen die Aggressoren verteidigt. (S. 59- 73) Die heute viel beklagte Zunahme der Gewaltbereitschaft ist eine Folge davon, daß die genannten aggressionsabbauenden Verhaltensweisen in unserer multikulturellen, multimedialen Gesellschaft außer Kraft gesetzt werden, in der sich unser Herdentrieb, die Bereitschaft, uns charismatischen Führern zu unterwerfen, unsere Anfälligkeit für "Werte" und Feindbilder, Demagogie, mitreißende Musik, Rhythmus etc. verhängnisvoll auswirken. Ebenso setzen Schusswaffen - um auf „Hirntod“ zurückzukommen – die dem Menschen angeborene Tötungshemmung herab. Es ist leichter, jemand zu erschießen, als zu erschlagen oder gar zu erwürgen. (Lorenz 1963)
Dass Bürger, ungeachtet seiner ähnlichen ideologischen Ausrichtung, nicht einfach als Sprachrohr des Autors betrachtet werden darf, legen seine sprachlichen Manierismen nahe. Sein unsäglicher Fachjargon, seine Phrasendrescherei ("Der reine Geist mein Freund / Er ist nicht fähig zu morden". S. 36), sein philosophischer Synkretismus im schlimmsten Sinn des Wortes, seine Eitelkeit (" Ich weiß viel über die Gewalt meine Herren / Das kann ich ohne Übertreibung behaupten". S. 59), sein Mangel an Authentizität (Der Erwerb einer Waffe erscheint ihm "notwendig für ein Mehrwissen über die Gewalt". S. 21) und Zivilcourage machen aus ihm eine Intellektuellenkarikatur in der Art des Dottore der Commedia dell'arte, mit dem er die Loghorrhöe und den Hang zu Syllogismen teilt, die dem modus ponens Hohn sprechen: Er dreht die Kausalität um: "die Unabänderlichkeit der Entscheidung [Entscheidung wird "als Aufhebung des Problems" (S. 54) definiert] / hängt nicht vom Willen ab / [...] / Sie wird Dir aufgezwungen" (S. 53) und verletzt das Identitätsprinzip (A=A), jenes der Nichtwidersprüchlichkeit (A ist nicht ungleich A) und das des ausgeschlossenen Dritten (tertium non datur) mit unzulässigen Gleichsetzungen ("Und Spiel ist Kampf / und Kampf ist Krieg / Und Krieg ist Mord". S. 40) – die allerdings ästhetisch ansprechen. Problematisch wird Bürgers Anti-Logik jedoch, wenn er sagt: "Von diesen Genoziden will ich nicht reden / Nicht das Denken belasten im Mich mich nicht verrennen / durch MillionenMorde" und im Umkehrschluß - wie Rudi Dutschke, Jürgen Habermas (Mitt. eap) oder Bruno Bettelheim folgert: "Es gibt keinen Unschuldigen im Sinne der GewaltsThese im Heute im Rund-um-Uns / [...] / Im Mich ist genauso viel Schuld wie im Dir". (S. 52, siehe auch 51)
Bürger kantet und schopenhauert ("an sich"), hegelt ("Es ist unmöglich von draußen die Situation der Gewalt im Herinnen zu bekämpfen" (S. 44). Schlußsatz „Philosophie des Rechts“. Mitt. eap) und heideggert ("Sprich nicht die Rede im Augenblick" (S. 33) Siehe „Sein und Zeit“). Er zitiert Nietzsche (S. 78-79) und Trotzki (S. 48. Mitt. eap) und wärmt philosophische Probleme wie die Willensfreiheit (S. 52, 53), Gottesbeweise (S. 53,55) und die Trinität (S. 85) auf. Er verschränkt pervertierten Gödel und verdrehten Archimedes: "Wir wissen allerdings auch / daß in jedem System / und die jetztzeitige Gewalt ist ein solches / es den einen Punkt gibt der sich aus diesem Gewaltsystem nicht erklären läßt / Die Konsequenz wäre also die Erkundung dieses Punktes / einerseits / sowie die Eliminierung des Systems durch diesen Punkt / andrerseits" (S. 31) und badet in den Leiden der Hypothesen-Falsifikation: "Bis dann ein DenkProzeß oder eben ein völlig neuer Gedanke / unsere Arbeit von Jahren sozusagen über den Haufen wirft / schweigt / Dann gilt es unseren Schmerz / unseren Gehirnschmerz insofern zu bekämpfen / indem wir eine neue dem Gedanken vorgegebene Richtung einschlagen / und alles bisher Gedachte hinter uns lassen / trinkt / Es ist das bittere Los von uns Gedankenmenschen / die Niederlage nicht einfach zu akzeptieren / Nein wir müssen sie leben". (S. 38) Man könnte es schließlich auch so sehen, daß es "für den Forscher ein guter Morgensport [sei], täglich vor dem Frühstück eine Lieblingshypothese einzustampfen". (Lorenz 1963, 20) Dass der Autor nicht hinter diesem zum Selbstzweck verkommenen Philosophieren steht, zeigen amüsante Repliken, wie z.B. auf den folgenden Syllogismus, dessen erste Prämisse Mensch=Gewalttäter ist, was nicht unbedingt für Bürgers sprachkritische Haltung spricht:
Bürger: Denn wenn der Mensch [...] ein Unmensch also ein NichtMensch wäre
Dann wäre er nicht zur Gewalt fähig [...]
Krista: Der Umtrunk hat uns in seiner Gewalt
Hubsl: Eine Form der Gewalt die mir das Überleben sichert (S. 29)
Die idealistische Tendenz, das Geistige für wirklicher zu halten als die reale Wirklichkeit – Bürger erklärt die Waffe zu einer "Nur-Manifestation des Geistes" (S. 20) und meint: "Für unsereinen [...] ist die Waffe der verlängerte Gedanke" (S. 42) - steigert sich im Lauf des Stücks zu einem Wahn, der die Katastrophe herbeiführt. Er erklärt Kristas Vergewaltigung, die er mit angesehen hat, ebenso für "nicht wahr" (S. 73) wie den an diesem Punkt des Geschehens sinnlos gewordenen Mord. Im Schlussmonolog, in den Textpassagen der Lady Macbeth eingearbeitet sind, unterscheidet er sich dadurch von dieser, daß er, der Philosoph behauptet, daß "nichts passiert" sei, (S. 82) während die Wahnsinnige zu einer vergleichsweise existentialistisch anmutenden Akzeptanz der eigenen Schuld gelangt: "Was geschehn ist, kann man nicht ungeschehn machen." (Macbeth V, 1) "Die Lösung der Frage der Gewalt ist Widerlegung der Gewalt in ihrer Nichtexistenz / [...] / wenn ich die Gewalt leugne / kann ich auch nicht durch Gewalt umkommen" (S. 88) bestreitet Bürger, in seinem Solipsismis befangen, die Existenz einer Realität jenseits der eigenen Vorstellung und "drückt ab". (S. 89) Die "Ursachenforschung" (S. 78) und philosophische "AntiaggressionsArbeit" (S. 32) haben sich ad absurdum geführt. Fazit: Das sprachlich brillante und zweifellos sehr bühnenwirksame Stück „Hirntod“ entlarvt das Nichtengagement der postmodernen Intelligenzia als eine Form von Flucht und liefert damit einen wichtigen gesellschaftskritischen Beitrag.

Quellen:
Gespräch mit Egon A. Prantl am 31.1.03.
[?]: "Plädoyer für Zivilcourage." http://kultur.orf.at/orfon/kultur/001127-4571/4572txt_story.html
Lorenz, Konrad: Das sogenannte Böse: Zur Naturgeschichte der Aggression. München: Dtv, 1963.
Shakespeare, William: Macbeth. Übers. Dorothea Tieck. Stuttgart: Reclam, 1970, 2001.
Weiterführende Literatur:
Schönauer, Helmuth: "Egon A. Prantl: Hirntod." http://www.literaturhaus.at/buch/buch/rez/prantl1/

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Hubert Flattinger, Walt.
Wien: Sessler Verlag, 2002, (Stück in einem Akt, 2H, 1DEK, UA Dezember 2001, Treibhaus Innsbruck)

