Rezensionen von Anton Unterkircher

 

 


Josef Feichtinger, Kämpfen für das Heiligste. Tiroler Stimmen zum Ersten Weltkrieg. Mit einem Vorwort von Oswald Überegger und einem Audio-Feature unter der Regie von Luis Benedikter.
Bozen: Edition Raetia 2013

Gleich vorweg: Josef Feichtinger legt hier eine bewundernswerte Sammlung von Texten bzw. Textauszügen aus Romanen, Tagebüchern, Erinnerungsschriften, Zeitungen und Zeitschriften vor. Was in diesen erschreckenden, irritierenden, skurrilen Dokumenten zu lesen ist, bestätigt selbstverständlich, was schon längst landläufig bekannt war, dass nämlich der Erste Weltkrieg auch ein großer Propagandakrieg war und dass viele bedeutende Persönlichkeiten an der geistigen Mobilmachung mitgewirkt haben. Dass dies ein Bruder Willram in reichlichem Maße getan hat, ist schon seit längerem durch die Forschungen von Eberhard Sauermann dokumentiert. Dass sich aber auch sein Priesterkollege Reimmichl als fanatischer Kriegstreiber betätigt hat, rückt erst dieses Buch voll ins Bewusstsein. Als populärer „Botenmann“ – er gab den „Tiroler Volksboten“ gemeinsam mit dem Geistlichen Josef Grinner heraus – brachte er seine Botschaften bis zu den einfachen Menschen, die seiner Predigerlogik und Demagogie wohl wenig entgegenzusetzen hatten. Schon im August 1914 konstatiert Reimmichl einen neu erstarkten Patriotismus im Vielvölkerstaat, „eine großartige religiöse sittliche Erhebung“ (S. 28), die sich durch vermehrtes Kirchengehen und Beichten anzeigt, gar Sozialdemokraten will er da gesehen haben. Volksbelustigungen und Touristen verschwänden samt ihrer unzüchtigen Kleidung, Einfachheit, Sparsamkeit und Opfermut kämen wieder auf. 1918 ist plötzlich von den Verheerungen des Krieges die Rede, von Unsittlichkeit, vom Zusammenbruch der Religion. Feichtinger hat – wie auch bei vielen anderen Texten – einen süffisanten, kritischen Kommentar dazu verfasst: „Wo ist der ‚Völkerfrühling‘ geblieben und die ‚großartige sittliche Erhebung der Völker‘? Die ‚Botenmänner‘ setzen auf die Vergesslichkeit ihrer Leser.“ (s. 29)

Doch Willram und Reimmichl sind nur die Spitze des Eisbergs. Die Namen derer, die literarische Kriegspropaganda gemacht haben, Männer wie Frauen, sind Legion. Hier seien willkürlich einige namentlich genannt: Marie von Buol, Rudolf Greinz, Karl Emerich Hirt, Franz Kranewitter, Bartholomäus Del Pero, Klara Pölt-Nordheim, Karl Zangerle. Natürlich sind in den Texten deutliche Unterschiede und Abstufungen in der Motivation zu bemerken; manche mögen tatsächlich für die Ermunterung der Soldaten und der Menschen im Hinterland gedacht gewesen sein und auch als solche gewirkt haben.

Als Gegengewichte zu den vielen martialischen tirolischen Äußerungen hat Feichtinger immer wieder kriegskritische Texte eingebaut, u.a. von Karl Kraus, Kurt Tucholsky, Hermann Hesse. Aber es gibt, wenn auch wenige, kritische Stimmen aus Tirol, die der Kriegsverherrlichung nicht das Wort reden. Etwa Georg Gallmetzers Tagebuchaufzeichnungen, die freilich erst 1999 erschienen sind und also nicht der Zensur unterlagen. Er kritisiert immer wieder unverblümt seine inkompetenten Vorgesetzten, auch wenn er anfänglich auch von der patriotischen Begeisterungswelle mitgenommen wird. Auch Kriegsgräuel schildert er offen und scheut sich nicht, die vielgeschmähten Russen mit den Österreichern zu vergleichen.

Und da ist auch Ludwig von Ficker mit den Briefen an seine Frau Cissi, an Kraus und Ludwig Wittgenstein, und einige seiner „Brenner“-Mitarbeiter: Georg Trakl mit „Grodek“, Theodor Haecker mit seinem Essay „Der Krieg und Führer des Geistes“, Carl Dallago mit seiner Broschüre „Ueber politische Tätigkeit, den Krieg und das Trentino“ und seinen Gedichten, Josef Leitgeb (der seine Jugend im Weltkrieg verlor und dann auch noch den Zweiten Weltkrieg aktiv mitmachen musste) mit seinen Kriegserinnerungen, Richard Huldschiner, dem mit seinem Text „Standschützen auf der Wacht“ laut Feichtinger „eine der schönsten Schilderungen aus dem Krieg“ gelingt. Doch war da auch noch ein Joseph Georg Oberkofler, der das Leid der Mütter ganz im katholischen Sinn durch die Unterwerfung in den Willen Gottes sublimieren lässt (laut Feichtingers spitzigem Kommentar) und ein Arthur von Wallpach, dessen Gedichtband „Wir brechen durch den Tod“ eine Fundgrube für Feichtinger war, denn für Wallpach war der Krieg lange Zeit ein „frohes Fest“, der Kampf eine echte Bewährungsprobe für die Männer.

Feichtinger hat versucht, seine Texte thematisch zu gliedern: Der Anfang, Militärs, Feinde, Religion, Tirolismus, Frontalltag, Frauen im Krieg, Kriegsopfer, Zusammenbruch. Diese Gliederung hat selbstverständlich ihre Tücken, Überschneidungen sind vorprogrammiert. So kommt es zu Wiederholungen, manchmal wohl auch dadurch bedingt, dass Feichtinger seine vielen Funde eben auch unterbringen wollte, was verständlich ist, wenn man sich die große Arbeit vor Augen hält, die in dieser Auswahl und Zusammenstellung steckt. In manche bio-bibliografische Angabe, die jedem Autor einer derartigen Sammlung wie immer in letzter Sekunde noch abgerungen wird, haben sich einige Fehler eingeschlichen. Es ist eben ein nicht unwesentlicher Unterschied, ob Dallago seine Kritik an Mussolini „Die Diktatur des Wahns“ 1938 verfasst hat, oder richtig schon zehn Jahre früher, 1928.

Als letztes Kapitel hat Feichtinger Texte zusammengestellt unter dem Titel „Vom Weltkrieg in den Weltkrieg“.  Eindrucksvoll wird vorgeführt, wie nahezu zwangsläufig der Zweite Weltkrieg auf den ersten folgte. Und da waren es die Weltkriegsromane eines Anton Graf Bossi-Fedrigotti, eines Luis Trenkers, eines Karl Springenschmids, eine Oswald Menghins – Dokumente des „Militarismus“, die laut Feichtinger bereits den „Trommelklang einer kommenden Zeit“ (des Nationalsozialismus) hören, die „das Soldatentum der Deutschen“ verherrlichen.

Dem Buch beigelegt ist eine CD, betitelt mit „Der Heilige Krieg“, konzipiert und gestaltet von Jutta Wieser (Aufnahmeregie und Sprecher: Luis Benedikter). Schauspieler lesen Texte aus dem Buch, es gibt aber auch historische Aufnahmen, etwa von Kaiser Franz Joseph und Viktor Dankl, Interviews mit Josef Feichtinger und Ulrike Kindl, die eindeutige Aussagen zum Krieg macht: „Es gibt keinen Krieg, der verteidigt werden kann, der gerecht ist. Es gibt nur unfähige Politiker, die einen Krieg nicht verhindern können.“

  

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Mathias Klammer, Der Minimalismus der Dinge. Roman
Gosau, Salzburg, Wien: Arovell 2011, 153 S. 

Mathias Klammer, geboren 1988 in Osttirol, legt seinen ersten Roman vor.
Der Titel „Der Minimalismus der Dinge“ ist eigentlich irreführend, denn es geht im Text um die großen Themen der Literatur, um Liebe und Tod. Die Leser erfahren vom Ich-Erzähler vorerst kaum das Nötigste. Nur langsam kristallisieren sich die fünf Figuren und ihre Geschichten heraus. Den besonders zu Beginn nur spärlich vorhandenen Leitfaden kontrastiert ein Überangebot an Belehrung in den eingefügten Motti wie beispielsweise: „Eine Mücke im Auge kann auch einen Elefanten zum Weinen bringen“ (S. 141) oder auch an Zwischenüberschriften wie „Eine Erinnerung“. Auf ihrer Suche nach Liebe stolpern Paul, Marian, Jonas, Otto und Anna über den Lebensfaden des jeweils anderen. Die Unfähigkeit miteinander zu reden oder gar miteinander zu leben, endet im Roman für die meisten tödlich. In den Passagen, wo sich der Autor mit den Erinnerungen an die Großmutter und mit den Erlebnissen um eine alte Frau beschäftigt, die von Jonas gepflegt wird,, ist der Text poetisch, er ist stimmig: „Großmutter sitzt auf dem Stuhl, wippt vor und zurück. Die beiden Stricknadeln stoßen aneinander, rhythmisch, im Takt. Ich kauere auf dem Boden neben ihr, der Fernseher läuft. Mutter und Vater, nicht anwesend.“ (S. 51) Die Ellipse unterstützt den Eindruck beim Leser, es handle sich hier um eine Bestandsaufnahme. Zur Verknappung greift Mathias Klammer häufig, nicht immer ist diese Wahl eine glückliche: „Ich setze mich hin, wasche den Schmutz ab. Das prasselnde Wasser, mich von ihm befreit.“ (S. 46)
Um es mit den Worten Ludwig von Fickers zu sagen: „ein weidlich ungekämmtes und sozusagen stichelhaariges Talent“ (Ficker 1910 über Franz Alfons Helmer, einen anderen Osttiroler Schriftsteller).

Barbara Hoiß, Anton Unterkircher  

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Else Prünster, Magdalena Ölzant, Leo Sebastian Humer 1896-1965
Wien, Bozen: Folio Verlag 2009

Die gegenwärtige Bücherflut – zum Großteil von der öffentlichen Hand gefördert – schwemmt dem Leser manches Buch zu, das von vornherein entbehrlich gewesen wäre. Dieses Buch gehört keinesfalls zu dieser Sorte. Zu spannend ist diese Künstlerbiographie und doppelt spannend vor dem Hintergrund der Zeit, in die Humers Leben fällt. Trotzdem wird man mit diesem Buch nicht vollends glücklich, weil es in manchen Passagen zu oberflächlich und ungenau ist, weil es offensichtlich kein professionelles Lektorat gegeben hat. Somit konnte die im Vorwort versprochene Darstellung der Stationen des Künstlerlebens von Humer im Kontext der damaligen sozialpolitischen Situation nur teilweise eingelöst werden. Über weite Strecken ist nur das Gerippe da, die schillernde Künstlerpersönlichkeit erhält zu wenig Kontur. Mag sein, dass die Quellensituation schwierig ist, aber es gibt immerhin einen Nachlass des Künstlers. Eine kurze Beschreibung dieses Nachlasses hätte über dessen Ergiebigkeit Auskunft geben müssen, ein Gesamtverzeichnis des bisher bekannten Werkes wäre ein Desiderat gewesen. Denn gerade die Porträtierten liefern, wie man an den wenigen im Buch vorgestellten Beispielen sieht, wichtige Hinweise auf das Umfeld, in dem sich Humer bewegt hat. Gottfried Riccabona beispielsweise, der Vater der porträtierten Kinder Dora und Max, war lange Zeit Rechtsanwalt in Innsbruck gewesen und versuchte sich auch als Schriftsteller, Alfred Eccher-Eccho war der Begründer des Innsbrucker Flughafens, Engelbert Buchroithner Besitzer der Wagnerschen Universitäts-Druckerei in Innsbruck.
In Bozen entstanden Porträts von Erich Amonn und Lothar Christanell (Sohn des Vizebürgermeisters von Bozen), in Meran ließen sich auch prominente Kurgäste porträtieren, wie etwa die Tennisspielerin Cilly Aussem. Das schon 1922 entstandene Porträt von Hubert Mumelter weckt die Neugier, wie diese Bekanntschaft zustande gekommen ist. Humers Beziehung zu Ernst Nepo, dem anderen wichtigen Vertreter der Neuen Sachlichkeit in Tirol, oder auch zu Wilhelm Nicolaus Prachensky wäre unbedingt ausführlicher darzustellen gewesen. Auch über das offensichtlich freundschaftliche Verhältnis zum Architekten Clemens Holzmeister müsste es mehr zu berichten geben, als dass Humer bei mehreren von Holzmeister ausgeführten Projekten die künstlerische Innengestaltung übernahm. Die Abbildung eines Briefes von Kubin an Humer, der wegen seiner schweren Lesbarkeit hätte transkribiert werden müssen, genügt für die Darstellung dieser (vielleicht nur marginalen?) Beziehung nicht. Aus mehreren Literaturhinweisen ist zu entnehmen, dass das hier vorgelegte Buch, was den Informationsgehalt betrifft, hinter die 2005 abgeschlossene Diplomarbeit von Else Prünster über Humer zurückgefallen ist.

