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Forschungsinstitut Brenner-Archiv

Rezensionen von Sandra Unterweger

 


Walter Klier, Meine konspirative Kindheit und andere wahre Geschichten.
Innsbruck: Haymon, 2005.

Stiller Mitwisser einer Verschwörung, wie es der Titel verheißt, wird man in Walter Kliers „Meine konspirative Kindheit“ nicht. Und doch fühlt man sich irgendwie stets als ein solcher, wenn man sich von Klier durch seine Kindheit, Jugend und Erwachsenenjahre mitnehmen lässt. Vielleicht auch, weil der Untertitel zu den Kindheitsgeschichten noch „andere wahre Geschichten“ verspricht.
Die Texte, die bis auf Ausnahme der „Marienalm“ zwischen 1981 und 2005 bereits in österreichischen und deutschen Zeitschriften, Zeitungen und Anthologien (u.a. im Reiseblatt der Frankfurter Allgemeinen Zeitung) erschienen sind, beleuchten – neu versammelt in chronologischer Reihenfolge – blitzlichtartig Ausschnitte aus dem kulturellen und literarischen Panorama (auch über die Grenzen Tirols und Österreichs hinaus). Aus einer subjektiven Perspektive, aber nicht ohne eine ordentliche Portion Ironie und Humor, gelingt es Klier, an Schnittpunkten politischer, kultureller und gesellschaftlicher Entwicklungen anzusetzen und ein interessantes Licht darauf zu werfen. Gleichzeitig eröffnen die Geschichten den Blick auf ein Schriftstellerleben in Innsbruck, dessen Erfahrungshorizont sich nicht nur auf diese Stadt beschränkt.
Die erste Geschichte, die dem Buch den Titel gibt, versucht aus der Perspektive des Kindes eine Sicht auf das Thema des Südtirol-Aktivismus rund um den BAS. Auch wenn die Erklärungen und Wertungen die Weltsicht des damals keine 10 Jahre alten Kindes spiegeln sollten, ist doch fraglich, ob eine solche unreflektierte, streckenweise verharmlosende Darstellung dem Thema gerecht wird. In den darauf folgenden Geschichten aus der Kindheit und Jugend kann man dem kleinen Walter Schritt für Schritt beim Erwachsenwerden zusehen: vom ersten Tag im „Komposko“-Kindergarten über in der Phantasie des Kindes entstandene Traumwelten bis hin zu den Gymnasialjahren und ersten Kontakten mit Mädchen. Dass diese Erinnerungen, obwohl nach außen hin als Kinderperspektive dargestellte, in Wirklichkeit als vom Erwachsenen reflektierte begegnen, irritiert. Denn zu offensichtlich verrät sich hinter dem Kind der nur scheinbar distanzierte Erwachsene, etwas zu nahe kommt einem der Autor in solchen Passagen, und die ansonsten im Buch meisterlich eingesetzte Ironie gelingt in diesen Kindheitserinnerungen, denen Selbstdarstellung und der konzentrierte Blick auf die eigene Person nun einmal inne sind, daher nicht immer.
Erkenntnisreicher und auch sprachlich raffinierter als die Kindheitserinnerungen sind die Geschichten, die Klier - und mit ihm den Leser   - auf Reisen führen: Leichtfüßige Reisen sind es, wenn er in das kulturelle Leben der Landeshauptstadt Innsbruck entführt, mehr noch, wenn er die Grenzen Tirols verlässt und in Deutschland seinen „Bekannten“, Künstlern und Schriftstellerkollegen wie Heiner Müller, Sascha Anderson oder Thomas Brasch begegnet, auf den „Englischen Reisen“ seiner „Sehnsucht, Brite zu sein“ nachgeht oder sich zu „Wahren Abenteuern“ auf gefährlichen Klettertouren aufmacht. In wenigen Strichen gezeichnet, werden aus Namen überzeugende und fleischgewordene Charaktere. In den Passagen, wo Klier als Schriftsteller in Deutschland öffentlich auftritt, beweist er auch das gelungene Augenzwinkern auf die eigene Person und eine lakonisch-pragmatische Leichtigkeit im Umgang mit der eigenen Person. So entstehen Geschichten, die interessante Einblicke in das Leben – und die Schwierigkeiten – des Schriftstellers, Herausgebers der satirischen Zeitschrift „Luftballon“ und Drehbuchautors für einen ORF-Film über das Zillertal erlauben, um nur einige der im Buch dargestellten Tätigkeitsbereiche Walter Kliers zu nennen.
Kliers feiner Humor und der ironisch-doppelbödige Ton harmonieren mit dem Inhalt, den kurzen aber treffenden Blitzlichtern auf Begegnungen, Begebenheiten und Beziehungen. Den alltäglichen Kontakt mit Gemüse- und Buchhändlern, mit alten Bekannten, Schul- und Studienkollegen, denen man in einer Stadt wie Innsbruck nicht auskommt (auch wenn man es versucht), stellt Klier in kleinen, in sich geschlossenen Geschichten treffend dar, besonders amüsant die Geschichte des Herrn Murr, der in stoischer Ruhe Kunden, die bei ihm einen Stempel bestellt haben, durch immer und immer wiederholtes Vertrösten in die Verzweiflung treibt. Personen, die in Kliers Leben eine Rolle spielen oder gespielt haben, bleiben dabei nicht verschont. Da er keine Scheu hat, seine eigene Person mit allen Stärken und Schwächen literarisch darzustellen, müssen auch andere damit rechnen, namentlich erwähnt oder zumindest als leicht wieder erkennbar dargestellt zu werden.
Versammelt sind hier allemal interessante und intelligent angelegte Geschichten und entstanden ist ein insgesamt humorvolles und vergnügliches Buch, das nicht unkritisch, aber meist in einem liebevollen Ton ein Stück Alltags- und Kulturgeschichte Tirols von den 1960ern bis heute präsentiert.