Mit Walt, einem Stück über Walt Disney, setzt der Tiroler Schriftsteller, Illustrator und Journalist Hubert Flattinger einem Mann ein Denkmal, der – so darf man wohl annehmen - für seinen eigenen Werdegang mit bestimmend gewesen ist. Weitere Stücke des Autors sind Manzinis größter Fall (UA 2000, Festival der Träume Innsbruck, Regie Anders Linder) und Höhenangst (Wien: Sessler, 2002, UA frei). Daneben hat Flattinger Erzählungen: Das Lied vom Pferdestehlen, Hall: Berenkamp, 2000, das Jugendbuch Die Tür nach Nirgendwo, Innsbruck: Tyrolia, 1996 und eine Reihe von Kinderbüchern veröffentlicht (Flattingers Kinderkram, Innsbruck: Löwenzahn, 2001, Kinderkram. Das fröhliche Mitmachbuch fürs ganze Jahr, Innsbruck: Löwenzahn, 2001. Wenn du glaubst, du bist allein, Gossau/Zürich: Nord-Süd, 2002, übers. in fünf Sprachen). Er gestaltet außerdem die jeden Samstag erscheinende Kinderseite der Tiroler Tageszeitung

Walt ist ein Stück für zwei reifere männliche Schauspieler, das sich ohne gewaltigen technischen Aufwand aufführen läßt. Der kurz zuvor verstorbene Walt Disney erscheint im Traum seinem ältesten Mitarbeiter, einem der Starzeichner des Unternehmens und Erfinder der Mickey Mouse, Ubbe Iwerks. Das sich entspinnende Gespräch dreht sich um die Disney Erfolgsstory und Walts wenig aufrichtiges Verhalten im Umgang mit seinen Untergebenen, die er zielsicher auszuwählen verstand und schamlos ausbeutete. Dennoch klagt das Stück nicht an, sondern bemüht sich um die sensible Darstellung eines Phänomens, das weder durch Genialität noch durch Skrupellosigkeit erklärt werden kann, und viel mit Selbstvermarktung und den Bedürfnissen einer Gesellschaft zu tun hat, die anachronistischen Idealen wie dem American Dream und einer konstitutionell abgesegneten Gleichmacherei zu tun hat. Thematisiert wird weiters die Relativität der Macht, die vor so trivialen Dingen wie Zahnweh oder lästigen Fliegen ihre Grenzen hat und die bedauerliche Verflechtung von Kunst und Kommerz, die besonders im Zusammenhang mit Fantasia deutlich wurde. Dieses vielleicht anspruchsvollste Walt Disney Projekt entwickelte sich im Anschluß an The Sorcerer's Apprentice, einen Mickey Mouse Film, dem der Inhalt der Goethe-Ballade und Paul Dukas' Zauberlehrlingsmusik zugrunde lagen. Da über Tausend Menschen an dem Film arbeiteten,  Künstler wie der Dirigent des Philadelphia Orchestra, Leopold Stokowski, der Komponist Deems Taylor und Salvador Dalì mitwirkten und ein völlig neues ein neues Klangsystem (Fantasound) geschaffen wurde, explodierten die Kosten. Die Synthese Trickfilm ohne Dialoge und unterlegt mit klassischer Musik von Bach, Tschaikowskij, Dukas, Strawinskij (der sich von dem Werk distanzierte), Beethoven, Ponchielli, Mussorgski, Schubert wurde von der Kritik unterschiedlich aufgenommen und erst ihm Lauf der Zeit ein Kultfilm.) Iwerks, der der genialere Künstler und "bessere Walt" ist, (32) und auch nicht von ungefähr das problematische Verhältnis von Kunstwerk und Künstler anspricht, (24) empfindet Walts Entscheidung, nach Fantasia nur mehr auf Nummer sicher zu gehen und das "Mickey Mouse Publikum" zufriedenzustellen, als Verrat am künstlerischen Ideal. Zu einer wirklichen Abrechnung zwischen den beiden Männern kommt es jedoch nicht, weil der Zeichner sich selbst treu bleibt und Walt unvermindert Wertschätzung und Loyalität entgegenbringt. Zahlreiche Zitate aus Disney-Filmen, Songs, eine Steppeinlage und am Ende ein Gag, der nicht verraten werden soll, ermöglichen den Schauspielern ihr Imitationstalent und ihre Virtuosität unter Beweis zu stellen. Ein berührendes Stück, das Kindheitserinnerungen auslöst und sich eventuell auch für ein Schultheater-Programm eignen würde.

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Hubert Flattinger, Höhenangst.
Wien: Sessler Verlag, 2002, Stück in einem Akt, 2H, 1DEK, UA frei

Höhenangst ist das dritte Stück des Tiroler Schriftstellers, Illustrators und Journalisten Hubert Flattinger, der bereits 2000 beim Festival der Träume in Innsbruck mit Manzinis größter Fall und Walt (Wien: Sessler, 2002, UA 2002 Treibhaus Innsbruck) in Erscheinung getreten ist. Flattinger hat Erzählungen: Das Lied vom Pferdestehlen, Hall: Berenkamp, 2000, das Jugendbuch Die Tür nach Nirgendwo, Innsbruck: Tyrolia, 1996 und eine Reihe von Kinderbüchern veröffentlicht (Flattingers Kinderkram, Innsbruck: Löwenzahn, 2001, Das fröhliche Mitmachbuch fürs ganze Jahr, Innsbruck: Löwenzahn, 2001, Wenn du glaubst, du bist allein, Gossau/Zürich: Nord-Süd, 2002, übers. in fünf Sprachen). Er gestaltet außerdem die jeden Samstag erscheinende Kinderseite der Tiroler Tageszeitung

In den letzten Jahren – das gilt für neue Dramen ebenso wie für die Inszenierung älterer Werke - werden Theaterstücke auffallend oft in ungewöhnlichen Räumen verortet: in Transportmitteln (Schiff, Flugzeug, Bus), an Orten, die einen Übergang von A nach B darstellen (Straßen, Brücken, Flugplätzen) oder in Gebäuden, in denen  flüchtige Begegnungen stattfinden (in Hotels, Diskotheken, Wartesälen, Bahnhofshallen, Ämtern). Solche Räume nennt der französische Ethnologe Marc Augé (der Vater des Begriffs der Surmodernité, die angeblich die Postmoderne abgelöst hat) in seinem Bestseller Non-lieux: Introduction a une anthropologie de la surmodernité (Paris: Seuil, 1992) Nicht-Orte - zum Unterschied von Orten, die dem Individuum, das sich dort befindet, Identität vermitteln und es an die Geschichte oder Tradition anbinden. Flattingers Höhenangst spielt an so einem Nicht-Ort, in einer Gondel der Ischgler Bergbahnen, in der Bob Dylan zu einem Konzert auf der Idalpe befördert wird (wo der Tourismusverband häufig Massenspektakel veranstaltet.) Da Bob Dylan die Berge verabscheut und unter Höhenangst leidet, hat der Liftangestellte und Karaoke-Sänger Alfred, der ihn begleitet, die Fenster sinnigerweise mit Tirolwerbungsposters verklebt. Dylan (trägt eine Bob-Dylan-Maske und) sagt während der ganzen Bergfahrt ein einziges Wort – No – als sein Begleiter fragt, ob er rauchen könne - aber das wird geflissentlich ignoriert. Alfred monologisiert. Halb auf Deutsch, halb in fehlerstrotzendem Schilehrer-Englisch gibt er jene Mischung an Plattitüden, Unsäglichkeiten und vernünftigen Ansichten von sich, die dem Schauspieler die Möglichkeit offen läßt, die Figur noch menschlich anzulegen oder aber satirisch zu überzeichnen. Es zeigt sich, daß dieser joviale, unverwüstliche Urtiroler mit seiner Herablassung dem Fremden gegenüber und mit seiner Verachtung für die Phobie des Musikers keinen richtigen Kontakt zu seiner Umgebung hat und seine Bedürfnisse nach menschlicher Nähe mit Hilfe von Substituten aus der Medienwelt auslebt, wie z.B. Lady Di, über deren Schicksal er Tränen vergossen hat. Er definiert sich ausschließlich über Photos und Scheinkontakte mit den Prominenten ("Ja, die Tina." "Ja, der Bobby und ich..." 19), die er auf die Idalpe begleiten darf, und stellt in Wirklichkeit eine existentielle Nullstelle dar, analog zur Gondel, die auch kein richtiger Ort ist. Ein interessantes Stück. Man freut sich schon auf Flattingers nächstes. 

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Egon A. Prantl, Obduktion: Titus A: GehirnMassenhaß: (Blut): (shakespeare fanatsies [sic] III). Stück in drei Akten. Innsbrucker Fassung.
Wien: Thomas Sessler Verlag, [o.D.], 165 Seiten.