Humer wurde in Brixen geboren, seine Familie übersiedelte aber schon 1907 nach Innsbruck, wo er die Realschule besuchte. Von der Schulbank aus meldete er sich als Freiwilliger und kämpfte an der Ost- und Dolomitenfront. Die aus dieser Zeit stammenden Zeichnungen deuten bereits sein Talent als Porträtist an. Leider erfährt man nicht, wie es dazu kam, dass Humer noch während des Krieges einen Studienurlaub erhielt, um sich an der Akademie der Bildenden Künste in München einzuschreiben. Dort studierte er jedenfalls von Anfang Dezember 1918 bis 1921. Eine seiner ersten Ausstellungen hatte er offensichtlich 1921 in Japan, in Tokio wurde diese (oder war das schon eine andere?) 1923 durch ein Erdbeben zerstört. Ab 1921 etablierte er sich rasch im Nordtiroler Kunstbetrieb, hielt sich 1923-1925 vorwiegend in Südtirol auf und beteiligte sich hier u.a. an der 2. Kunstbiennale der Venezia Tridentina, war 1925 in Innsbruck Mitbegründer der Künstlervereinigung "Wage" und organisierte die Wanderausstellung "Tiroler Künstler", die 1925/26 in Deutschland, zuerst in Gelsenkirchen, dann u.a. in Düsseldorf, Hamburg und München zu sehen war. Die Folge dieser Deutschlandkontakte war seine 1926 (oder 1927?) erfolgte Übersiedlung nach Düsseldorf. Sein Brot verdiente Humer anfänglich als Illustrator diverser Zeitungen (leider sind im Buch keine Abbildungen davon zu sehen). Humer wurde 1932 Mitglied der NSDAP, seine deutschnationale Haltung deutete sich allerdings schon in einem Plakat an, das er 1921 für die Volksabstimmung in Tirol anfertigte. Humer wurde 1933 außerordentlicher Professor an der Akademie der Bildenden Künste in Düsseldorf und übernahm die Klasse des entlassenen Paul Klee, 1939 wurde er zum Ordentlichen Professor ernannt. Im Zweiten Weltkrieg betreute er Künstler der Propaganda-Staffel in Belgien und Italien. Da sein Haus in Düsseldorf zerstört wurde, übersiedelte die Familie schon 1941 nach Bregenz. In Vorarlberg arbeitete Humer seit 1945 vorwiegend an sakralen Auftragsarbeiten.
Sein künstlerisches Schaffen umfasst ein weites Spektrum von Porträts bis zu großflächigen Wandmalereien. Er beginnt mit naturalistischen Kopfstudien. Die hervorragende Tuschskizze, seinen Studienkollegen Erwin Henning im Stile der Karikaturen von Max von Esterle darstellend, scheint leider ein Einzelversuch gewesen zu sein. Sein Selbstporträt, auf dem Buchumschlag abgebildet, lässt den starken Einfluss von Egon Schiele, sein Bildnis "Mädchen im roten Kleid" jenen vom Tiroler Altmeister Egger-Lienz erkennen. Die größte Eigenständigkeit findet er in seinen Bildern im Stile der Neuen Sachlichkeit. Seine Vielfältigkeit und Wandelbarkeit in Stil und Technik hat ihm von den Buchautorinnen die wenig schmeichelhafte Bezeichnung 'künstlerisches Chamäleon' eingebracht. In welchem Maße diese Eigenschaft seiner Experimentierfreudigkeit oder aber der Anpassung an die damals aufkommenden Ideologien des Faschismus und des Nationalsozialismus zuzuschreiben ist, vermochten die Autorinnen nicht überzeugend genug darzulegen. Am ehesten gelingt dies noch in dem Abschnitt über die Frauenporträts. Die Darstellung der eigenständigen, intellektuellen, sich auch ihrer erotischen Ausstrahlung durchaus bewussten Frau musste 1932 der züchtigen Ehe- und Hausfrau weichen.
   

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Hellmut von Cube, Mein Leben bei den Trollen
Mit einem Vorwort von Herbert Rosendorfer
Bozen: Edition Raetia 2008

Wer noch am eigenen Leib erfahren hat, wie in den 1960er Jahren die bundesdeutschen Touristen die Eingeborenen bestaunt, manchmal auch etwas von oben herab angesehen haben, der wird sich prinzipiell schwer damit tun, sich von einem deutschen Schriftsteller als ein auf menschliche Größe zusammengeschrumpfter Troll bezeichnen und beschreiben zu lassen.
So tut es aber Hellmut von Cube (1907-1979) in dem jetzt wieder aufgelegten Buch, das erstmals bereits 1961 erschien und in Deutschland aber auch in Südtirol (von Josef Rampold) mit Vergnügen gelesen wurde. Obwohl der Wohnort der Trolle unerwähnt blieb, auch ihre Namen und jene der Orte ringsum verändert wurden, war den Schnalstalern bei Erscheinen gleich klar, dass von ihnen die Rede war, speziell vom Finailhof und dessen Bewohnern. Und zweifellos ist verständlich, dass sie nach Kenntnis dieses Buches mit dem Autor, der bei ihnen den Urlaub verbracht hatte, nichts mehr zu tun haben wollten.
Herbert Rosendorfer redet in seinem Vorwort von einem liebevollen Staunen eines von außen Kommenden, "welches Staunen von den Bestaunten nicht immer wohlwollend aufgefasst, sondern als Kritik verstanden und damit vollkommen missverstanden wurde." Und er hat noch eins draufgesetzt, indem er die Trolle auch gleich noch klobig auf den Umschlag gezeichnet hat.
Das Problem liegt aber wohl eher darin, dass den Bergbauern im Grunde das Menschsein abgesprochen wird. Da nützt es in der Folge auch wenig, wenn ihnen übersinnliche, magische Fähigkeiten zugesprochen werden. Es geht um die gleiche Augenhöhe, und die kann nie erreicht werden, wenn einem das 'zivilisierte' Gegenüber vermittelt, ein steinzeitlicher Höhlenbewohner zu sein. Da braucht es dann nicht Wunder zu nehmen, wenn sich diese Menschen verschlossen zeigen, wenn sie misstrauisch und übellaunig, eben wie Trolle, reagieren. Und auf einen derartigen Eingang in die deutsche Literatur, wie er im Nachwort positiv hervorgehoben wird, können die Finailer, überhaupt alle Bergbauern, gern verzichten.
Irgendwie wird man den Verdacht nicht los, dass Cube den Vergleich mit den Trollen überhaupt nur gewählt hat, weil "trollisch" so verdammt ähnlich wie tirolisch klingt und bei der Lektüre merkt man immer wieder, dass er dieses Bild nur mit äußerster Mühe aufrecht erhalten kann. Etwa dann, wenn er vom Besuch des Geistlichen auf dem Hof erzählt. Die Erklärung, warum die Trolle eine derartige Hochachtung vor ihm empfinden, ist einfach nicht schlüssig, denn der Glaube der Trolle in ihren nordischen Höhlen und Wäldern, falls sie überhaupt einen solchen gehabt haben, ist mit dem Katholischen eben nicht so ohne weiteres vergleichbar. Die Italiener werden übrigens als Phäaken, also als Volk von Genießern bezeichnet. Aber auch dieses Bild hinkt, denn das Volk aus der griechischen Sage hätte sicher ein friedliches Zusammenleben mit den Trollen zustande gebracht. Fast zur Gänze verschwindet hinter den oft krampfhaft witzig und satirisch sein wollenden Zeilen die Härte, mit der es auf einem Bergbauernhof zugeht. Denn der kleine Hirtentroll im Regen mag zwar mit seinem durchnässten Gewand wie eine Vogelscheuche aussehen, aber witzig ist das eigentlich nicht und er lässt in Wahrheit den Regen keinesfalls mit Gleichmut an sich herunter rinnen, sondern er hat einfach nur furchtbar zu kalt. Karoline, die ledige Schwester des Bauern, die schielt, hinkt, Schnaps trinkt und ihr 'versäumtes' Leben mit dem Lesen von Heimatromanen sublimiert ist eigentlich eine tragische Figur und nicht geeignet für einen Bauernschwank, in dem man sich beim Lesen dieses Buches über weite Strecken zu befinden vermeint. Dass Cube mit seinem feuilletonistischen Stil manches überzeichnet, wäre an sich nicht das Problem. Aber es ist der Blick – mehr von oben als von außen –, eben dieses zweifelhafte Staunen, dass die Bergbauern lesen und rechnen können, ja sogar mit den neuesten Errungenschaften der Technik sehr gut zurechtkommen, etwa einen Motor reparieren und ein E-Werk betreiben können, obwohl ansonsten im Haus noch kein fließendes Wasser vorhanden und das Örtchen daher noch ein Plumpsklo ist.
Mit solchen prinzipiellen Vorbehalten wird es dann allerdings schwer, dem Büchlein auch gute Seiten abzugewinnen, die es zweifellos hat. Der Schafhandel ist dafür ein köstliches Beispiel. Es sollte nur nicht zu sehr, wie im Vor- und Nachwort angeregt, als Dokument gelesen werden.
  

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Konrad Rabensteiner, Der Befall
Roman
Bozen: Edition Raetia 2007, 1022 S., € 38 