 

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Roland Kristanell, Ich litt mich in die Freude ein.
Hg.: Markus Vallazza.
Bozen: Edition Raetia, 2002. 

Vom Fallobst und Pflückobst eines „Agrar-Philosophen“. Über Roland Kristanell

„Er war Dichter, Maler, Briefeschreiber, Rezensent, Musiker, Pädagoge, Obstbauer, Botaniker und, wenn man so will, ‚Lebenskünstler‘ und, zusammenfassend, ‚Agrarmensch‘, wie er sich selber nannte.“ (S. 10)
So beschreibt Markus Vallazza in dem von ihm herausgegebenen bibliophilen Bändchen Ich litt mich in die Freude ein den 2000 verstorbenen Südtiroler Künstler Roland Kristanell. Das Buch ist ein kleines künstlerisches Meisterwerk in sich, ein vielgestaltiges, aber dezentes Potpourri von Kostproben aus dem Schaffen Kristanells, von Briefen zwischen ihm und Markus Vallazza (außerdem Michael Höllrigl und Peter Fellin), von sehr persönlichen Darstellungen des Künstlers und Menschen von Freunden und Personen aus dem kulturellen Leben Südtirols und nicht weniger persönlichen Fotos und Bildern (sowohl von Kristanell als auch von Markus Vallazza). Und so ist das Buch auch zu lesen – als eine sehr persönliche Annäherung an das Schaffen Roland Kristanells.
Der im gesamttiroler Literaturbetrieb wenig bekannte Kristanell, geb. 1942 in Naturns, ist über die Grenzen Südtirols hinaus noch – beziehungsweise wieder – zu entdecken. Dass das Entdecken stark von der Hand des Herausgebers gelenkt ist, ergibt sich aus der Konzeption des Buches, das eine gefühlvolle und behutsame Annäherung des Freundes Markus Valazza an Roland Kristanell darstellt. Kristanell verfasste Gedichte, kurze Prosatexte, scharfzüngige kulturkritische Essays, Musik-, Theater- und Literaturrezensionen und – darauf liegt auch der Schwerpunkt des Buchs – Briefe. Zwar hat Vallazza durchaus Recht, wenn er sagt, in den Briefen komme Kristanells „Wesen“ mehr als in seinen schriftstellerischen Arbeiten zum Ausdruck, auch – muss man ergänzen – kommt in den Briefen die Vielseitigkeit Kristanells, sein Kunstverständnis und Weltbild, der belesene und intellektuelle, scharfzüngige Aufbegehrer wahrscheinlich mehr zur Geltung. Trotzdem wäre es schön, könnte man in dem Band mehr von Kristanells literarischen Arbeiten lesen. Vor allem seine Kurzgeschichten scheinen mir (vielleicht mehr noch als die Gedichte) Zeugnis eines Schreibens zu sein, das einem breiteren Leserkreis erschlossen werden sollte. Mit Rosenkranz für die Metzgerin ist eine dieser Kurzgeschichten abgedruckt, in denen er in knappen aber treffenden Worten Situationen und Personen markant und überzeugend porträtiert, weitere solcher Beispiele findet man unter anderem in dem 1975 erschienenen Band portraits. Da ein Quellennachweis fehlt, ist leider nicht nachzuvollziehen, ob auch bisher unveröffentlichte Texte abgedruckt wurden oder ob Markus Vallazza bei der Zusammenstellung des Buches Einsicht in den – wahrscheinlich vorhandenen – Nachlass Kristanells genommen hat.