Die Leiche, deren Obduktion Egon Prantl vorgenommen und der Regisseur Thomas Niehaus (im Rahmen des 1. Tiroler Dramatikerfestivals des Tiroler Landestheaters im Juni 2002 : http://www.landestheater.at/obduktion.html ) zum Leben erweckt hat, ist „Titus Andronicus“, ein Jugendwerk Shakespeares, auf den ersten Blick eine blutrünstige elisabethanische Rachetragödie. Nach zehn Jahren Krieg gegen die Goten, in dem 21 seiner 25 Söhne gefallen sind, gelingt es dem siegreichen Feldherrn Titus nicht, sich auf den Frieden umzustellen. Starrsinnig hält er an den Tugenden Ehre, Pflichterfüllung, Treue zu Herrscherhaus und Vaterland fest und begeht so eine Reihe politischer Fehler und Grausamkeiten: Er läßt den ältesten Sohn der Gotenkönigin Tamora als Totenopfer hinrichten, verzichtet zugunsten des Saturninus auf die ihm angebotene Kaiserwürde, verspricht ihm seine schon mit Bassianus verlobte Tochter Lavinia und tötet seinen Sohn Mucius, als dieser der Schwester zur Flucht verhilft. Als der von Lavinia zurückgewiesene Herrscher die Gotenkönigin ehelicht, schlägt für diese die Stunde der Rache: Ihre Söhne töten Lavinias Gatten, vergewaltigen sie und schneiden ihr Zunge und Hände ab, damit sie die Tat nicht verraten kann. Tamoras schwarzer Geliebter Aaron bezichtigt zwei Andronicus-Söhne des Mordes. Die beiden werden hingerichtet, obwohl der Vater sich zu ihrer Rettung eine Hand abhauen läßt. Sein letzter Sohn, Lucius, wird verbannt. Titus wird - oder stellt sich – wahnsinnig, tötet, zerstückelt und kocht die Söhne der Gotenkönigin und setzt sie dem Kaiserpaar zum Essen vor. Dann ersticht er Lavinia und Tamora, wird selbst von Saturninus und dieser von Lucius ermordet. Der überlebende Lucius bekommt die Kaiserwürde und befiehlt, den Mohren lebendig zu begraben.
Diese Moritatengeschichte macht den Philologen begreiflicherweise Probleme, denn ein Genie sollte eigentlich in allen seinen Schaffensäußerungen genial sein. So wurde zeitweise Shakespeares Verfasserschaft angezweifelt und das Drama Peele zugeschrieben. Dabei ließe sich das Stück rehabilitieren, wenn man dem Dichter konzedieren würde, daß die Komik des Titus nicht unfreiwillig sondern gewollt und die Tragödie die Parodie einer Tragödie ist, wie die opere regie der Commedia dell’arte mit ihren Leichenbergen. Die beiden Veroneser, Der Widerspenstigen Zähmung und Verlorene Liebesmüh‘ , die Shakespeare im selben Jahr (1593) schrieb, beweisen 1. seine Meisterschaft, 2. die relative Konstanz des als komisch Empfundenen über die Jahrhunderte hinweg und 3. daß der Theatermann Shakespeare nicht nur die italienische Literatur rezipierte, sondern sich auch für die Produktionen der Konkurrenz interessierte, denn in der letztgenannten Komödie gibt es zwei Commedia dell’arte-Figuren: einen Capitano (Don Adriano de Armado) und einen Dottore (Dorfschulmeister Holofernes).
Wenn also der Titus als Parodie jener Rache-Tragödien zu lesen ist, die zu Shakespeares Zeiten die Nachfrage nach „action“ befriedigten, hat Prantl nicht unrecht, seine „Paraphrase“ vor dem Hintergrund von Kriegs- und Kriminalfilmen anzusiedeln. Ähnlich wie Peter Sellars (1986 und 1987 beim Summerfare Festival in Purchase) Mozart-Opern ins zeitgenössische Amerika verlegte – „Cosí fan tutte„ spielte nach dem Vietnam-Debakel in „Despina’s Café“, „Don Giovanni“ im Mafia-Milieu - macht der Dramatiker die Andronicus-Familie mit ihrem patriarchalischen Machtgefüge zu einem Mafia-Clan, der vom Paten Sad-Saturninus regiert und zudem mit den Nazis in Verbindung gebracht wird. Die meisten Eigennamen sind amerikanisiert: Bassianus–Boss, Quintus–Quint, Marcius–Marc, Mucius–Mud. Den Verteidigern der „Festung Europa“ stehen statt der Goten eine ganze Reihe osteuropäischer und asiatischer, krimineller Gruppierungen (Triaden, Yakuza) und wirtschaftlicher Zusammenschlüsse (Kartelle) mit mafiösem Charakter gegenüber, deren Anführer Trotzkij bzw. König Etzel ist. Die Rolle des Lucius übernimmt Kriemhild, die sich, wie der Hunnenkönig, aus dem Nibelungenlied ins Stück verirrt hat. Demetrius–Emeta hat eine Geschlechtsumwandlung durchgemacht, und der Mohr Aaron trägt den Namen des schwarzen Bürgerrechtlers und Black Muslim-Führers Malcolm X. Dazu kommt ein Clown, der die Rollen weiterer Figuren übernimmt. Das Ende weicht von Shakespeare ab. Kriemhild überträgt Marcus Andronicus die Herrschaft und geht mit Etzel (oder Trotzkij) fort.
Als Basistext dient Prantl die hervorragende „Titus Andronicus“ Übersetzung von Ludwig Tieck, die er ziemlich wortgetreu übernimmt, aber durch den originalen Blankvers zerstörende Umstellungen und Einschübe (Fäkalsprache, Englisches) systematisch verfremdet:

Aaron:
Seid einig denn, und was euch trennt, versöhn‘ euch.
Mit List und Politik erreicht das Ziel,
Nach dem ihr strebt, und dies sei euer Plan.
Ihr könnt es nicht erlangen, wie ihr wünscht,
So nehmt es mit Gewalt denn, wie ihr mögt.
Ich sag‘ euch, keuscher war Lucretia nicht,
Als jetzt Bassianus‘ Weib, Lavinia.
Wir müssen diesmal schnellern Weg ersehn
Als langes Schmachten, und ich fand den Pfad.
(ShT (Tieck) II 1)

Malcom X:
Seid einig denn !Kids eint was euch trennt ! Versöhnt euch
Mit List&Politik nur erreicht ihr euer Ziel nach dem ihr strebt
Und dies sei der Plan !Nicht meiner der Eure
Wenn keiner kann von euch und keiner kanns
Lavinia zum Liebesspiel denn überreden
Dann nehmts euch mit Gewalt grad wie ihrs vermögt
Ich sags euch wissend und keuscher war die Borgia nicht
Als nun es vorgiebt keusch zu sein die Frau des Boss
Wir !Ja müssen diesmes Mal nun schnelleren Weg erschauen
Als schmachtend Buhlen&Bezircen ?Und :Da ist er schon der Pfad
(PT, S. 78)

Außerdem gibt es mittelhochdeutsche Passagen aus dem Nibelungenlied, die von Kriemhild, dem Clown und Etzel vorgetragen werden, und - ebenfalls durch Schreibfehler, Einschübe und Substitution - verfremdete Texte aus Ovids Metamorphosen:

Muneris alterius quae sit fortuna ?requiris [?]
Accipe Mirandum [mirandum] movebere facti[.]
Carmina Laiados [Laiades] non intellecta priorum
Solverat ingenitis [ingeniis,] et preacipitata [praecipitata] iacebat
Immemor [inmemor] ambagum vates oscura [obscura] !suram [suarum;]
Selict alma Themis nec talia linquit inulta [Einschub nicht überprüfter Provenienz]
Protinus Aoniis inmittitur altera Thebis
Pestis[,] et exitio multi pecorumque suoque
Rurigenae pavere feram vicina !iuventus
[venimus et latos indagine cinximus agros. (fehlt)]
(Met VII, 757-765)