Um diesem Roman gerecht zu werden, braucht es vor allem Zeit. Zeit, um sich einzulassen auf eine Welt, die der heutigen jüngsten Generation schon völlig fremd erscheinen wird, obwohl sie kaum zwei Generationen zurückliegt. Bei den Älteren, vor allem bei jenen, die auf die siebzig zugehen, wird hingegen der Wiedererkennungseffekt groß sein. Allerdings nur dann, wenn sich diese Welt nicht zur "guten alten Zeit" verfestigt hat, die der heutigen als positives Gegenbild gegenübergestellt wird. Denn zurückwünschen sollte man sich eine solche Zeit ebenso wenig, wie man die heutigen Missstände und Zwänge unserer Konsumgesellschaft übersehen sollte.
Der Roman erzählt die Geschichte von Daniel Steinknecht, der in einem Eisacktaler Bergdorf zusammen mit einer großen Geschwisterschar aufwächst. Schon von klein auf eher ängstlich, zur schweren Feldarbeit wenig brauchbar, ist sein liebstes Spiel das Messelesen. Und weil er ein guter Schüler ist, ist sein Weg zum Priesterberuf vorgezeichnet. Er kommt Anfang der 1950er Jahre deshalb vorerst einmal ins Knabenseminar Johanneum in Dorf Tirol, wo es wie in einer Kaserne zugeht: ein streng geregelter Tagesablauf mit täglichem Kirchgang, Schule, Studierzeiten. Wer sich nicht daran hält, sich dem absolutistischen Regiment des vorwiegend aus Geistlichen bestehenden Lehrkörpers nicht beugt, fliegt gnadenlos hinaus. Und wer im Laufe des Studiums zur Einsicht gelangt, dass er sich doch nicht zum Priester berufen fühlt, darf dies nicht laut sagen, denn sonst muss er das Seminar verlassen und im staatlichen Gymnasium weiterstudieren, was den meisten aus Kostengründen nicht möglich ist. Daniel und sein Bruder Egon gehören zu den ärmeren, deren Eltern das Geld für das Studium schwer aufbringen, freilich tauchen im Johanneum die Söhne von Reichen auf, für die dann die Regeln im Seminar nicht mehr so streng gehandhabt werden, will man doch die reichen Wohltäter nicht verlieren.
Daniel freilich hat weder Zweifel an seiner Berufung noch Schwierigkeiten mit dem Studium und der Disziplin. Was es aber mit dem sechsten Gebot auf sich hat, das aufgrund der häufigen Erwähnungen, der nebulös blumigen Umschreibungen und der priesterlichen Nachfragen im Beichtstuhl so zentral zu sein scheint, kann er die längste Zeit nicht recht verstehen, auch nicht, dass Bubenfreundschaften gerade deswegen beargwöhnt werden. Doch genießt er die Freundschaft zum älteren Achmed, der freilich schon weiß, dass er nicht Priester werden will und Daniel auf einer gemeinsamen Bergtour 'aufklärt'. Manche Priester hätten nur nicht gewagt, den einmal eingeschlagenen Weg zu verlassen und seien später zu menschlichen Wracks geworden und zu Alkoholikern verkommen. Als er dann behauptet, dass das Zölibat abgeschafft gehörte, da sich ja doch ein großer Teil der Geistlichen nicht daran hielte, ist Daniel völlig entsetzt. Noch mehr, als Achmed behauptet, der Sündenbegriff der Kirche sei nur dazu da, die Menschen ständig in Gewissensnöte zu bringen und damit niederzuhalten. Gerade in dieser Situation, wo Daniel natürlich entrüstet die katholische Kirche verteidigt, die ja schließlich wissen müsse, was Sünde sei, zeigt sich die Widersprüchlichkeit in seiner Persönlichkeit, der "Befall", der ihn später in die Psychiatrie bringen sollte. Er ist zugleich von Achmed doch wieder fasziniert und sogar sinnlich erregt vom Anblick des vorausgehenden Freundes, nur um im nächsten Augenblick wieder Reue über diese gedankliche Verfehlung zu empfinden. Dass Daniel für die harte Lebensrealität nicht ganz geschaffen ist und ihr nie gewachsen sein wird, sieht man an seinem Freund Iwan und seinem Bruder Egon sind. Egon hebt sich allein schon durch seine physische Überlegenheit vom Bruder ab, erlaubt sich aber auch eine größere Freiheit im Denken. Sein älterer Bruder glaubt zwar ihn leiten und bevormunden zu müssen, wirkt aber in seinem besserwisserischen Dünkel oft eher lächerlich. An Iwan, der ihm lebenslang – auch wenn er bereits Dekan geworden ist – die Treue hält, zeigt sich, dass die nicht gerade menschenfreundliche Umwelt im Seminar, später auch im Priesterseminar in Trient, eben doch nicht zwangsläufig krank machen muss.
Mit Iwan begibt sich Daniel auf eine Romreise, die sich zu einem außergewöhnlichen Ereignis in Daniels Leben entwickelt. Denn Rom ist eben nicht nur das Zentrum der katholischen Kirche, sondern die Stadt ist vor allem voll von Kunstdenkmälern, an denen die Studenten ihr theoretisches Wissen nun endlich praktisch erproben können. Dieser einwöchige Aufenthalt gerät demzufolge geradezu zu einer kunstgeschichtlichen Führung durch Rom. Fast möchte man im Zusammenhang mit dem Fortgang der Romanhandlung von Ab- und Ausschweifungen reden, denn diese wenigen Tage – es wird noch ein Abstecher nach Neapel angehängt – machen nahezu ein Viertel des Buchumfangs aus. Freilich haben die Seminaristen auch in den Vatikanischen Museen ein Problem. Da gibt es viel Nacktes zu sehen und sie müssen sich einreden, dass das ja Kunstwerke sind und die Betrachtung von sündigen Körperteilen daher nicht einmal eine lässliche Sünde ist.
Das sechste Gebot hat selbstverständlich aus Sicht eines Priesterkandidaten eine besondere Bedeutung. Dies heißt aber keineswegs, dass dieses Thema im Roman überbetont wäre. Wer dieses Buch liest, taucht in die Nachkriegsjahre in Südtirol ein. Auf Schloss Sigmundskron wird 1957 das "Los-von-Trient" ausgerufen, die aufgeheizte und brisante Atmosphäre der Bombenjahre führt auch zu Reibungen zwischen den italienischen und deutschen Studenten im italienisch geführten Priesterseminar in Trient. Zugleich bringt das 2. Vatikanische Konzil der 1960er Jahre tief greifende Veränderungen im kirchlichen Leben mit sich. Daniel wird ein begeisterter Befürworter dieser Neuerungen und gerät als Kooperator deswegen in Konflikt mit einem konservativen Vorgesetzten. Dabei scheint aber gerade diese Fortschrittlichkeit dem Naturell von Daniel nicht ganz zu entsprechen. Seine schleichende Krankheit zeigt sich auch vor der Subdiakonatsweihe, wo er in einen Weinkrampf verfällt, weil er seine geliebten Krawatten gegen das strenge Kollare (Kragen) vertauschen muss. Auch fühlt er sich für das Priesteramt noch nicht genügend vorbereitet und hätte noch gern ein Theologiestudium angehängt. Dies wird ihm aber nicht gewährt. Trotzdem fühlt er sich anfänglich als Kooperator recht wohl. Mehrmalige Versetzungen lassen ihn dann aber immer misstrauischer gegenüber dem bischöflichen Ordinariat werden, schließlich steigert sich dies zu einem Verfolgungswahn: Er fühlt sich immer mehr wie sein Namenspatron: als Märtyrer in der Löwengrube. Seine Versetzung als Präfekt in ein Knabenseminar empfindet er daher als Strafmaßnahme. Er vernachlässigt immer mehr seinen Dienst und flüchtet sich immer öfters heim zur Mutter. Seine psychische Krankheit verschlimmert sich, bis seine Angehörigen sich keinen anderen Rat mehr wissen, als ihn in die Psychiatrie nach Innsbruck zu bringen. Dort wird er – schon damals nicht mehr der neueste Stand der Therapie – mit Elektroschocks behandelt, was seine Persönlichkeit endgültig bricht.
Ins Innenleben von Daniel lässt uns der Autor übrigens nur wenig blicken, wie überhaupt die Darstellung der Priesterseminarzeit in Trient im Vergleich mit der Schilderung der Schulzeit im Johanneum blasser wirkt. Und unvermittelt sind gegen Ende des Romans dann auf einmal 25 Jahre vergangen, die Daniel inzwischen als Kaplan in einem Altersheim verbracht hat. Das hat wohl damit zu tun, dass Daniel hier dem Blick des Bruders Egon weitgehend entzogen ist, aus dessen Perspektive uns seine Lebensgeschichte ansonsten über weite Strecken vermittelt wird. Und dieser Bruder wiederum hat einen ziemlich parallelen Lebensgang mit jenem des Autors. Dieser Roman darf und wird von der älteren Generation wohl auch als Schlüsselroman gelesen werden. Aber er ist auf diese Lesart keineswegs angewiesen. Daniel ist ohne Zweifel eine gut ausgestaltete literarische Figur und der Roman vermittelt in seinem ruhigen, unaufgeregten und auch durchaus nicht geschönten Erzählton ein Stück Südtiroler Zeitgeschichte.
  

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Martin Kolozs, Die Geschichte geht so
Mit einem Vorwort von Felix Mitterer
Weitra: Bibliothek der Provinz 2007 

Wie eine Geschichte geht, das ist wohl am wenigsten bedeutsam. Wichtig ist, dass Geschichten erzählt werden und natürlich ist es genauso wichtig, dass die Geschichten gehört, gelesen und miterlebt werden. Das ganze Büchlein ist ein Plädoyer für Geschichten, für eine Aufhebung der (vermeintlichen) Gegensätze von Realität und Traumwelt. Und wenn Menschen etwas nicht wissen, dann spinnen sie Geschichten und träumen am hellichten Tag besser als in der Nacht im Bett. Und Geschichten, die erzählt werden können, sind wahr, sonst könnte man sie ja nicht erzählen…
Am Anfang dieser Geschichte sieht es so aus, als würden eigentlich zwei Geschichten erzählt. Zum einen die Geschichte eines Zauberers, der hinter Sonne und Mond an einem silbernen See lebt. Zum andern jene eines Psychiaters, der Verrückten hilft, ihren Verstand wieder zu finden. Dieser soll nun ein psychiatrisches Gutachten erstellen über einen alten Mann in einer kleinen und feuchten Altbauwohnung. Der Alte hat sich nach dem Tod seiner Frau in eine Traumwelt zurückgezogen, er ist davon überzeugt, dass es alle Phantasiewesen aus den Märchen- und Sagenbüchern gibt. Schon bald fließen die zwei Geschichten ineinander. Der Alte wird im Verlauf der Erzählung eins mit dem Zauberer und der Psychiater war einst selbst sein Zauberlehrling, der Xylophon auf einen Zaun spielte, der gelernt hatte, die Zeit rückwärts laufen zu lassen, und der, von seinem Zauberer in einen Esel verwandelt, einen Wettlauf bis zum Horizont gewinnt und diesen sogar mitnehmen kann. Der Zauberer erklärt ihm, dass er das als Mensch nie hätte machen können, da die Vernunft ihn gehindert hätte, daran zu glauben. "Aber um das Unmögliche wahr zu machen, muss man träumen können." Als Zauberer und auch als träumender Mensch kann man aber auch in die Erinnerung zurückgehen, um einen Gedanken zu verfolgen, zumal dann, wenn es sich um einen dunklen Gedanken handelt, dem es gelungen ist, die Mauer des Vergessens unbemerkt vom dort sitzenden kafkaesken Torwärter zu passieren und die Erinnerung zu stehlen. Ohne Erinnerung gibt es aber kein Zurechtfinden in der Gegenwart und keine Zukunft, denn hat man alles vergessen, gibt es keine Grundlage, von der aus man weiterdenken kann. "Vergiß mich nicht und die Geschichte wird weitergehen" sagt der Zauberer zu seinem Zauberlehrling.
Felix Mitterer schickt das Büchlein mit einem begeisterten Vorwort auf Leseabenteuer, nicht zuletzt auch mit dem Hinweis, dass ein ähnliches Lesevergnügen wie bei Saint-Exupèrys "Der kleine Prinz" zu erwarten sei: "Martin Kolozs hat eine Traumgeschichte über die menschliche Existenz geschrieben. Lakonisch, essentiell, hoch poetisch, komplex und einfach zugleich, genial in der Konstruktion und in der Verschränkung der Ebenen."
 

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H. W. Valerian, Nicht zu glauben. Briefe an einen katholischen Freund
Innsbruck: Limbus 2006
 
Briefe – sofern sie nicht fingiert sind –richten sich an einen Briefpartner und werden von diesem ‚mitgeschrieben’, insofern seine Persönlichkeit und sein Standpunkt vom Schreiber mitreflektiert wird. Nun schreibt zwar in diesem Buch ein Atheist zwölf Briefe an seinen katholischen Freund, aber dieser bleibt dabei ohne Kontur, geschweige denn, dass er auch einmal mit einem Brief antworten dürfte. Der Atheist, und das ist zugleich auch der Autor des Buches, der sich hinter dem Pseudonym H. W. Valerian verbirgt, monologisiert also vor sich hin und damit ist wohl auch schon gezeigt: Zwischen einem Atheisten und einem Katholiken kann es keinen Dialog über Glaubensfragen geben. Entweder glaubt man oder man glaubt nicht. Darüber lässt sich keine Diskussion führen, höchstens darüber, was schon Sören Kierkegaard vor rund 150 Jahren das „Ärgernis der Repräsentation“ nannte. Auch Kierkegaard störte die Tatsache, dass zu seiner Zeit jedermann Christ war, ohne wirklich ein solcher zu sein. Aber wir müssen gar nicht so weit zurückgehen,   und wir können sogar in Tirol bleiben. In der Zeitschrift „Der Brenner“ wurde Kierkegaard seit 1914 – und Glaubensfragen im Allgemeinen – stark diskutiert und die katholischen Kirche als Institution massiv angegriffen oder aber auch verteidigt. Carl Dallago und z.T. auch Ferdinand Ebner vertraten eine äußerst kirchenkritische Position, Theodor Haecker und mit Fortschreiten der Diskussion auch Ludwig von Ficker übernahmen die Verteidigung. Alle an der „Brenner“-Diskussion Beteiligten darf man aber ohne Zweifel als tief gläubig bezeichnen. Viele der von dem pseudonymen Tiroler Autor in seinem Buch behandelten Themen wurden also schon vor nahezu hundert Jahren aufgegriffen. Neu daran ist nur, dass jetzt ein Atheist die Fragen stellt. Die Antworten, die er sich gleich auch selber gibt, fallen naturgemäß für alle Glaubensgemeinschaften, speziell auch für die katholische Kirche nicht schmeichelhaft aus. Hat doch gerade das christliche Abendland die größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts, zwei Weltkriege, ausgelöst und zu verantworten, wie denn überhaupt im Laufe der Geschichte nicht wenig Schindluder im Namen der Religion getrieben worden ist. In der „Mir-sein-Mir-Mentalität“ des wohl immer schon „unheiligen“ Landes Tirol – wie könnte denn überhaupt jemals ein Land heilig sein? – hat es möglicherweise einen noch stärkeren Glaubensdruck als anderswo gegeben. Die Betonung liegt aber auf hat, denn heute ist der Einfluss der katholischen Kirche auf das öffentliche Leben, aber auch auf jeden einzelnen – Gott sei Dank – stark zurückgegangen. Nicht einmal ÖVP-Politiker müssen sich mehr unbedingt in der Kirche blicken lassen, wenngleich manche sich immer noch nicht ungern zusammen mit kirchlichen Würdenträgern ablichten lassen. Es ist heute jedenfalls so, dass ein Atheist in Tirol im Großen und Ganzen unbehelligt leben kann und wohl auch nicht unter einem Pseudonym schreiben müsste aus Angst vor möglichen Repressalien. Vielmehr dürften sich hier der Autor und/oder der Verlag wohl davon eine gewisse Werbewirksamkeit versprechen. Denn so unerhört oder gar revolutionär sind die Forderungen, die der Autor in seinem Schlussresümee stellt, eben doch nicht (mehr): „Die gleichberechtigte Anerkennung des Atheismus“, „Die Einsicht in die Fragwürdigkeit des Glaubens“, „Trennung von Moral und Religion“, „Trennung von Kirche und Staat“ und die „Abschaffung des Religionsunterrichts an staatlichen Schulen“. Freilich, dass hier immer noch einiges zu tun ist, daran besteht kein Zweifel, aber das gilt für andere Bereiche, etwa die Gleichberechtigung der Frau auch. Wer aber alle Zweifel, die je einem denkenden Christen wohl auch schon hin und wieder gekommen sind, gesammelt lesen will, ist mit diesem Buch gut versorgt. Valerians Angriffe erinnern, wie übrigens auch schon jene von Dallago, an Don Quichotes Kampf gegen Windmühlen. Das Buch ist weder ein Sachbuch noch kann man es als literarisches Werk betrachten: die „Wortgewandtheit“, die sich der Autor selber attestiert, reicht dafür nicht aus.

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(W)orte. Words in Place
 
Zeitgenössische Literatur aus und über Südtirol.
 Contemporary Literature by German-Speaking Minority Writers from South Tyrol (Italy).
Herausgegeben, kommentiert und übersetzt von Siegrun Wildner.
Innsbruck, Bozen, Wien: Skarabaeus 2005, 410 S.

Es ist äußerst erfreulich, dass sich eine amerikanische Professorin – Siegrun Wildner lehrt an der University of Northern Iowa – so ausführlich mit Literatur aus und über Südtirol auseinandergesetzt und eine große Anzahl von Texten ins Amerikanische übersetzt hat. Für einen hiesigen Leser ist dieses Buch eine Kuriosität. Bleibt nur zu hoffen, dass sich viele Leser im anglo-amerikanischen Raum dafür finden. Zur Qualität der Übersetzungen kann ich mich aus fachlichen Gründen nicht äußern. Nur soviel sei gesagt: Wildner hat ihren durchaus richtigen Vorsatz, Dialektgedichte nicht übersetzen zu wollen, weil das nicht ginge, nicht ganz eingehalten und Kasers Gedicht „Weltmoßstob“ trotzdem übersetzt: „es isch eh guat“ = „it is quite alright“.
Bei der Auswahl wurden eine „soziokulturelle Dimension der Texte sowie die Zeit ihrer Veröffentlichung als verbindende Merkmale in den Vordergrund gerückt“, aber auch versucht, die Vielseitigkeit der literarischen Produktion zu zeigen und auf den großen Stellenwert der „Mehrsprachigkeit“ in der Literatur in Südtirol hinzuweisen. Über die Auswahl ließe sich trefflich streiten, denn sie ist selbstverständlich auch von subjektiven Faktoren mitbestimmt, von persönlichen Vorlieben der Herausgeberin und Übersetzerin. Auf jeden Fall steckt in diesem Band viel Arbeit und die den Texten vorangestellte Abhandlung über „Die Neuere Literatur aus Südtirol“ lassen eine eingehende Beschäftigung erkennen.
Was wird nun dem anglo-amerikanischen Leser als „Neuere Literatur aus Südtirol“ präsentiert: Begonnen wird mit kritischen Essays, an erster Stelle stehen Kasers „Brixner Rede“ und einige seiner Glossen, gefolgt von Zoderers „À propos Heimat“. Es folgen Romanauszüge aus Helens Flöss’ „Schnittbögen“, Sabine Grubers „Aushäusige“ und Zoderers „Die Walsche“. Es gibt Kurzprosa von Flöss, Kaser, Kurt Lanthaler und Anita Pichler; Gedichte von Kaser (auch Dialektgedichte), Gerhard Kofler (viele davon zweisprachig italienisch/deutsch, auch Dialektgedichte), Sepp Mall, Josef Oberhollenzer (auch Dialektgedichte), Anita Pichler, Konrad Rabensteiner und Luis Stefan Stecher. Wildner ist sich sehr wohl bewusst, dass wichtige Namen fehlen, etwa Bettina Galvagni, Waltraud Mittich, Oswald Egger, Martin Pichler und Toni Bernhart. Zum Teil ist das Fehlen, vor allem der jüngsten Schriftstellergeneration, auch damit zu erklären, dass 2002 sozusagen der Redaktionsschluss für die zu übersetzenden Texte war. Dies ist insofern bedauerlich, als gerade bei der jüngsten Schriftstellergeneration das „Thema“ Südtirol keine besondere Rolle mehr spielt. So konnte Sepp Mall im Vorwort der Anthologie: „Aus der neuen Welt“ (2003) die Erzählungen der jungen AutorInnen wie folgt charakterisieren: „Keine Literatur, in der Südtirol oder das, was man für spezifische Südtiroler Themen hält, als Gegenstand der Betrachtung eine zentrale Rolle spielen würden.“ So gesehen ist die vorliegende Anthologie schon wieder ein Anachronismus.
Wildner hat, um dem entgegenzuwirken, dem Buch eine Liste von ausgewählten Buchpublikationen (1990-2004) beigefügt, die Anregung für weitere Lektüre sein soll. Für ihr Lesepublikum hat sie neben der schon erwähnten literarhistorischen Einführung, ausführliche Anmerkungen zu den Texten, Fakten und Daten zur Südtiroler Geschichte, biographische Informationen zu den Autorinnen und ein „Südtirol-Glossar“ erstellt. Für die angepeilte Leserschaft ist dies durchaus angebracht, denn wie sollte diese etwa die Kürzel „AdO“ (Arbeitsgemeinschaft der Optanten) oder BAS (Befreiungsausschuss Südtirol) verstehen, wissen, was das „Paket“ ist, dass mit den „Dolomiten“ in den Texten zumeist die Tageszeitung gemeint ist und was es mit der „Zweisprachigkeitsprüfung“ auf sich hat.
Bei den Kaser-Texten werden die Kommentare aus den „Gesammelten Werken“ (1988-1989) nachgedruckt. Dies führt allerdings dazu, dass an sich schon etwas problematische Kommentare aus dem Gesamtzusammenhang des Kommentars zur Kaser-Ausgabe gerissen und ohne weitere Präzisierung nachgedruckt werden. So steht etwa die Feststellung, dass es in Südtirol eine Art ethnische Arbeitsteilung gibt (dass es keine italienischen Bauern gibt), ohne weitere Erklärung ziemlich fragwürdig da. Aber auch etwa jene Kommentarstelle zu Kasers Glosse „Wir importieren alles“: „Das Engagement für das Deutschtum geht so weit, daß manchen die italienische Küche oder ein ‚italienischer’ Meeraufenthalt verpönt ist.“ Zu Kasers Lebzeiten mag diese Haltung noch einigermaßen verbreitet gewesen sein, obwohl Kaser schon 1978 in seiner Glosse sehr treffend angemerkt hat: „Die schleichende Unterwanderung der Speck- & Knödelküche durch Paradeismark will keiner mehr missen, genauso wie die patriotischen Politiker genüßlich am fingerhutgroßen Kaffee italienischer Art schlürfen, elegant gewandet, behütet, beschuht in südlichem Design.“ Für einen Leser, der Südtirol möglicherweise erstmals anhand dieser Anthologie kennen lernt, könnte durchaus der Eindruck entstehen, dass es noch 2005 viele Südtiroler gibt, die wegen ihrer Italienerfeindlichkeit auf die vorzügliche italienische Küche und auf italienische Meeraufenthalte verzichten. Es mag zwar immer noch ein paar Ewiggestrige geben, aber diese Ausnahmen bestätigen ja bekanntlich die Regel.

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Carlo Romeo, Flucht ohne Ausweg
 
Auf den Spuren des Banditen Karl Gufler.
Übersetzung aus dem Ital. von Martha Verdorfer, Dominikus Andergassen. Mit einem historischen Anhang von Leopold Steurer.
Bozen: Edition Raetia, 2005, 165 S.

Anhand von Prozessakten und Aussagen von Zeitzeugen eine Biographie zu schreiben, das ist der normale schon ziemlich dornige Weg, den der Historiker zu gehen hat, aber daraus einen „Historischen Roman“ – diese Bezeichnung findet sich auf dem Buchumschlag – zu verfassen, das ist ein möglicherweise noch schwierigeres Unterfangen. Gerade bei einem Karl Gufler (1919-1947, der von vornherein wie eine Figur aus einem Roman anmutet. Er stammt aus ärmlichen Verhältnissen, muss sich schon früh als Hüterbub und Knecht verdingen, optiert 1939 und rückt zur deutschen Wehrmacht ein, wird mehrfach ausgezeichnet, desertiert 1943 und lebt in den Wäldern des Passeiertals als Partisan, wird von den einheimischen Nazis gefangen genommen, zum Tode verurteilt, begnadigt und einer Strafkompanie in Ungarn zugeteilt, in einer abenteuerlichen Flucht gelingt ihm die Rückkehr ins Passeiertal, wo er sich als Führer der Deserteure an den Nazis rächt und den Hauptverantwortlichen für seine Verhaftung sogar ermordet. Eine kurze Zeit arbeitet er sogar offiziell für die Amerikaner. Nach 1945 kehrt wieder die ‚Normalität’ ein, seine Gegner gelangen wieder zu Ansehen und Ämtern, er hingegen ist nur mehr Bandit, der sich mit Diebstählen durchschlägt, bis er im Alter von 27 Jahren bei einem Schusswechsel mit den Carabinieri getötet wird.
Romeo hat daraus keinen Action-Roman gemacht, der Erzähler hält sich sehr zurück, zitiert an vielen Stellen die Aussagen bei den Prozessen und lässt Zeitzeugen sprechen. Es entsteht kein fest zementiertes Bild, weder wird zu sehr auf die soziale Komponente verwiesen, die einen solches Ende prädestiniert erscheinen lässt, noch wird Gufler wegen seiner Brutalität verurteilt. Die Figur – im Tal bereits zu einer Legende geworden – wird in all ihren schillernden Aspekten gezeigt. Was letztlich die inneren Beweggründe für sein Handeln waren – die meisten anderen, die ähnlich Schreckliches erlebt haben wie er, konnten sich wieder in das ‚bürgerliche’ Lebens eingliedern – konnte und wollte auch die literarische Herangehensweise nicht an den Tag bringen. Ein faszinierender Blick in die menschlichen Abgründe ist es allemal.

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Otto Licha, Zuagroaste
 
Kalendergeschichten.
Münster: AT Edition 2005, 164 S.