Andere Textstellen werden deutsch paraphrasiert, z.B. der Beginn der Geschichte von Philomela und Procne, (Met VI, 428-466) die (PT, S. 48-49) als Kriemhilds Falkentraum (Nib I, 13-14) verkauft wird. Prantl gibt selbst Georg Danzers „[Ruhe]Vor dem Sturm“ als Quelle für den Clown/Vojeur in I, 6 an, (PT, S. 165) die Stelle befindet sich aber in I, 7 (PT, S. 50-51).
Der Shakespeare-Handlung voran gesetzt sind – wie es sich gehört - ein Prolog mit „captatio benevolentiae“ und ironischer Absichtserklärung der Schauspieltruppe und zwei Szenen, in denen Kriegsursache und –hetze dekonstruiert („Das slawische Banditenvolk“ hat sich erdreistet, den „heiligen Namen Mafia für sich zu beanspruchen“ PT, S. 2) und der Kriegsverlauf - im Zeitraffer – dargestellt werden. Der Epilog besteht aus zwei Teilen, die alternativ gespielt werden können. Ein Kinderchor stellt pessimistische Überlegungen über die Weltgeschichte und die Grenzen politischen Handelns an, die an Kurt Vonneguts „Falsifikation“ der Darwinschen Evolutionstheorie in seinem Science Fiction Roman „Galápagos“ erinnern. Dieser im Prolog zitierte Autor dürfte auch die Passage über Anpassung im Malcolm X-Monolog (PT, S. 65) und den Handlungsort „Baustelle“, inspiriert haben. Im „anhang/epilog.part.#2“ erzählt ebenfalls ein Kinderchor das Ende des Nibelungenliedes nach. Dabei wird Etzel zu „Stalin mit dem Bluthirn / Bleiherz“, Hagen zum „General“ und Dietrichs Waffenmeister Hildebrant zum „Revolvermann“.
Diese neuerliche Gleichsetzung fünf Minuten vor Schluß des drei Abende füllenden Monsterdramas ist insofern interessant, als sie das Problem des supercoolen postdramatischen Autors beleuchtet, mitleidsloses Theater ohne Pathos und Botschaft zu machen. Prantl versucht, ähnlich wie Werner Schwab, sein Publikum auf allen Ebenen zu provozieren: die Kleinbürger durch Fäkalsprache, Sex and Crime (die im Titus, bis auf die lesbische, dildo-bewaffnete Emeta und Kriemhilds Inzest, Shakespeare anzulasten sind), die Intellektuellen durch Verballhornung der Tieck’schen Verse, durch fehlerstrotzende, mitten im Satz aufhörende oder an dieser Stelle völlig unpassende lateinische Zitate (PT, S. 104, Met VI 549-560; PT, S. 84, Met XIV 75-81) und inhaltlich Unrichtiges (wie Michael Kohlhaas‘ Tod auf dem Rad (PT, S. 134) oder die Behauptung, Coriolan hätte Rom gebrandschatzt (PT, S. 139) und den politisch korrekten Zeitgenossen durch Titus‘ fliegenschützerisches Engagement (ShT II 2, PT, S. 119), den (ebenfalls schon bei Shakespeare) schwarzen Bösewicht, die Gleichsetzung von Etzel, Trotzkij und Stalin oder von Gadhafi, Hitler, Pol Pot und Lumumba in der köstlichen Aktualisierung der Briefszene, in der Titus bei Shakespeare Beschwerdeschreiben an die Götter verschickt (ShT IV 3, PT, S. 133) - übrigens eine ganz typische, komische Wahnsinnsszene im Stil der Commedia dell’arte. Für jene schließlich, die seinen Hypernaturalismus dennoch als Kunst erleben, weil die Wahl des Verkommenen, Verbrecherischen, Perversen als Spielbasis zu phantastisch anmutenden Situationen und zur Erfahrung einer dionysischen Gegenwelt führt, behält sich Prantl eine ultimative Provokation vor: „coolness“, die Absage an Pathos und Mitgefühl und das Fehlen eines erkennbaren Wertekanons. Die Gleichsetzung Römer = Mafia/Nazis einerseits, deren logischer Parteigänger (bei ihm) der rassistische, lendenstolze Mohr ist (PT, S. 1-2) und jene von Trotzkij und Etzel, dem Kommandanten der Roten Armee, andererseits, bringt politische Ideologie ins Spiel, und Etzels Anflug von menschlichem Empfinden zu Beginn des 1. Epilogs, läßt die Linke etwas sympathischer erscheinen als die Rechte. Die Verwandlung des Hunnenkönigs in Stalin hebt jedoch diese Bewertung wieder auf. Dadurch rückt der vorangegangene, moralisch fragwürdige Rückzug von Lucius-Kriemhild ins Privatleben und daß sie den Menschen „das absolut Böse“ (PT, S. 160), in Gestalt des Malcolm X, als Nessos-Hemd zurückläßt, stärker ins Bewußtsein. Die Aussage bleibt ambivalent. (Niehaus erreichte bei der Innsbrucker Uraufführung Offenheit des Stückes dadurch, daß er den Epilog strich, aber Etzel und Trotzkij durch zwei Schauspieler besetzte, die senile Alte mimten.) Insgesamt ein interessantes Bearbeitungs- und Theaterexperiment und - im Sinne von Prantls Intentionen – sicher ein gelungenes Stück.

Bibliographie:

Zitiert wird aus Gründen leichterer Auffindbarkeit der Textstellen uneinheitlich: bei Prantl (PT + Seite), bei Shakespeare (ShT +Akt, Szene), beim Nibelungenlied (Nib + Strophe), bei den Metamorphosen (Met + Gesang, Verse)

Shakespeare, William. Shakespeares Werke VII. Übers. von Ludwig Tieck. Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart: Bong & Co, [o.D.].
Das Nibelungenlied. Hrsg. und übers. von Helmut de Boor. Köln: Parkland, 2000.
Naso, Publius Ovidius. Metamorphosen. Hrsg. und übers. von Michael von Albrecht. Stuttgart: Reclam, 1994.
Vonnegut, Kurt Jr. Galápagos. New York, Delta, 1999 (1985).
Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 1999.

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Sepp Mall, Inferno solitario.
Drei Hörstücke und ein Theatertext
Innsbruck: Skarabaeus, 2002, 96 Seiten.

"Ombre dolenti nella ghiaccia" - Im Eise leidende Schatten. (Inferno XXXII, 35)".

Unter dem Titel "Inferno solitario" sind im Skarabaeus-Verlag drei Hörstücke ("Litanei", "Inferno solitario", "Silence, please") und ein Schauspiel ("Mannsteufel") des Südtirolers Sepp Mall erschienen. Dieser Autor ist bisher vor allem mit Lyrik ("Läufer im Park"; "Landschaft mit Tieren unter Sträuchern hingeduckt") und Erzählprosa hervorgetreten ("Verwachsene Wege"; "Brüder", alle bei Haymon). In seiner Kurzbiographie erwähnt wird außerdem der Fortsetzungsroman "Espresso mortale" (Sturzflüge 48, Bozen 2000), eine Gemeinschaftsproduktion mehrerer Autoren.
Der Lyriker Mall verrät sich auch in den vorliegenden dramatischen Werken. Dies gilt vor allem für "Litanei" und das titelgebende "Inferno solitario". Beide Hörspiele sind in freien, reimlosen Versen geschrieben. Ein Vorbild des Autors ist sicherlich der hermetische Dichter Salvatore Quasimodo, dessen epigrammatisches Gedicht "Ed è subito sera" (aus der gleichnamigen Sammlung von 1942) dem Buch als Motto vorangestellt ist. "Stimmen" ergreifen abwechselnd das Wort und machen "semantische Musik". D.h. sie geben Themen vor, übernehmen und variieren sie. In "Inferno solitario" gibt es sogar Passagen, die entsprechend den Szenenanweisungen als Kanon vorgetragen werden. Auch in "Silence, please" und im "Mannsteufel" finden sich lyrische Einschaltungen.
Das erste Hörspiel, "Litanei", setzt sich inhaltlich mit Formen der Zeitwahrnehmung auseinander: schnellem Vergehen/Sterben, Dauer, langsamem Vergehen, gewaltsamem Zu-Ende-Gehen, plötzlicher Wiederkehr, dem Gefühl des sich-durch-die-Zeit-Bewegens usw. Formal bedient Mall sich des Stabreims, spielt die Buchstaben des Alphabets durch und erzielt häufig komische Effekte durch scheinbar wahlloses Aneinanderreihen von Wörtern, die nichts miteinander zu tun haben:

[Der Schnitter]
Der alles niedermäht / Callgirls
Chrysanthemen / Clowns und
Chronometer
Die Zeitmesser / denen nichts mehr
Bleibt als das: ihre eigene zu vermessen (S. 6)

Nur das Wort "zwischen Lidstrich und Liebermann", (S. 11) also "Liebe", ordnet sich dem Buchstaben-Raster nicht unter, sondern gebiert ein Gedicht im Gedicht (zwei Vierzeiler am Anfang und am Ende und dazwischen vier gleichgebaute Fünfzeiler) in dem eine ganze Reihe von Aspekten der Zeit erwähnt werden, darunter die Ewigkeit.
"Inferno solitario" entstand 1996 als Auftragsarbeit des Literaturhauses am Inn / Innsbruck und wurde im folgenden Jahr vom ORF unter der Regie von Martin Sailer produziert. Die Hölle in "Inferno solitario" ist nicht jene Dante Alighieris. Es gibt keinen "grausamen" Rächergott (S. 35) und keinen "Ort der Bestrafung", "der Gerechtigkeit und der Abrechnung" (S.19) mehr, denn "die alten Geschichten" sind als "Opium für das Volk / Zurechtrichtung für's Wohlverhalten / Entsagung von Eigenem / sonst nichts" (S.32) entlarvt worden. An die Stelle des Danteschen Inferno, in dem man zwar litt, aber das im Verein mit den interessantesten historischen und fiktiven Persönlichkeiten aller Zeiten, ist eine diesseitige Hölle getreten, die Einsamkeit. Kein Vergil erscheint, der uns aus den "selvae oscurae [selve oscure] unserer Hirnwindungen" (S. 37) hinausführen würde:

Dreh dich doch um / sieh
zurück / zu dem
der dich begleiten sollte
der dir versprochen / in alten Geschichten
doch da / ist keiner mehr
Keiner (S. 19)

Schuld daran ist die Eigenverantwortlichkeits-Ideologie des modernen Menschen. Sie bewirkt unseren Rückzug in uns selbst und die Ablehnung von Solidarität mit Leidenden und Hilfsbedürftigen (psychisch Kranken, Katastrophenopfern, Immigranten etc.) Die erzählte Begegnung der beiden Sprecher in Bild 2 findet auf der Folie jener von Dante und Beatrice in der "Vita nuova" (II) statt. Wie dort wird beschrieben, wie die Liebe sich zunächst in körperlichen Reaktionen bemerkbar macht (der Wirkung des "spirito della vita" entspricht bei Mall Blutdruckanstieg), Emotionen auslöst ("spirito animale" - Liebesgefühle etc.), dann in aufsteigender Hierarchie alle Sinne erfaßt, wobei sogar die Wechselreden der "spiriti" eine moderne Übersetzung finden. (Dante läßt sozusagen Nicolai Hartmanns Persönlichkeits-Schichten diskutieren wie Otto Waalkes die Organe.) Bei Mall sprechen ein männliches, draufgängerisches und ein weibliches, Widerstand leistendes Über-Ich.

Tu's doch / sagte eine unbekannte Baßstimme in mir
Nein / schrie eine andere
und ich könnte schwören
: es war die meiner Mutter (S. 29)

Unnötig zu sagen, daß der moderne, junge Mann grapscht und sich ein kurzes Glück nach Menschenmaß einhandelt, anstatt sich vom ewig Weiblichen hinanheben zu lassen zu platonischen Ekstasen wie die Dichter des "dolce stil nuovo". Malls Liebende grenzen sich gegeneinander ab (S. 38), genügen und "richten" sich selbst (S. 20, 21, 22, 38) - was sowohl heißen kann, daß sie über sich selbst urteilen als auch, daß sie sich selbst wieder gesund/funktionsfähig machen - und verdammen sich so zu einsamem Nebeneinander. Malls Ironie geißelt das anything goes und den Individualitätskult der Postmoderne, (S. 34) aber auch aufklärerisches Gedankengut. Die "simple[] Bestrafung", der "grausame [] Gott", die christliche Sicht des Erdenlebens als Passion (S. 35) wird in seiner Darstellung zu einer Art von verlorenem Paradies. Widerspruch regt sich, denn läßt sich nicht gerade am Beispiel Alighieris zeigen, wie grausam geschlossene Denksysteme mit dem Anderen umgehen? (Dante verbrachte 20 Jahre im politischen Exil und verbannte in der "Commedia" seine besten Freunde, seinen verehrten Lehrer Brunetto Latini und seine Kreatur Odysseus, den neuen, freien Menschen, dessen Sünde nichts anderes ist als Wissensdurst, in die Hölle, um den herrschenden Dogmen gerecht zu werden.)
Das Hörstück "Silence, please" (2001 vom ORF unter der Regie von Martin Sailer produziert), setzt sich aus dem eifersüchtigen Hickhack zweier ältlicher, unverheirateter Schwestern, die die Namen von Lears Töchtern tragen, dem inneren Monolog ihres Vaters über den Zeitfluß in den Dingen und seine Krebserkrankung und einigen Aussagen von dessen Geliebter zusammen. Cordelia und Goneril vegetieren völlig auf ihren Vater bezogen dahin und setzen seltsamerweise, gerade, als es mit ihm zu Ende geht, einen Schritt der Ablösung. Er hingegen lebt unbekümmert um die inzestuösen Gefühle der Töchter eine offenbar recht glückliche Langzeit-Beziehung mit einer emanzipierten Frau. In "Silence please" zeigt sich Malls Talent, Personen zu charakterisieren, was viele moderne Dramatiker leider gar nicht mehr versuchen.
Das gilt auch für den "Mannsteufel", der erstmals 2001 im "Theater in der Altstadt" (Meran) unter der Regie von Torsten Schilling aufgeführt wurde. Der Grundkonflikt in diesem Stück - Mann verlangt von seiner Frau, seinen Gegner verliebt und damit unschädlich zu machen, und sieht sich plötzlich vor der Tatsache, daß sie sich verliebt hat - hat Sepp Mall von Karl Schönherrs 1915 uraufgeführtem Drama "Der Weibsteufel" übernommen. Die Lösung erfolgt allerdings auf andere Weise. Der Hehler wird hier zum Politiker, der Grenzjäger zu einem Journalisten, der sich schließlich arrangiert, und der Postenkommandant, der im "Weibsteufel" nicht auftritt, zur Herausgeberin einer Zeitung. Die Namen sind ganz offenbar bewußt gewählt: der Politiker heißt K. Schönherr wie der Dichter. Tanner ist der Name von G. B. Shaws ebenfalls schreibendem und politisch engagiertem Don Juan in "Man and Superman", und bei der Verführung übernimmt, im Gegensatz zur Giovanni-Tradition und zum "Weibsteufel", sowohl bei Shaw wie bei Mall die Frau die Initiative. Weiters wird in allen drei Stücken die Kinderlosigkeit der Frau thematisiert. Angesichts der drei sprechenden Namen legt die Abkürzung Frau Dr. G. den Gedanken an ein Schlüsseldrama nahe. Besondere Erwähnung verdienen drei Bilder, die sich formal durch gebundene Sprache abheben: die in schneller Wechselrede gehaltene, Märchenbilder beschwörende Bettszene in Bild 8, der Monolog des Mannes in Bild 11 und jener der Frau in Bild 10, ein fernes Echo auf das Goethesche "meine Ruh ist hin" (Faust I, 3374ff.):

und Unruh überall
kaum daß dein Name fällt
und wenn du da das Zittern
In Hand und Hirn das Zittern
kein Wort das richtig steht
kein Satz der grade geht
Als wär mein Mund
zum Reden nicht
zum Küssen nur gedacht (S. 81)

Als Schauspielerin möchte ich noch hinzufügen: Es wäre sehr schön, wenn Mall weiter auf diesem Kurs bliebe und sich jenen Tendenzen widersetzte, die auf ein entmenschlichtes Theater der bloßen Präsenz des Schauspielers abzielen, und in dem Sprache zunehmend nicht mehr Sinn- sondern bloßer Ton- und Rhythmusträger ist.

[Bild: nach oben]



 
  
Manfred Schild & Thomas Gassner, Schrott & Korn: sunny-side up.
Innsbruck: Skarabäus, 2002, 140 Seiten.

"Carpe diem" mit Spiegeleiern.