Gleich im Vorwort will uns der „Autor“ weismachen, er schreibe für ein EU-Dokumentationsarchiv in Brüssel, das für die „Pflege lokaler Kultur“ zuständig sei. Sagen, Geschichten und Begebenheiten sollten gesammelt, eine Art Reimmichl-Kalender sollte entstehen. Damit ist die Neugier auch schon geweckt und selbstverständlich folgen dann Geschichten, die den Geschichten vom Reimmichl diametral gegenüberstehen. Die Fiktion des Kalenders wird aber auch mit den tatsächlichen Monatsüberschriften aufrechterhalten. Zu jedem Monat gibt es einen kurzen Monatsgedanken und eine Erzählung. Aber auch in den Monatseinstimmungstexten sucht man vergeblich vorfabrizierte Stimmungsbilder oder wonnemonatliche Frühlingsgefühle. Sehr wohl stimmen diese Texte aber auf die nachfolgenden Erzählungen ein. Die Monatstexte stehen untereinander (teilweise) wieder in Verbindung, Themen werden wieder aufgenommen, weitergesponnen, vertieft. Für den Monat April gibt es zwei Texte (einen davon hat Markus Köhle beigesteuert) und zwei Erzählungen. Sozusagen als letzten Rahmen für die Erzählungen gibt es am Ende des Buches ein Glossar, das sich aber zu einem eigenen Text verselbständigt hat. Zu einigen Stichworten, z.B. zum Beamten, werden eigene Geschichten erzählt, andere bleiben leer, z.B. „Y-Yodeln in Ynspruck“.
Geradezu selbstverständlich ist der Kalendermann ein „Zuagroaster“, „die Welt ist voll davon“, also auch Tirol, in dem seine Geschichten spielen und in dem man „mancherorts zwar noch nach fünf Generationen als ‚Zuagroaster’ gilt“, „aber, wenn er sich einfügt, manchmal mittun darf“. Der Erzähler ist zudem ein verhinderter Musiker, der sich mit der Musikalität von Stabreimen und Alliterationen tröstet, die er in viele Texte eingebaut hat.
Die Erzählungen handeln von Törggele-Partien, Sauna-Runden, Liebesgeschichten, Familiengeschichten. Leider haben nicht alle dieselbe Qualität, aber alle haben Widerhaken. Es wird also nichts mit einem lukullischen Genuss von gefällig servierten Kalendergeschichten. Auch wenn in einem ruhigen Erzählton Alltagsgeschichten aufgetischt werden, so erweisen sich diese gar bald als schwer verdaubar. „Wäre Ida Müller nicht so zart besaitet gewesen“, dann hätte sie manchmal nein gesagt, hätte einen sicheren Posten an der Universität angenommen, keinen kurdischen Freund (den sie nicht liebte) geheiratet und wäre nicht Lehrerin geworden. Denn zart Besaitete sind gerade dort nicht am richtigen Platz. In den Lehrplänen als auch in öffentlichen Reden von Schulvertretern ist zwar viel von höheren Zielen („nämlich das menschliche und gesellschaftliche Miteinander“) die Rede, in der Praxis geht es um Unterrichtserträge, Stundenabläufe, Disziplinierungsmaßnahmen. Die Schüler laden ihren Frust auf die Lehrer ab, wo er aber schon im Überfluss vorhanden ist und diese geben ihn wiederum in Richtung Schüler weiter. „Ein toter Kreislauf!“, stellt Ida fest, beginnt sich den Frust von der Seele zu schreiben und verlässt schließlich die Schule, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Mit ihrem Kabarett „Schulversuch“ hat sie, gerade weil sie so zart besaitet ist, einen durchschlagenden Erfolg. Überhaupt werden gerade zart Besaitete den Tiefgang dieser Kalendergeschichten am besten ausloten und somit doch noch genießen können.

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Günther Loewit, Kosinsky und die Unsterblichkeit
Eine Recherche. Roman
Innsbruck: Skarabaeus 2004
 

Wie groß ist der Freiraum, das eigene Leben zu gestalten und wie stark die Prägung durch Kindheit und Umgebung? Nach der Lektüre dieses Romans ist man geneigt, dem Autor zuzustimmen, dass dieser Freiraum „verschwindend gering“ ist.
Lediglich der Urgroßvater der Familie Kosinky scheint etwas mehr Freiraum genossen zu haben. Denn immerhin kommt er von Prag als Professor an die Innsbrucker Universität und tritt vom Judentum zum Christentum über. Sein Sohn, der Anwalt Alfred Kosinsky, wird durch die Annexion Österreichs und die Nürnberger Rassengesetze aber wieder zum Juden erklärt und verfolgt. Verhöre, Lager Reichenau, ein Fluchtversuch nach Äthiopien, Unterschlupf in der Psychiatrie, Flucht aus Theresienstadt und Versteck in einer Scheune bis Kriegsende bestimmen fortan sein Leben. Er stirbt kurz nach Kriegsende an einer Blutvergiftung. Alfred Kosinkys 1934 geborener Sohn – er hat im Roman keinen eigenen Namen – ist natürlich geprägt von dieser Verfolgungsgeschichte. Obwohl er nach dem Krieg ein Internat in der Schweiz besuchen kann und schließlich Universitätsprofessor an am Institut seines Großvaters wird, wird er diese Geschichte nicht los. Als Jude wird er von der Familie seiner Frau, einer eingesessenen Lehrerfamilie, abgelehnt. Später unternimmt er mit seinen Kindern ausgedehnte und beschwerliche Ausflüge in jene Wälder, in denen sich sein Vater verstecken musste.
Sohn Julius muss sich noch 1975 von seinem Lateinlehrer im Gymnasium sagen lassen: „Solche wie du wären früher nicht hier gesessen“. Später wird er Anwalt wie sein Großvater und nach dem Fall des eisernen Vorhanges übersiedelt er nach Prag. „Die Berge Tirols hatte er als Umklammerung empfunden und setzte sie mit der Strenge und Unnahbarkeit des Vaters gleich.“
Erzählt wird der Roman in Kapiteln, die schlicht mit Jahreszahlen überschrieben sind. Und zwar erfährt man die Lebensgeschichten der Familienmitglieder nicht chronologisch sondern parallel, indem zwischen frühen und späteren Jahreszahlen hin- und hergewechselt wird. Der Roman beginnt 1934 und endet mit der Jahreszahl 2000.
Mit der Geschichte der Familie Kosinsky ist ein erschütterndes Zeitbild des vergangenen Jahrhunderts gezeichnet. Generationen sind traumatisiert durch die Verfolgung durch den Nationalsozialismus: es ist eine Geschichte von verlorener Heimat, verlorenem Vertrauen – auch im Umgang mit den nächsten Angehörigen – und verdrängten Gefühlen, die bis in die letzte Generation nachwirkt.

Günther Loewit wurde 1958 in Innsbruck geboren und lebt als Arzt in Niederösterreich.

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Meinhard Mair, Der Fluch der Generationen
Roman. Teil 1 der großen Südtirol-Trilogie
Vahrn: Suedmedia, 2004 

Der Titel kündet ein ‚großes’ Vorhaben des aus Brixen gebürtigen Meinhard Mair an. Und das Buch beginnt auch sehr verheißungsvoll. Der Ich-Erzähler erlebt fünfjährig im Jahre 1950 den Einzug der Elektrizität in das elterliche Bauernhaus in der Umgebung von Brixen. „Ich bin die ersten fünf Jahre meines Lebens in der Jungsteinzeit aufgewachsen, wenn ich einige wenige Arbeitsgeräte, die mit eisernen Scharnieren oder Beschlägen haltbarer gemacht worden waren, die Kupferkessel und die Zinkbestecke abrechne, die meine Familie bereits verwendete. Ich hatte fünf Jahre ohne Fortschritt, ohne Strom, ohne maschinelle Technik, in einem Universum, das aus schemenhaften Lebewesen, abgrundtiefer Stille und horizontlosen Dimensionen bestand, gelebt. Diese Jahre sind Teil meines Daseins, aber sie stehen stofflich und sinnlich im denkbar größten Gegensatz zu meinem gesamten späteren Leben, so dass die Summierung dieser beiden Bruchstücke zu einem einzigen, gemeinsamen Ich rational gar nicht nachvollziehbar ist.“ Dieser Ansatz wird dann aber nicht konsequent weiterverfolgt. Der Ich-Erzähler verzettelt sich viel zu sehr damit, die gesamte Südtiroler Geschichte seit dem Ersten Weltkrieg (Faschismus, Nationalsozialismus, Option, Zweiter Weltkrieg) in die Familiengeschichte hinein zu verpacken und seine Kommentare abzugeben. Manchmal sind diese durchaus bemerkenswert, aber sie stehen mit der Romanhandlung in keinem zwingenden Zusammenhang. Außerdem gibt es nur die Sicht des Ich-Erzählers auf seine Romanfiguren (den soeben verstorbenen Vater, dessen Brüder und die Großeltern). Und obwohl der Erzähler zugibt, wenig über seine Familienangehörigen zu wissen, weiß er dann trotzdem, was sie in dieser oder jener Situation gedacht oder getan haben. Die Personen bleiben dadurch aber eher farblos und manche Situation eher unglaubwürdig. Dass der Fünfjährige den Vater und seine Brüder nach der Einleitung des Stroms „in die moderne Erbsünde, in die Schuld des technischen Fortschritts verstrickt“ sieht und in ihren Gesichtern Schuld und Trauer, kann sogar der Erzähler nur als Ergebnis der Reflexion des Erwachsenen ansehen.
Da ist die Figur des ‚kleinen Onkels’, also des jüngsten Bruder des Vaters, der allein schon einen Roman verdiente, der aus der „Enge und Gefangenschaft“ der bäuerlichen Lebensform auszubrechen versucht, den Militärdienst beim italienischen Heer als die „ersten großen Ferien vom Leben“ empfindet und in der Stadt eine Arbeit in einer italienischen Reifenwerkstätte annimmt. Aber auch hier fehlt die Innenperspektive und das italienische Umfeld wird nicht beschrieben. Stattdessen bekommt man fast schon lehrbuchartige Abhandlungen des Erzählers über den Faschismus und die Sinnlosigkeit des Militärdienstes serviert. Darin finden sich allerdings viele bedenkenswerte Äußerungen, etwa, dass nicht nur die deutschsprachigen Südtiroler, sondern auch die Italiener unter dem Faschismus gelitten haben.
In dem Romanerstling mangelt es nicht an guten Ansätzen und der Autor verfügt über ein profundes historisches Wissen. Mit einer – allerdings radikalen – Änderung der Erzählperspektive könnten die nächsten Bände der Trilogie über die Generation, die den Sprung von der „Jungsteinzeit“ in das Computerzeitalter machen musste, mit Spannung erwartet werden.

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Josef Feichtinger, Sadistik und Satire
Hg. und mit einem Vorwort von Toni Bernhart
Innsbruck: Skarabaeus, 2003

Zu Feichtingers 65. Geburtstag hat Toni Bernhart eine Sammlung von Satiren, Essays, kleinen Prosastücken und Glossen herausgebracht. Dies ist eine Seite des Autors, die eher nur Insidern bekannte ist. Einige davon sind in lokalen Zeitungen oder Zeitschriften seit 1961 erschienen. Bekannt ist hingegen der Dramatiker mit seinen Theaterstücken, etwa „Grummetzeit“ (1982), „Kirchturmpolitik“ (1987), „Liebe, List und Vinschgerbahn“ (2000). Angeordnet sind die Texte unter den Überschriften, „Satire“, „Sadistik“, „Sakrales“, „KVW-Lyrik“, „Weihnacht in Tirol“, „Literatur in Tirol“, „Ausfahrt“. Gleich im erstenText „Satire ist ein Feind der Poesie“, erfahren wir Feichtingers Verständnis von Satire: „Satire ist eine ätzende Lauge, die Schmutz von den Fassaden unseres Sauberlandes frisst. [...] Und nicht selten verwünscht er [der Satiriker] seinen unerbittlichen Blick, der Aufgeblasenheit in glänzendem Autolack, Profitgier hinter bieder blauen Schürzen und Dummheit in den Sprechblasen geistlicher und weltlicher Rhetorik entdeckt.“ Seit den 60er Jahren betätigt sich Feichtinger als Zwischenrufer und Querdenker und es gibt wahrlich genug, mit dem er nicht einverstanden sein kann, weil die Menschlichkeit immer wieder zu kurz kommt. Es gibt Betonköpfe, denen alles Natürliche ein Dorn im Auge ist, Protokollköpfe, deren Scharfblick ausschließlich auf ein DIN-A4-Blatt gerichtet ist, es werden amerikanische Wahlkämpfe geführt, das Wort SAD (Nahverkehrsunternehmen in Südtirol) erinnert Feichtinger an Sadismus. Die „Stinkerfahrt“ mit dem Bus durch die Orte des Vinschgaus vom Reschen bis Meran gestaltet sich wie eine Zeitreise, von faschistischen Relikten (Mussolini-Bunkern), dem Turm im Stausee („Mahnmal der Profit-Bestialität“), dem Kraftwerk bei Schluderns, bis zum neuen Tunnel bei Naturns („hier kämpft der schwerverwundete Vinschgau ums Überleben“) bis nach Meran („letztlich ein Tourismusmuseum“, das in Sisis Zeiten steckengeblieben ist).

Eine wichtiges Thema ist die Kirche. Abgedruckt ist Feichtingers Statement zur Tagung „Kirche und Literatur“ (1991) in dem er seine „zornige Zuneigung“ zur Kirche formuliert.
Der Literatur in Tirol ist ein eigener Abschnitt gewidmet. Dabei übersieht er weder die Nabelschau der älteren Dichtergeneration noch die Jungen, die auf die Frage, ob es eine Südtiroler Literatur gibt, nur „hoffentlich nicht“ antworten und sieht die Eitelkeiten der einheimischen Autoren („bei sieben Poeten, zwei literarische Vereine“). Feichtinger hat sich auch wissenschaftlich damit beschäftigt („Tirol 1809 in der Literatur“, „Begegnungen. Tiroler Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts“, 1994).
Bei allen Seitenhieben hat Feichtinger aber immer auch sich selbst im Blick, ist immer ein gehöriges Maß an Selbstironie dabei. Und in allen Texten zornige Zuneigung zu den Gegenständen seiner Satire.

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Gerold Foidl, Scheinbare Nähe
Hrsg. und mit einem Nachwort von Dorothea Macheiner
Innsbruck: Skarabaeus, 2003, 171 Seiten

Der Ich-Erzähler, ein knapp über vierzigjähriger Autor eines Buches und einiger Erzählungen, analysiert seine Lebenssituation, erinnert sich an Vergangenes, wo er die Wurzeln seiner „Entheimatung“, seines völligen Scheiterns sieht und will auch das Schreiben aufgeben. Ausgangspunkt für seine schonunglose Selbstbetrachtung ist die Rückkehr aus Mexiko. Mexiko ist sein positives Gegenbild zum „Konsumbazillenkontinent“ Europa. Seine „Entheimatung“ begann mit dem Vater-Konflikt, breitete sich aber schnell auf alle Mitglieder der Gesellschaft, die „biedermännischen Geheimbündler“, aus. Aber auch Mexiko entpuppt sich immer mehr als zweifelhafte Alternative: „Aber ob [...] sie mich wirklich aufnehmen würden, ich nicht insgeheim doch ein Fremder bliebe und dies auch immer wieder merken würde; ob ich so leben könnte, daß ich mich nicht unter dem Alpdruck fühlte, ich wäre nur ein Geduldeter, und wie es wäre, wenn es mich verlangte Kritik anzubringen.“ Scheinbare Nähe endet trotzdem nicht hoffnungslos, die Möglichkeit, Heimat zu finden, dazuzugehören, wird offengelassen.
Durchgängiges Thema von Scheinbare Nähe ist das Schreiben. Nach der Veröffentlichung seines ersten Buches läßt sich der fiktive Autor die Berufsbezeichnung Schriftsteller in den Paß eintragen. Schreiben wird für ihn zur Seinsbestätigung. „Es gab Zeiten, wo ich überzeugt war, daß ich nur schreibend existieren könne. Es hatte Vorrang vor allem, was sonst in mein Leben eindringen hätte können. Ich lebte in den traurigen Geschichten, die ich erfand, die nie die meinen waren und von mir doch so hingezwungen wurden, daß es die meinen sein mußten; weil ich sonst nichts besessen hätte.“
Scheinbare Nähe macht es dem Leser noch wesentlich schwerer wie im „Richtsaal“, Foidls erstem 1978 erschienenen Roman, zwischen dem Autor Foidl und dem Ich-Erzähler zu unterscheiden. Dazu trägt vor allem auch das am Ende abgedruckte Skizzenbuch bei, „Aufzeichnungen über die Restzeit“, die Foidl begonnen hat, als er vom Lungenkrebs erfuhr. Der Leser ist aber gut beraten, sich an das dem Buch vorangestellte Motto aus Kafkas Fragmenten zu halten: „Das was man ist, kann man nicht ausdrücken, denn dieses ist man eben; mitteilen kann man nur das, was man nicht ist, also die Lüge.“

Mit diesem Buch legt Dorothea Macheiner bereits den dritten Band der Werkausgabe Foidls bei Skarabaeus vor. 1998 erschien „Der Richtsaal“, 1999 der Erzählband „Standhalten“. Macheiner, mit Foidl befreundet, bemüht sich seit dessen frühem Tod (1982) um das schmale Werk von Foidl. Auf ihre Initiative erschien „Scheinbare Nähe“ 1985 bei Suhrkamp, bearbeitet von Peter Handke. Jetzt wurde das Werk wiederaufgelegt, leider in der unveränderten Fassung von Handke. Hier ist sicher eine Chance vertan worden, denn nur allzugern würde der Leser erfahren, nach welchen Editionsrichtlinien aus vier verschiedenen Fassungen dieser Text erstellt worden ist. Und sicher wäre bei einer Neubearbeitung, wenigstens in Teilen, auch ein neuer Foidltext herausgekommen. Beim „Richtsaal“ ist das ja bereits durch die Einarbeitung des im Manuskript aufgefundenen Psychiatriekapitels erfolgreich gemacht worden.

Zum Erscheinen von „Scheinbare Nähe“ im Jahre 1985 gab es eine Reihe von sehr positiven Besprechungen. Herausragend war aber dabei, daß man sich – im Gegensatz zu den Besprechungen des „Richtsaals“ – nicht einmal mehr mit dem Thema Dokument oder Fiktion beschäftigte, sondern munter aus seinen beiden Büchern biographische Daten entnahm, und somit – ohne es zu wollen – den literarischen Text zum Dokument degradierte. Es wäre also höchst an der Zeit, sich auf die Suche nach den Lebensspuren von Foidl zu machen, damit seine Bücher endlich das sein dürfen, was sie sind: Literatur.

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Walter Klier, Hotel Bayer
Eine Geschichte aus dem Zwanzigsten Jahrhundert
Innsbruck: Haymon, 2003, 156 Seiten

Mit „Grüne Zeiten“ (1998) hat Klier ein fast dokumentarisches Bild der Grünbewegung der ersten Hälfte der 80er Jahre entworfen. Auch in diesem Buch war Ironie bereits ein wichtiges Stilmittel wie jetzt wieder in dieser neuen „Geschichte“, die ebenfalls zu Beginn der 80er Jahre spielt. Eigentlich sind es ja viele nebeneinander laufende Geschichten, zur Geschichte verknüpft werden sie erst durch einen Ort in Bolivien, Nuestra Señora. Dort treffen die verschiedenen Personen sich entweder direkt, gehen dort aneinander vorbei, streifen sich wie zufällig, haben sich früher einmal geliebt usw. Tatsächlich wird daraus keine Geschichte im wörtlichen Sinn, sondern Geschichte vom Beginn der 80er Jahre erzählt.
Da erzählt der Innsbrucker Großvater seiner Enkelin Susanne vom Zusammenbruch im Frühjahr 1945 und wie sich auf der sogenannten „Rattenlinie“ die NS-Verbrecher aus dem Staub gemacht haben, da benutzen deutsche Offiziere, darunter auch Altmann, 1945 diesen Fluchtweg über den Brenner, da macht sich Michel Goldberg Ende Jänner 1982 von Paris Richtung Bolivien auf, um den Tod seines Vaters zu rächen, der 1943 bei einer Razzia unter Führung von Altmann gefangen wurde und in Auschwitz umkam. Ebenfalls Richtung Bolivien macht sich der Monsignore Giovanelli („als guter Katholik die Sünde nicht scheuend“) auf, der in Nuestra Señora ein historisches Rätsel lösen will, aber gleich als Spion verdächtigt wird.
In Nuestra Señora lernen wir den Rechtsanwalt Barrientos kennen („der biedere, behäbige und stets leicht verschwitzte, unablässig um weißgestärkte Sauberkeit kämpfende Advokat und hundebesitzende Junggeselle aus alter Familie“), Santiago („Koka-Zwischenhändler und Waffen-Zwischenhändler und Freiheitskämpfer, ein manchmal etwas kompliziertes Berufsbild“), Nachfolger des legendären Che Guevara, kommt ebenfalls in die Stadt, Susanne begegnen wir, zusammen mit einer amerikanischen Freundin, als Touristin wieder („Sie lebten, in diesen achtziger Jahren des zwanzigstens Jahrhunderts, auf einer Hochebene von Frieden und Glück. Dies befähigte sie wie keine andere Generation, das Vergangene zu sehen und einzuschätzen und vor allem moralisch zu beurteilen, und ebenso die gegenwärtige Welt, das, was sie hier zu sehen bekamen auf dem Kontinent, den sie seit einigen Wochen bereisten.“) Da sitzt in einem Café Ron Lawson, der in großem Stil Gründe zu verkaufen versucht, die ihm wahrscheinlich gar nicht gehören, zusammen mit seinem Gehilfen Moscoso, so ganz nebenbei mischen sie auch beim Rauschgiftschmuggel mit. Das Hotel Bayer ist sozusagen der Treffpunkt dieser internationalen Gesellschaft. Goldberg, sich als Journalist ausgebend, trifft sich mit Altmann, immer noch mit dem festen Vorsatz, ihn zu erschießen. Wie er Altmann („Er war von seinen Überzeugungen nie abgewichen und bereute nichts.“) sieht, „ein Männchen im braunen Anzug, ein banaler Typ, fast jämmerlich in seiner Aufgeblasenheit“ kann er keinen Haß fühlen und gibt deshalb auch seinen Racheplan auf. Die mitgebrachte Pistole wirft er in einen Abfalleimer, der als Postkasten für Lawsons verbrecherischen Kontakte genutzt wird und daher kurzfristig Verwirrung stiftet. Da sind die abendlichen Lokalgespräche, die ohne den Gesprächsstoff „Che Guevara“ nicht auskommen. Da kommt es schließlich dazu, dass die beiden Touristinnen beschließen, mit Lawson und Moscoso über die Grenze zu fahren. Schließlich sitzen Giovanelli und Goldberg nebeneinander im Flugzeug Richtung Europa. Die Geschichten bleiben offen, es ist nichts passiert, keiner ist dem anderen wirklich begegnet, alles bereits Geschichte.
Nuestra Señora ist der Ort, in dem die ehemaligen Naziverbrecher ziemlich ungestört leben können neben den Freiheitskämpfern und Rauschgift-Schmugglern, zu denen sich in Form von Touristen die ‚westliche Zivilisation’ dazu mischt.
Angesichts dieser wichtigen Themen und vieler gekonnt formulierter Passagen (zum Beispiel auch jene über die Krimiserie Columbo, die Santiago sich gerne ansieht) bleibt die Frage, warum einem dieser Text nicht ganz geheuer ist. Es liegt daran, daß mit einer ‚kalten’ Distanz erzählt wird, daß die Ironie oftmals dem Zynismus gefährlich nahekommt. Schon 1910 hat Rilke in seinen „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ gewissermaßen ein ähnliches Verfahren angewandt: Der junge Malte erzählt die abstoßendsten Dinge im selben, registrierenden, distanzierten Tonfall, wie er die letzte noch stehende Mauer eines abgerissenen Hauses beschreibt. Diese Rilkesche Mauer läßt Klier noch einmal in Nuestra Señora erstehen und in ihr wortwörtlich dieselbe in „widerlichen, wurmweichen, gleichsam verdauenden Bewegungen die offene, rostfleckige Rinne der Abortröhre“.