"Schrott & Korn: sunny side" up ist die erste Gemeinschaftsproduktion von Manfred Schild und Thomas Gassner. Vor diesem Roman sind die beiden Tiroler Autoren und Regisseure, bereits mit einer Reihe dramatischer Werke hervorgetreten: Schild mit verschiedenen Hörspielen und den Theaterstücken "Zwischen Morgen und mir", "Morgen mein Meister" und "Die Zweifelhaft" und Gassner mit "Lilly & Dan, Raffl", "Die Angel La Perla-Show"(Slivo&Monte) und "Coconut Island". Schild hat bisher im Fischer Bühnenverlag, Gassner bei der Litag publiziert.
Ab ovo und kapitelweise alternierend erzählen der Durchbruchbohrer Schrott (Schild) und sein Freund Korn (Gassner), Controller in einer Firma, die Plastik-Figuren für Überraschungs-Eier herstellt, ihre wundersamen Abenteuer. Eine Plakatschönheit fordert sie mittels Sprechblase auf, den Augenblick zu leben, und steigt, wie Anita Eckberg in Fellinis "La dolce vita" von der Wand. Sie veranlasst den Bruch der beiden mit ihrem bisherigen Leben und ihren Aufbruch auf eine Reise, die sie über die Passionsspielinsel Oberhammergau - einen Ort wie aus "Gulliver's Travels" - nach Litauen, zu mythischen Anfängen und vollkommenen Liebeserfahrungen führt. Das Schlusstableau verquickt - und parodiert dadurch - verschiedene Varianten eines Happy End à la Hollywood bzw. spießbürgerliche Vorstellungen von Glück und Selbstverwirklichung. Es zeigt uns zwei miteinander bis ans Ende der Welt zu gehen entschlossene Männer ("lonesome cowboys", Männer von echtem Schrot und Korn) mit der phallischen Ersatzgeliebten des einen, einer Hilti*, und einem, von dieser ovovivipar zur Welt gebrachten Wildentenkücken, eine fliegende Wolke mit unbekannter Destination besteigen.
Auf perfekte Liebeserlebnisse wird trotzdem nicht verzichtet. Sie werden allerdings wie phantastische Begebenheiten erzählt: Schrott erfährt totale Geborgenheit und umfassende Bestätigung bei einer archaischen Mutterfigur, denn die Plakatfrau entpuppt sich am Ende als die Riesin Neringa, an die sich die Ursprungssage der Kurischen Nehrung knüpft. Korn verbringt eine Liebesnacht mit einer rotlockigen, ebenfalls von Neringa in die Gegenwelt des Romans transportierten Schönheit, die wiederholt auftaucht und verschwindet und zuletzt von ihm geht, ohne (über ihre Haarpracht hinausgehende) individuelle Züge entwickelt zu haben.
Einen "schräge[n] On-the-Road-Roman" nennt Schild das Buch (TT 29.11.2001). Nun gibt es zweifellos Parallelen zwischen Jack Kerouacs "On the Road" (1949-51), dem Kultbuch der Beatgeneration und der Neuerscheinung: die Suche der Protagonisten nach einem Leben ohne Sesshaftigkeit, geregelte Arbeit und Verantwortungsgefühl und das Streben nach ekstatischem Erleben, das in der Erfahrung der Fremde, von Freundschaft und Sex gefunden wird. Schrott und Korn sind jedoch, ungeachtet all des Alkohols, den sie konsumieren, nicht selbstzerstörerisch und destruktiv wie Kerouacs Protagonisten. Ihr Weg ist nicht mit zerbrochenen Herzen gepflastert, und wenn ein Schrebergartenhäuschen niedergebrannt wird, ist es das eigene. Sie propagieren keine Philosophie des Idealen, Allgemeinen und Ewigen, sondern eine des Trivialen und Banalen, des Besonderen und des Augenblicks. Beide Romane drücken das Lebensgefühl einer Epoche aus, "Schrott & Korn" das einer Generation, für die die Sprecher im deutschen Raum bisher gefehlt haben. Am ehesten ähnelt es der literarischen Produktion der italienischen "Under 25" (Ballestra, Brizzi u.a.).
In diesem Zusammenhang erwähnt werden sollten zwei Phänomene, die häufig als typisch für die Literatur der Postmoderne angeführt werden. Ihre Rolle im vorliegenden Roman dürfte jedoch auch mit dem sozialen Umfeld der Autoren - dem die Wahrnehmung für Zeiterscheinungen fördernden Theaterambiente - zusammenhängen. Erstens ist hier das "schwache Subjekt" zu nennen. Schrott und Korn sind keine starren Individuen, sondern erleben einen Erkenntnisschub, hinter dem eine transzendente Instanz steht: "Wer sprach da durch mich durch, wer dachte da meine Denken?" (S. 18) sagt z.B. das dumpfe Arbeitstier Schrott, das sich im Lauf weniger Kapitel zum Menschen mausert, wobei den Leistungen seines sich emanzipierenden Gehirns regelmäßig ein erstauntes "Wenn mans bedenkt" (S. 4, 11 ff.) nachgesetzt wird. Auffällig ist zweitens die Abundanz identitäts- und geschichtsloser Räume. Die Handlung spielt größtenteils in Transportmitteln (Schiff, Flugzeug, Bus, Taxi), an Orten des Übergangs (Straße, Brücke, Flugplatz) oder flüchtiger Begegnungen (Hotel, Diskothek), Räumen, die Marc Augé in "Non-lieux : Introduction a une anthropologie de la surmodernité" (Paris: Seuil, 1992) Nicht-Orte nennt, und die in den letzten Jahren sehr häufig in Theaterinszenierungen die traditionellen Spielorte ersetzen. Bezeichnenderweise endet die Reise der beiden Protagonisten auch weder am Mittelpunkt Europas noch im gefundenen Ort Nida, sondern geht weiter zu anderen "NI(E) Das".
Die beiden modernen "pícaros" (Schelme) treiben sich in einer teils wunderbaren teils phantastischen (aber nie bedrohlichen) Welt herum, die irgendwo zwischen den Welten angesiedelt ist, in denen Ariosts "Orlando furioso, Calvinos Ahnen"-Trilogie, Monty Python- und Fantasy-Filme spielen. Der gutmütig-beschränkte, dicke Schrott und der gewitzt-intellektuell-verwehte, dünne Korn, sind ein klassisches Kontrastpaar, Nachfahren von Morgante und Margutte, Sancho Panza und Don Quijote oder von Obelix und Asterix, um literarische Beispiele zu nennen. Das Comic wird auch mehrmals zitiert, wenn es z.B. Korn bei einer Vollbremsung die Zehen unter die Füße biegt und er "genau drei Stunden. Glaube ich" in dieser Haltung verharrt (S. 9) oder wenn er wildenten-protein-gedopt seinem 103 Kilo schweren Freund einen Granit-Obelisken in die Arme drückt. (S. 173)
Die Konfrontation mit der Kultur der Vergangenheit verläuft hier im Gegensatz zu "On the Road", ohne jegliches Aufkommen von Problembewusstsein. Anstelle unverdauter irrationalistischer Philosophie und imponieren sollender Bildungsreminiszenzen erfährt der Leser, daß Thomas Manns gesammelte Werke auch dazu dienen können, den Fernseher im richtigen Neigungswinkel für den liegenden Zuseher zu fixieren. Literaturzitate präsentieren sich verballhornt:

Ich arbeitete seit vier Jahren, drei Monaten und 22 Tagen in der selben Firma. (S. 7. "Es regnete vier Jahre, elf Monate und zwei Tage." "Hundert Jahre Einsamkeit", García Márquez)
Oh Welt, oh Himmel, jauchzen und jubilieren sollte es aus meiner Brust... (S. 18. "Und Freud' und Wonne/Aus jeder Brust./O Erd', o Sonne,/O Glück, o Lust!" "Mailied", Goethe)
Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen weiß man nichts genaues nicht genau. (S. 84, "Es giebt mehr Ding' im Himmel und auf Erden/Als eure Schulweisheit sich träumt, Horatio." "Hamlet" I 5, Shakespeare)
[...] trüb eingefärbt raunte ich ihm zu: "Du auch, Bruder?" (S. 39. "Brutus, auch du? So falle, Caesar." "Julius Caesar" III 1, Shakespeare)

Die Stationen dieser Reise in einen "Parallelkosmos" (S. 234) entsprechen typischen Episoden von Jenseits-Reisen bzw. Fahrten in andere/verzauberte Welten in Mythen bzw. in der epischen Literatur: Die Protagonisten überqueren ein wildes Wasser, ersteigen steile Klippen, begegnen furchterregenden Menschen, befreien liebliche Frauen aus der Gewalt von Monstern/Bösewichten, entdecken im richtigen Moment ein Gefährt, das hilft, der Schwerkraft zu trotzen, werden beschützt und geleitet von einem überirdischen Wesen und haben eine Hilti, die Durendal/Balmung, Olifant und den Spruch Sesam-öffne-Dich aufwiegt. Dass Korn etliche Kapitel in einer Rüstung herumläuft, fördert dergleichen Assoziationen. Nun ist zwar anzunehmen, daß sich die Parodie im Fall von Schild und Gassner eher pauschal gegen die schulvermittelte "alte Literatur" und Fantasy richtet, die sie verkitscht wiederaufbereitet, und als unmittelbares Vorbild eher Monicellis "Brancaleone"- oder Monty Python-Filme dienen als Folengo, Pulci, Ariost, Rabelais, Cervantes etc. Um so auffallender ist es, daß die beiden Autoren sprachliche Lösungen finden, wie sie die karnevaleske (Gegen-) Literatur seit jeher benutzt hat. Ungeachtet dessen, daß Schild sagt, ihrer beider "Schreibe" sei "gänzlich unterschiedlich" (TT 29.11.01, 8) bedienen sich die Autoren einer sehr ähnlichen Kunst-Sprache, die zwar Fremdwörter, Regionalismen, Jargon, Neologismen enthält und gewisse grammatikalische Normen ignoriert, sich aber durch den Gebrauch literarischer Ausdrücke und eigener Wortbildungen von der Alltagssprache unterscheidet:

"So wurden wir binnen kürzester Zeit zu den "GoGo-Boys" des "El Cielo Azul". Ich fühlte mich nicht schlecht als Meister dieser ganzheitlich-lasziven Bewegung. Was allerdings Schrott mit seinen Gelenken aufführte, passte unumwunden und auf den Punkt gebracht in die Kategorie: Sex pur! So wellten wir uns in die Herzen der hiesigen Damenwelt. Und ich kann nur sagen , die litauische Damenwelt ist es unbestritten wert , geherzwellt zu werden. Der stampfende Sound beamte mich in Regionen in die B.K. bisher noch nie vorgedrungen war. Es war idiotisch. Eine Träne des Dankes vertschüsste sich als Wasserdämpfchen in die Sphäre [...]" (S. 119)

Insgesamt eine aus literaturwissenschaftlicher Sicht sehr interessante Neuerscheinung, die eigentlich alle Ingredienzien hätte, um ein Kultbuch zu werden.