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Reinhold Giovanett, Der Baron von Caldiff
Innsbruck: Skarabaeus, 2002, 139 Seiten

Die obigen Angaben ergeben sich, wenn man streng bibliothekarisch an dieses Büchlein herangeht. Aber so einfach ist es nicht.
Der Baron von Caldiff schickt Briefe samt beigelegten Aufzeichnungen an Reinhold Giovanett, den Herausgeber der Literaturzeitschrift „Uhura“ in der Hoffnung, dass seine „Erzählungen für manchen Leser ein Denkanstoß in die Richtung sein können, dass das Gute, das Abenteuerliche, das Bewegende in unserem Leben nicht unbedingt in der Ferne zu suchen sind, sondern dass sich bemerkenswerte Situationen genauso gut hier bei uns im Lande oder in der Provinz, wie es heute oft heißt, ergeben können.“ Nun sind diese phantastischen Geschichten in Buchform erschienen und es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als Giovanett als Herausgeber fungieren zu lassen, obwohl man ihm liebend gern die Autorschaft unterschieben möchte (so geschehen in den „Kulturelementen“, Nr. 37, Dezember 2002).
Also erzählt der Baron von Caldiff Geschichten, die im Lande spielen, die meisten lassen sich im Unterland lokalisieren. Für den nicht Ortskundigen ist eine Landkarte mit den wichtigsten Handlungsorten beigegeben, u.a Kaltern, Tramin, Gmund, Kurtatsch, Pinzon, als heimliche Hauptstadt der Südtiroler sieht man darauf auch noch München!). Der Baron arbeitet in verschiedensten Berufen an verschiedenen Orten und hat dabei die phantastischsten Erlebnisse: Der Baron Münchhausen lässt grüßen, die Handlungsorte erinnern manchmal an Schilda.
In „Der Weinsurfer von Pinzon“ rettet der Baron beispielsweise mittels eines Surfbretts Besucher vor dem Ertrinken im Wein einer Kellerei.
In einem Dorf hinter Lajen gehen alle Bewohner mit schweren Beinen herum. Einst waren diese Bewohner berühmte Hochspringer. Als sie aber erfuhren, dass die Welt eine Kugel sei, bekamen sie Angst, sie könnten durch die Drehung der Erde nicht mehr dort landen, wo sie abgesprungen sind. Seitdem entwickelten sie schwere Muskeln und rühren sich nicht mehr von Ort und Stelle.
Diese ironisch-witzigen, absurden Geschichten geben immer wieder auch Einblick in die gegenwärtigen Zustände des Landes und die ‚Seele’ seiner Bewohner. Dies zeigt sich besonders in der Geschichte „Der Heimwehforscher von Brixen“. Das Amt für Gesundheitswesen hat das Heimweh der Südtiroler zur offiziellen Krankheit erklärt und jeder Südtiroler, der im Ausland daran erkrankt, wird auf Landeskosten heimgebracht. Diese Aktion verursacht aber so viele Kosten, daß der Landesrat den geheimen Auftrag gibt, ein Mittel gegen Heimweh zu entwickeln. Der geheime Test des Mittels in einem kleinen Dorf im Unterland macht die Bewohner offener, sie verlieren das Misstrauen gegenüber dem ‚Fremden’. Die gerade stattfindenden Wahlen bringen daher auch das Wahlverhalten völlig durcheinander. Die SVP erhält nur mehr 27,9%! (früher 93%) der Stimmen. Grund genug, dass dieses Heimwehmittel nie zum öffentlichen Einsatz gelangt.
In „Der Heimkehrer aus Kurtatsch“ spaltet sich der Baron an einer Stahlplatte mitten entzwei (erinnert verdächtig an den „geteilten Visconte“ von Italo Calvino). Da der linke Teil etwas früher am Ende der Stahlplatte ankommt, wachsen die zwei Teile nicht mehr ganz parallel zusammen, was dem Baron einige Schwierigkeiten bereitet, irgendwann schrumpft er, gerät in die Abwässer Münchens (München schwimmt in Wirklichkeit auf einem Biersee) und gelangt in der Unterlandler Kläranlage wieder an die Oberfläche, wächst wieder etwas, aber da hat er sich schon wieder mit neuen Abenteuern herumzuschlagen. In dieser und einigen anderen Geschichten vermisst man etwas die innere Logik: einmal in eine – auch noch so absurde – Geschichte eingetaucht, sollte man nicht das Gefühl bekommen, dass etwas nicht ganz stimmig ist.
Stimmig ist hingegen die Geschichte der „Kartenspieler von Gmund“. Als während eines Blindwatters unter ihnen die Erdgasleitung platzt und sie ein Strahl von Methan samt ihrem Tisch auf Hausdachhöhe anhebt, halten sie nur einen Augenblick inne und spielen dann unbeirrt weiter: „In diesem Moment fühlte ich ganz stark, wie jede unserer Bewegungen, alle unsere Überlegungen und Entscheidungen, jeder Stich, den wir machten, wie alles von der Energie getragen wurde, die eigentlich Tausende von Haushalten, Gewerbebetrieben, Hotels versorgte. Dieses Gefühl steigerte den Genuss unseres Spiels ins Unermessliche und das Spiel ging weiter, denn durch unsere „Erhöhung“ gab es in der Leitung keinen Druckabfall und deshalb auch keine automatische Abschaltung.“ Erst als es Zeit für die Knödel ist, wird ein Anruf bei der „Energas“ veranlasst und die Kartenspieler landen wieder sanft auf dem Boden. Fanatische Blindwatter, und deren gibt es in Südtirol nicht wenige, werden diese Geschichte gar nicht einmal sonderlich übertrieben finden, wenn man bedenkt, dass beim Ausbruch des Gases die eine Mannschaft gerade dabei war, ihre Gegner zu schneidern. (In dem im Glossar abgebildeten Spiel hat sich übrigens ein Fehler eingeschlichen, ansonsten findet man dort sogar weiterführende Literatur zum Watten).

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Waltraud Mittich, Mannsbilder
Innsbruck: Skarabaeus, 2002, 117 Seiten

„Ich habe kein anderes Land/ als dieses/ ein Männerland/ sie halten die Hand auf/ sie scheffeln/ sie treten auf/ sie zertreten/ sie treten.“

Gleich vorneweg: Dies ist kein Buch von einer Frau für Frauen, auch wenn oder gerade weil in diesen Geschichten die Männer nicht gut wegkommen. Am besten tut man/frau daran, diesen Titel wörtlich zu verstehen: das Büchlein enthält also Bilder von Männern. Freilich nicht gestochen scharfe Porträts, sondern oftmals kaum in ihren Umrissen erkennbare, auch nur hie und da eine kaum angedeutete Kolorierung. Die Ich-Erzählerin steht mit allen diesen Männern in einer ferneren oder näheren Beziehung. Mindestens einen davon hat sie geliebt. Aus diesen Geschichten von unterschiedlichsten Männern setzt sich ein Bild der letzten 50 Jahre des 20. Jahrhunderts in Südtirol zusammen. Zugegebenermaßen ein düsteres, ein trauriges Bild, aber ein in sich stimmiges Bild. Nur einem Künstler kann das in so wenigen Pinselstrichen gelingen. Die verdienstvolle und sehr schöne Ausgabe „Das 20. Jahrhundert in Südtirol“ (Edtion Raetia) kann das nicht einmal in 5 Prachtbänden annähernd erreichen. Nur manchmal wirken die eingestreuten Kommentare der Erzählerin etwas zu direkt, dies haben die Geschichten aber nicht nötig. Die immer wieder eingefügten Meldungen aus dem „Tagblatt“ liefern hingegen wichtiges Zeitkolorit mit.

„Die Fünfziger“ werden mit der Geschichte von Paul erzählt, einem „Senkrechtstarter“, aber keinem „Sieger“, der, aus ärmlichen Verhältnissen kommend, den Tourismus im Tal mitaufbaut, Frauen, Autos und Geld anhäuft und mit 32 Jahren bei einem Autounfall stirbt. „Heute denke ich, dass er war wie Steine und Holz. Er hätte damit arbeiten sollen. Langsam und ausdauernd, wie er es gekonnt hätte, wäre die Zeit ihm nicht in die Quere gekommen oder ihr Geist.“ „Alles hatte seinen Teil Schuld an seinem Tod. Dachte auch, dass ihm nicht zu helfen gewesen war, weil der Aufstieg zu rasch kam, während die Angst ihm noch im Nacken saß.“

Für „Die Sechziger“ steht die Geschichte von Andreas Tschurtschentaler, der schlussendlich zum einflussreichen Politiker aufsteigt: „Und es ist diese Mischung aus Sentimentalität und Draufgängertum, Kaltblütigkeit, Anfälligkeit für Marschmusik und Fahnen im Wind, Hingezogensein zur Macht, forsches Reden bei gleichzeitiger Schwerfälligkeit im Denken, die ihn gefährlich macht. Denn er ist heute einer der führenden Männer im Land.“ Eine Leiche, über die Andreas gegangen ist, ist Ida. Für sie war Andreas die große Liebe. Als er eine andere heiratet (mit der er auch nicht glücklich wird), wird sie zur Hure und Alkoholikerin (sie stirbt mit 35) „Andreas ist ihr Henker.“

Für „Die Siebziger“ steht Heiner, vom wohlhabenden Bürgertum kommend, der zu einem drittklassigen Schauspieler wird. Aber er ist einer, der sich, wie man damals sagte, engagiert, ist immer dabei, wenn es um irgendwelche Störaktionen geht. Viele Autoritäten gab es damals nicht, auf die sich die Jungen in ihrer Kritik am Land stützen konnten. Auch Franz Tumler enttäuschte mit seinem Buch „Das Land Südtirol“. Aber auch Heiner ist ein Verlierer: „Von seiner Angst vor der Zeit redet er, von seiner Angst zu versagen, von seiner Angst, nicht zu genügen, und auch immer wieder von der Angst vor der enteilenden Zeit. Ich spüre, dass die Angst auch mich betrifft, Angst, von mir vereinnahmt zu werden. Heiner fürchtet sich auch vor meiner Liebe.“ Auch hier wird, wie an manchen anderen Buchstellen auch, die Rolle der Mutter infragegestellt. Heiner sagt von seiner Mutter: „Sie hat mich kaputtgemacht, flüstert er, sie macht alles kaputt. Sie will alles für sich, sie war die Hölle für mich.“

„Die Achtziger“ werden so eingeleitet:
„Die Zeiten sind eisig geworden.
Kälte im Strahleland, Berechnung, Gier.
Dieses Jahrzehnt hat uns das Rückgrat gebrochen.
Es ist kein Zufall. Ich kenne zwei Mörder.“
Einer der Mörder ist Ilario, ein Metallarbeiter, von Süditalien zugezogen, findet er weder Anschluß bei den ansässigen Italienern noch bei den Deutschen. „Wir haben wohl gespürt, dass er allein war wie ein Hund, aber unternommen haben wir nichts.“ Diemut ist der andere, ihn interessiert nur mehr Geld, dafür tötet er auch.

„Bis ins neue Jahrtausend“ heißt das letzte Kapitel und beginnt mit der Überschrift „Viele Verlierer hat das Land“, einer ist Walfried, ein junger Conte kommt vor und Hans. Ein Mannsbild auf dieser Verliererliste erinnert sehr an Alexander Langer: „Da ist einer, der hat einen Glauben, gegen eine übermächtige Mehrheit. Er ist sein Leben lang im Widerstand.“

Norbert Conrad Kaser hat Ende der 60er und in den 70er Jahren mit Südtirol abgerechnet. Mittich (geb. 1946) – um ein Jahr älter als er – präsentiert erst jetzt ihre Abrechnung. Ihr Bucherstling wird dadurch zur Rückschau. Sie hat diese Zeit miterlebt, hat aber auch genügend Distanz, um mit analytischer Neugier nach Gründen der Zu- und Mißstände in diesem männerdominierten Land zu fragen. Und es ist ein bemerkenswertes Debüt, ein Buch, das Aufsehen erregen wird, auch wenn die Erzählerin das viel skeptischer sieht: „Und immer wieder macht sich einer auf den Weg, auch hier in diesem Land. Schreibt an gegen die Enge, die Lüge, die Übermacht. Aber hier werden noch immer Bücher totgeschwiegen, unter dem Ladentisch gehandelt, es läuft auf Bücherverbrennung hinaus.“ Denn dies ist ein Buch, in dem – vielleicht von einigen wenigen abgesehen – niemand direkt angegriffen wird, aber alle, die dieses halbe Jahrhundert in Südtirol zumindest teilweise miterlebt haben, sich betroffen und getroffen fühlen werden. Denn nicht der Hass, sondern die Liebe (auch zu den Männern) überwiegt, der Rückblick ist oft zwar bitter, aber ohne Verbitterung. „Fest steht, dass ich mich eingelassen habe auf die Geschichten. Ich habe nur einen einzigen vernünftigen Grund dafür. Ein Ventil gefunden zu haben für meinen Zorn, wenn ich nachdenke über das Land.“

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Kurt Lanthaler, Napule
Ein Tschonnie-Tschenett-Roman
Innsbruck: Haymon, 2002, 221 Seiten

Napule ist der fünfte Tschonnie-Tschenett-Roman von Kurt Lanthaler. Tschonnie Tschenett ist also eine Figur, die der Leser schon kennen sollte, bevor er diesen neuen Roman zu lesen beginnt. Ansonsten wird er sich – gerade bei „Napule“ – zumindest am Anfang schwer tun, zu verstehen, warum dies ein Tschonnie-Tschenett-Roman ist und wer dieser Tschenett eigentlich ist. Die gelegentlichen Andeutungen und Verweise auf seine früheren Aktivitäten helfen da nicht entscheidend weiter. Es bleibt also – und das haben Serien an sich – nur der eine Weg, sich mehrere, am besten alle Tschenett-Romane („Der Tote im Fels“, „Grobes Foul“, „Herzsprung“, „Azurro“, erhältlich als Diogenes-Taschenbücher) zu Gemüte zu führen. Und es wird ein Lesevergnügen für alle jene sein, die den Krimi (bei Lanthaler allerdings nur mehr die Klischees des Krimis) mögen und sich dazu aktuelle gesellschaftspolitsche Probleme als (vermeintlich) leichte Kost servieren lassen wollen. Kulinarisches kommt in diesen Romanen sowieso immer wieder vor, und bei der Beschreibung der sfogliatelle oder der parmigiane di melanzane läuft einem das Wasser im Munde zusammen.