*Für technisch Unbedarfte: eine Hilti ist ein potenter Bohrhammer.

[April, 2002]

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Felix Mitterer, Johanna oder die Erfindung der Nation.

Mit einem Beitrag von Sylvia Tschörner, Innsbruck:
Haymonverlag, 2002, 92 Seiten.


Johanna oder die Erfindung der Nation ist, nach Die Kinder des Teufels (über den Salzburger Hexenprozeß gegen Kinder im 17. Jahrhundert), Das wunderbare Schicksal (über den Hoftyroler Peter Prosch im 18. Jahrhundert), Verlorene Heimat (über die Vertreibung der Zillertaler Protestanten zu Beginn des 19. Jahrhunderts), Michael Gaismair und dem Drehbuch zum Film Andreas Hofer Felix Mitterers fünftes Historiendrama und das erste, in dem Intertextualität eine größere Rolle spielt. Das hängt natürlich mit der Wahl des Stoffes zusammen, an dem sich eine ganze Reihe bedeutender Dichter versucht und Werke geschaffen haben, von denen einige Bestandteil des literarischen Kanons geworden und im wahrsten Sinn des Wortes nicht mehr wegzudenken sind: U.a. Christine de Pizan, François Villon, William Shakespeare, (François-Marie Arouet) Voltaire, Friedrich Schiller, Mark Twain, Anatole France, George Bernard Shaw, Bertold Brecht, Charles Péguy, Paul Claudel, Maurice Maeterlinck, Max Mell und Jean Anouilh.
In chronologischer Reihenfolge läßt Mitterer die bekannte Geschichte der Jeanne d'Arc von ihrer Berufung durch den Erzengel Michael bis zu ihrem Tod auf dem Scheiterhaufen in Rouen ablaufen. Sie ist verflochten mit einer unbekannten, "privaten" Vita, der Geschichte einer Johanna, die nach einer Vergewaltigung psychische Störungen entwickelt, die ihr ermöglichen, ungeahnte Energien freizumachen und den Lauf der Geschichte zu beeinflussen. Dabei verbraucht sie sich aber - verbrennt - wie eine Kerze niederbrennt.
Die 16 Bilder sind auf zwei nebeneinander fließenden und verfließenden Zeitströmen angesiedelt: Mittelalter und Gegenwart koexistieren, was sich in den Kostümen, Requisiten und der Sprache ausdrückt:
Erzbischof: Du bist zu Pferd gekommen?
Jeanne: Nein, mein Bike ist eingegangen. Kolbenfresser. Der Burghauptmann war so nett und hat mich im Wagen mitgenommen. (S. 29)

Der Untertitel des Dramas Die Erfindung der Nation bezieht sich darauf, daß der mittelalterliche Vasall sich nur seinem unmittelbaren Lehensherrn verpflichtet fühlte, und daß sich erst im Lauf des Hundertjährigen Krieges (1337-1453) nationale Gefühle ausbildeten. Mitterers Frankreich hat große Ähnlichkeit mit dem Österreich der blau-schwarzen Koalition von 2000. Fiktionale Basis des Stückes sind die Unrechtmäßigkeit der Forderungen des Dauphins und die Rechtmäßigkeit des Vertrags von Troyes (1420), in dem Charles VI und Isabeau de Bavière, die Eltern des Dauphins, Henry V, Lancaster, den Gemahl ihrer Tochter Catherine zum Thronfolger bestimmten. Infolgedessen halten sich die "Ausländer" zu Recht in "Frankreich" auf. Sie werden unterstützt durch den Herzog von Burgund, einen rechtschaffenen, etwas langweiligen Politiker, während der stets süffisant lächelnde, wortgewaltige Bastard Charles mithilfe des Fernsehens aus seinem Exil im Süden des Landes Ausländerhetze betreibt. Ein ehrgeiziger Erzbischof, arbeitet zunächst mit ihm zusammen, weil er unbedingt Kanzler werden will, sagt sich aber von ihm los, als der an die Macht gelangte Dauphin größenwahnsinnig wird, Proskriptionslisten anlegen und seine Steigbügelhalter ermorden läßt und Fernsehansprachen hält, (Bild 11) die an Charlie Chaplins Great Dictator erinnern. "Es war mein Blick auf eine Männergesellschaft," sagt Mitterer ohne auf den Schlüsseldramen-Charakter seines Stückes einzugehen, "in der ein Mädchen am Beispiel der mythischen Figur der Johanna benutzt wird." (Brigitte Warenski in: Tiroler Tageszeitung, 11. 1. 2002, S. 6).
Die Geschichte der Jungfrau von Orléans ist außerdem mit jener des Päderasten und Lustmörders Gilles de Rais verknüpft, der im Märchen zum Ritter Blaubart wurde. Eine Annäherung der beiden gab es schon in Joris-Karl Huysmans Roman Là-bas (1891), George Bernard Shaws Chronik Saint Joan (1924), Georg Kaisers expressionistischem Drama Gilles und Jeanne (1922) und Michel Tourniers Erzählung Gilles & Jeanne (1983). Im Gegensatz zu den meisten dieser Autoren verurteilt Mitterer Gilles' Manichäismus, den er als extremste Ausformung der menschenverachtenden, faschistischen Übermenschen-Ideologie der Partei des Dauphins darstellt.
Ebenfalls Gegenspielerin von Jeanne ist La Rousse - die Rot(haarig)e - die drei verschiedene Varianten der "roten Frau" verkörpert: eine Bordellbesitzerin (die sexuell aggressive Frau), eine Hebamme (die emanzipierte, weise, zauberkundige Frau) und eine Krankenschwester, die Leben und Tod spendende Medikamente verabreicht, (die allmächtige Mutter der präödipalen Phase). In Klaus Theweleits Buch Männerphantasien (Reinbek: Rowohlt 1977/78), über das Frauenbild faschistischer Männer, wird der "roten Frau" die reine, idealisierte, "weiße" gegenübergestellt. Deren christliche Variante ist unaggressiv und demütig, die heidnische ist die kriegerische Jungfrau, die, wenn sie realiter auftritt, zwangsläufig in Konflikt mit der Kirche kommt, während sie als Bannerträgerin für die Nationalisten, die sich auch an vorchristlichen Idealen orientieren, brauchbar ist:
Erzbischof: Was reden Sie da, Marschall? Was ist an diesem Krieg schön und heilig? Sie ist eine Schlächterin! Sie watet in Blut! Sie ist eine heidnische Barbarin!
La Tremouille: Gott sei Dank watet sie in Blut. Anfänglich befürchtete ich, sie würde bei der ersten Reiterattacke ohnmächtig vom Pferd fallen, wie an sich zu erwarten bei einem Weib. (S. 46)
Sie muß nur virgo intacta sein. Mitterer führt die Jungfräulichkeitsfrage, die Autoren von Shakespeare bis Thomas Gassner beschäftigt hat, ad absurdum, faktisch (intaktes Hymen trotz Vergewaltigung in der Exposition) und ideologisch.
Im Zentrum des Dramas steht außerdem eine psychische Krankheit, die in Johanna ungeheure Kräfte frei setzt, und deshalb zunächst als Antrieb wirkt, sie letztlich aber wie eine Flamme verzehrt. Diese Krankheit ist eine Mischung von Vergewaltigungstrauma, Anorexie und Schizophrenie, eine in Wirklichkeit unbekannte Kombination - eine phantastische Krankheit, die aber manches - auch im Verhalten der historischen Johanna - klären würde. Angesichts der unmittelbar vor Johanna erschienenen Texten aus der Innenwelt, Texten Schizophrener, die Mitterer im Czernin-Verlag herausgab, dürfte es ihm um den Abbau von Vorurteilen und Ängsten, die psychische Krankheit immer noch auslöst, gehen.
In Johanna verurteilt Mitterer faschistisches Denken und das Verhalten, das damit einhergeht: das Extreme, das Unmenschliche und die Tendenz, Menschen wegen ihrer Hautfarbe, Nationalität, ihres Geschlechts oder eben Krankheit auszugrenzen.