Tschonnie Tschenett, ehemaliger Matrose, LKW-Fahrer und „ewiger Kindskopf“, hat sich in den Hafen von Saloniki zurückgezogen. „Ich habe nichts zu tun und damit genug zu tun“ antwortet er auf die Frage seines Freundes Totò, wie er denn lebe und wovon. Falls er wieder einmal ein paar Drachmen brauche, betätige er sich – „als italiano vom Dienst“ – als Übersetzer oder als Aushilfskoch. Nun hat er sich auf die Reise nach Neapel gemacht, „weil es an der Zeit gewesen war“, weil er es „doch leid geworden war, aus dem Fenster meiner kleinen Wohnung auf den verschneiten Hafen von Saloniki zu blicken.“
Mitte Jänner 2002 kommt er im Hafen von Neapel an und gerät gleich in eine verwickelte „Geschichte“ hinein. In nur zwei Tagen erfahren wir durch diesen ‚Fall’ aber auch viel über Neapel, und zwar über das andere Neapel, obwohl Lanthaler auch hier virtuos mit den hinlänglich bekannten Neapel-Klischees spielt: „Napule, wie wir sagen, Napule ist unsere Stadt. Das andere, dieses andere Napoli, ist eine entschlackte Leichtausgabe für den Reisenden.“
In Neapel trifft Tschennett seinen Freund Totò (als Zöllner an den Brenner strafversetzt), der in Neapel am „8. Symposium der Europäischen Sicherheitsbehörden zur Grenzüberschreitenden Kriminalität“ (schon der Name deutet die Sinnlosigkeit dieses Treffens an) teilnimmt, zusammen mit Ciro, dem Lehrer von Totò an der Polizeischule und Inspektor in Neapel. Im Büro von Ciro findet sich an diesem Tag ein geköpfter Hahn und Tschenett findet in seinem Hotelbett die Füße desselbigen. Mit Totò und Ciro ist Tschenett also wieder einmal in einen Fall hineingestolpert: Tschenett „ist auf solche absurde Geschichten geradezu spezialisiert. Manchmal habe ich den Verdacht, unser Tschenett kann ohne sie gar nicht leben“ oder „Und der Tschenett, dieses Unglück, wieder mittendrin“ kommentiert liebevoll sein Freund Totó. Diese drei sind also die Ermittler in einem Fall, aber: in was für einem Fall? Daß es wirklich ein Fall ist, wird erst am nächsten Morgen klar, als Sera, die Tochter von Ciros Lebensgefährtin verschwunden ist. Soviel sich die Ermittler auch anstrengen, sie kommen nicht weiter: Ciro war zwar in seiner Vergangenheit in mehrere brisante Fälle verwickelt, es könnte aber auch irgendwie mit seinen Ermittlungen in einem Betrugsfall von Fernseh-Magiern zu tun haben: „In dieser Stadt hat man immer mit irgendwas zu tun. Ob man will oder nicht. Es ist, wie durch unterirdische Gänge, jedes mit allem verbunden, hier stößt du an einen losen Pflasterstein und dort stürzt ein Palazzo ein. Napule eben.“ Tschenett wird – und das ist wirklich die einzige Ausnahme – sogar einmal aktiv und schnappt sich einen Motorradfahrer, aber auch das bringt sie nicht wesentlich weiter. Zwischendurch müssen sie ja auch noch essen und trinken und politisieren: man erfährt z.B. viel über die griechische und neapolitanische Kaffeekultur, über Berlusconi, überhaupt über das aktuelle Geschehen in Italien. Ciro hat zudem für jede Lebenslage ein herrliches Sprichwort, das man zwar ohne die angeführte Übersetzung nie verstehen würde, wo aber allein der Klang herrlich ist.
Schließlich löst Zia Teresa den Fall, weil sie die Stadt und ihre Geschichten kennt und weil sie Beziehungen hat, wahrscheinlich ist auch die Mafia im Spiel. Die Lösung selbst ist schlussendlich sehr einfach (um das Lesevergnügen nicht zu schmälern, wird sie hier nicht verraten), aber eben deshalb, weil man am Schluss des Buches einiges von Napule weiß, also die Voraussetzungen für den ‚Fall’ versteht.
Wenn das Lesevergnügen etwas gestört wird, dann durch das Glossar. Nicht, weil es langweilig oder überflüssig wäre – ganz im Gegenteil – , sondern weil das Glossar, da Lanthaler die Erläuterungen seinen Figuren selbst in den Mund legt, gänzlich zum Roman dazugehört und man also dauernd zwischen Text und Glossar hin und herblättern muß. Das erinnert ein wenig an die Unsitte von wissenschaftlichen Büchern, in denen man sich oft die tollsten Informationen aus elendslangen Fußnoten zusammenklauben muß.

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Hans Perting, Der Kranich
Erzählung in Prosa und in freien Versen. Brixen: Provinz Verlag, 2. Aufl. 2001, 136 Seiten

"Der Ausdruck ‚Provinz' meint dabei nicht nur Geographisches, sondern vor allem Schaffensprodukte, die inhaltlich und formal außer die Norm fallen, indem sie nach neuen Ansätzen des Denkens und Gestaltens streben." Diese Zeilen liest man auf der homepage des Provinz Verlags und sie treffen auf das Buch von Perting vollinhaltlich zu. Falls man sich von den "freien Versen", in denen manchmal zu sehr auf die lyrische Tube gedrückt wird, nicht gleich abschrecken lässt, dann legt man dieses Buch erst wieder aus der Hand, wenn man es zu Ende gelesen hat.
Man wird mehrfach überrascht: Einmal von dem Versuch, in der Form des mittelalterlichen Heldenepos eine Geschichte der jüngsten Vergangenheit zu erzählen. In diesem Buch gibt es - wenn man bei diesem Bild bleiben will - 64 Gesänge, das Stilmittel der Wiederholung wird reichlich genutzt, die epische Breite muss hingegen einer sehr knappen Darstellungsweise weichen. Überrascht wird man aber auch vom groß angelegten Themenbogen, der vom Faschismus und Nationalsozialismus in Südtirol bis zu ganz spezifischen Vintschgauer Themen (die Schwabenkindern, die Waale, die Armut und Sprachlosigkeit der bäuerlichen Bevölkerung) reicht.
Der ‚Held' der Geschichte ist der Bauernsohn Raetho Klammsteiner, allerdings mit einem "Schuss Adelsblut" (S. 135). Ort der Handlung ist das mythische Valangatal im Vintschgau, "fünf Stunden lang. / Von Hochalt bis Sonnberg." (S. 5), anfänglich auch für Raetho. Aber durch seinen Onkel Valentin ("Valentin, der Grenzgänger. / Der Bergführer. Der Schmuggler. / Der Krämer, der Karrner, der Seelenhändler. / Der Retter aus der Not. / Der Bruder des Hochaltbauern. / Der Hofweicher." S. 23) erhält er die Möglichkeit, als Grenzgänger und Schmuggler diese inneren und äußeren Grenzen zu überwinden. Grenzen überschreitet er auch in der unstandesgemäßen Liebesbeziehung zur Gräfintochter von Sonnberg, wodurch aber letztendlich der "Fortbestand des Geschlechtes der Sonnberger" (S. 135) gesichert wird.
"Die Welt ist tausend Stunden lang.
Seit vielen Stunden.
Seit Raetho die Grenz' überschritten hat.
Die äußere.
Die innere.
Seit er Grenzgänger geworden ist.
Auch er." (S. 39)
Das Symbol dieses Grenzgängertums ist der Kranich, zugleich aber auch das Wappentier der Grafen von Sonnberg; nur Grenzgänger können diese mythischen Tiere überhaupt wahrnehmen. Eine wichtige Rolle spielt auch der Dorfpfarrer Anton Mairösl, dem - litaneienhaft - eine Menge von Fähigkeiten zugeschrieben werden:
"Hochwürden Anton Mairösl ist Richter.
Allseits anerkannter Friedensrichter.
So wie er auch Landarzt ist. Und Apotheker.
Und Seelenarzt. Und Tierarzt." (S. 58f.)
Unverblümt sind in dieser Figur Eigenschaften und Taten des legendären Pfarrers von Matsch, Anton Reisigl (1887-1963), beschrieben. Vom politischen Geschehen der 20er und 30er Jahre ist das Valangatal nur wenig betroffen: "Wer schert sich schon um diesen weißen Fleck auf der Landkarte?" (S. 69), von den Folgen, dem Zweiten Weltkrieg, allerdings sehr: Auch Raetho muss einrücken, gerät schlussendlich in amerikanische Kriegsgefangenschaft und kehrt nach dem Krieg mit einer Schwarzafrikanerin in sein Dorf zurück. Auch damit hat er wieder eine Grenze überschritten. Er überwirft sich deswegen mit seiner Mutter, "Weil sie Gott gedankt hat. / Stumm. Aber mit leuchtenden Augen. / Als der Sarg mit der Tabitha in die Erde gelassen worden ist. Und mit dem kleinen, hellschwarzen Bübl auf ihrer Brust." (S. 120)
Raetho lebt seither allein auf Hochalt, setzt sich für die Bevölkerung ein, sorgt dafür, dass das Tal eine Straße und eine Schule bekommt, gründet die Feuerwehr, führt den Fremdenverkehr ein: "Dass keiner mehr Hunger haben muss. Dass keiner mehr weichen muss. Vom Valangatal." (S. 119) Als ein Blitzschlag seinen Hof in Brand steckt, rührt er keinen Finger und verschwindet in Richtung Berge.
Die Lust am Fabulieren ist diesem Büchlein anzumerken, bei näherem Hinschauen merkt man allerdings, dass sich der Autor wohl etwas zuviel vorgenommen hat. Vor allem kann er sich nicht enthalten, das Wissen des Nachgeborenen einzubringen:
"Ein Verbrecher in Rom.
Ein Verbrecher in Berlin.
Und Südtirol mitten drin.
Das kann nicht gut gehen." (S. 61)
Solche Verse eben auch nicht. Auch in den Erläuterungen sagt der Autor kräftig seine Meinung, zieht beispielsweise ohne allzu großes geschichtliches Wissen über Tolomei her oder nimmt - durchaus einsichtsvoll - zur Toponomastikfrage in Südtirol Stellung.
Trotzdem: Dieses Buch bleibt eine Überraschung: wohltuend anders in der inhaltlichen und formalen Gestaltung, traut sich hier einer, zu dichten, eine Geschichte zu erzählen.

Hans Perting ist das Pseudonym für Johannes Fragner-Unterpertinger: geb. 1963, Apotheker, Maler, Schriftsteller in Mals. Der Provinz Verlag ist eine im Jahr 2000 gegründete Genossenschaft unter der Leitung von Bruno Klammer und Andreas Mörl (Besitzer der Buchhandlung Weger in Brixen, über die die Bücher auch vertrieben werden).

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