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Claudia Mathis, Wie ich aufgestanden bin.
Hall:Berenkamp Verlag, 2001, 112 Seiten.

Innsbruckerin, Studium der Theologie und christlichen Philosophie, ehrenamtliche Blindenbegleiterin, Arbeit mit schwerbehinderten Kindern... Wer auf Grund dieser Kurzbiographie von Claudia Mathis erwartet, daß die Erzählung Wie ich aufgestanden bin ein braves, engagiertes Buch ist, wird überrascht sein, einer Kosmopolitin zu begegnen, die in Innsbruck, Dakar, Montréal und dem Jerusalem des König David gleichermaßen zu Hause ist, den literarischen Kanon kennt und rhetorische Mittel mit sicherer Hand einzusetzen weiß. Wenn ihre Protagonisten nicht ernsthaften bzw. prestigeträchtigen Tätigkeiten nachgingen, würden sie an die jeunesse dorée der Romane von Arbasino erinnern: Man hat sein eigenes Pferd, verbringt mit fünfzehn Sprachferien in Frankreich, hat keine Hemmungen, sich im Club Med zum Segeln einzuschleichen und bucht, etwas älter, Langstrecken-Flüge wie Gleichaltrige Busfahrscheine. So scheint der Konflikt, in den sich die Heldin verstrickt, u.a. auch dem Bedürfnis zu entspringen, in einer Welt, in der alles erlaubt und möglich ist, Grenzen zu überschreiten. Das heißt nicht, daß uns die Probleme ihrer Figuren nicht berühren. Mathis sorgt dafür, daß sie es tun.
Ein kurzes Vorwort - Was vergangen ist - kündigt an, die folgende Geschichte sei autobiographisch, die Erzählerin sehe sich jedoch nur als Sammlerin, die Ereignisse fixiert, zwischen denen der Leser die Zusammenhänge herstellen solle. Wie ich aufgestanden bin ist eine Dreiecksgeschichte: Die Protagonistin Jeanne verführt bei einem Heimaturlaub - sie reist zur zweiten Heirat ihrer Mutter nach Innsbruck - ihre neue, lesbische Stiefschwester, das Model Anna, weil deren Sprödigkeit sie reizt. Anna verliebt sich, folgt Jeanne zunächst in den Senegal, wo diese mit ihrem Freund Michael, einem Arzt, in einem Hygieneprojekt arbeitet, nimmt aber dann ein Job-Angebot in Montréal an, weil sie klare Verhältnisse braucht. Das führt dazu, daß Jeanne Michael verläßt, ihre Arbeit in Dakar aufgibt und mit der Freundin eine Wohnung in der Nähe von Innsbruck bezieht, nur um festzustellen, daß sie nichts für Anna empfindet oder "nichts mehr vielleicht, wenn ich der Erinnerung trauen möchte." (106)
Das sich parallel entwickelnde Batseba-Drama, vor allem die Widmung, mit der es beginnt ("Was ich geschrieben habe, schreibe ich, habe ich für dich geschrieben und dafür, daß ich dich nicht lieben kann." 9) und der Umstand, daß die Erzählung über weite Strecken an ein du gerichtet ist, sprechen gegen ein Happy End. In der Schlußszene des Stücks wird David allerdings Verzeihung zuteil, und das letzte Kapitel der eigentlichen Erzählung beschwört eine Idylle: Landleben und Anna, die ein Gedicht von Jeanne an eine Wand der gemeinsamen Wohnung schreibt.
Das Drama hat eine Episode aus dem Leben König Davids zum Inhalt. Der alttestamentliche Text (Samuel II, 11-12) wird zur Gänze übernommen. Teile davon werden wie Inhaltsangaben der jeweiligen Szene vorausgestellt (auch in der Bibel wird häufig resumiert, was dann breiter ausgeführt wird), kommentieren sie oder fassen das Geschehen zusammen. Während der Belagerung von Rabba verliebt sich David in die Frau eines Untergebenen, verführt und heiratet sie, nachdem er ihren Mann hat beseitigen lassen. Gott sendet ihm darauf hin den Propheten Nathan, der ihm seine Schuld vor Augen führt, und läßt sein erstes Kind aus der Verbindung mit Batseba sterben. Diese bekannte Geschichte erzählt Mathis in Form einer Theaterprobe, mit einem Regisseur und einer Assistentin, die Regieanweisungen geben (56, 60, 66, 70) und mit Tonmeistern, die schon nach Hause gegangen sind. (78) Andererseits gibt es Zuschauer. Aber um eine öffentliche Generalprobe kann es sich nicht handeln, weil kaum etwas festgelegt ist (66), nicht einmal um Stegreiftheater, obwohl einige Situationen das nahelegen, z.B. daß David in der Rolle bleibt, während der Diener und Batseba die Probenrealität kommentieren. (78) Eine bloße Aufführungs-Beschreibung ist es schon deshalb nicht, weil ständig zwischen der Perspektive eines allwissenden und eines rätselnden Erzählers, psychologischer Innensicht der Figuren und direkter Rede gewechselt wird: "Man muß wissen, daß sie zittert, um es sehen zu können. Sie sieht sein Gesicht. Vielleicht überlegt sie, ihn zu hassen." Gespielt wird auch mit Anachronismen. So kommen Patience-Karten (28-29), ein Telephon (34) und ein absurdes Theaterstück vor (56), und David vergleicht sich einmal mit Don Quijote. (33) Es gibt zahlreiche epische Momente, in denen die Figuren des Dramas das Publikum direkt ansprechen, (14, 55) beschimpfen (32, 33) oder sich im Zuschauerraum bewegen. ( 55, 107) Die Ebenen des Dialogs -außerliterarische Wirklichkeit und innerfiktionale Realität - wechseln ständig und fallen einige Male sogar zusammen:
Batseba, zu sich: "David hat recht. Es ist fast unmöglich, dieses Land zu regieren. Der Tonmeister geht nach Hause, und zum Frühstück serviert man uns Nutella-Semmeln."
Der Diener kichert albern: "Ja, ja, aber sie sind wirklich gut, wollen Eure Hoheit nicht kosten?"
Batseba, ernst: "Was denkst du von David?"
Diener: "Er ist ein großartiger König und ein großartiger Schauspieler."
Batseba, streng: "Er ist kein Schauspieler. Wie lang arbeitest du schon für ihn?"
Diener: "Seit Jahrzehnten."

Schauspieler ist David natürlich auch in der fiktionalen Realität des Dramas, denn die Figur David spielt eine Rolle (die des unfehlbaren Königs - 52, 101), und dadurch entsteht eine Verbindung zu der anderen Dreiecksgeschichte, weil auch Jeanne eine Rolle spielt. (37, 68, 103) Daß die Figur Theater- und Film-Metaphern verwendet (Szene 74, Drehbuch 53, Seifenoper 68), wird durch ihre Mitarbeit in einer deutschsprachigen Laienschauspielgruppe in Dakar begründet. (27, 76) Die andere Verbindung zwischen Schauspiel und Erzählung ist, daß Jeanne und David ihre Mitmenschen wie Marionetten behandeln: Wie David meint, er könne Uria übertölpeln und ihm das Kind unterschieben, das er mit Batseba gezeugt hat, (39, 44, 50-51) oder ihre Liebe erzwingen, (81) so denkt Jeanne: "Ich werde dich besitzen, beschließe ich, jede Bewegung deiner Hände, jede Regung deiner Gedanken. Dann werde ich mich abwenden." (23) Und ein paar Seiten später: "Bei keiner meiner Berührungen hab' ich dich geliebt. Womit kann ich sie abhängig machen, dachte ich, und so habe ich mit dir gespielt." (27) Deshalb wird sie auch aggressiv, als "[ihre] Puppen selbständig zu spielen beginnen und auch [sie] die Rolle des Regisseurs immer mehr aufg[ibt]."(64) Wie ich aufgestanden bin ist eine Zauberlehrlingsgeschichte, in der das Experiment wichtiger ist als die Personenkonstellation und das Ergebnis, zu dem es führt - Straffreiheit -, und man fragt sich, ob nicht gerade darin das eigentliche Drama liegt.
Insgesamt ist die Erstlings-Erzählung von Claudia Mathis ein packendes, gescheites, unsentimentales und dabei zartes Buch, und man freut sich auf ihr nächstes.

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