Neben den Briefen sind es vor allem die Rezensionen, in denen man viel über den Menschen und Künstler Kristanell erfährt. Genauso geht es einem mit den Porträts, die Kulturschaffende und Freunde von Kristanell gestalten. Hans Wielander, Norbert Florineth, Erich Kofler, Paul Preims und allen voran Markus Vallazza vermitteln ihr Bild von Roland Kristanell, erzählen damit neben ihrer Beziehung zu ihm aber auch einen Teil ihrer eigenen Geschichte. Durch diese Art der Annäherung wird Kristanell unaufdringlich und trotzdem bestimmt in den Kontext und das Umfeld eingebettet, in dem er gestanden und eine durchaus zentrale Rolle gespielt hat. Als Mitbegründer der Südtiroler Kulturzeitschrift Arunda (mit Hans Wielander, Kurt Pircher, Michael Höllrigl, Markus Vallazza, Paul Preims u.a.) 1976, als Förderer junger und unbekannter Talente (z.B. des Grödner Malers und Dichters Franz Noflaner), als Vertreter in der 1970 erschienenen Anthologie neue literatur aus südtirol, die einen Neubeginn für die Literatur in Südtirol markierte, und als „Agrar-Philosoph“ war er einer derjenigen, die in der vermeintlichen Enge der 1960er und 1970er Jahre den Samen zu einer kulturellen Neuorientierung in Südtirol pflanzten, und er wurde nicht müde, diesen kulturellen Boden bis zu seinem Tode zu beackern. Markus Vallazza ist es zu verdanken, dass die Früchte dieses – aus Nordtiroler Sicht – unbemerkt im Stillen vorangegangenen Schaffens nun in einem ästhetisch entworfenen Buch gesammelt worden sind.

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Aus der neuen Welt. Erzählungen von jungen AutorInnen aus Südtirol.
Innsbruck: Skarabaeus, 2003 

Eine Südtirol-Anthologie ohne Joseph Zoderer, Matthias Schönweger oder Helene Flöss, aber mit Lanthaler, nicht Kurt sondern Igo, Margareth Obexer, Bettina Galvagni, Martin Pichler und Toni Berhart, aber auch mit Michaela Grüner, Selma Mahlknecht, Anna Stecher und Markus Außerhofer.
Sepp Mall vereint in dieser Anthologie Erzählungen von jungen Südtiroler AutorInnen, von renommierten, die bereits Veröffentlichungen aufweisen können, aber auch von vollkommenen Newcomern, die dank dieser Anthologie die Möglichkeit bekommen, ihre ersten Texte zu veröffentlichen, wie es bei Igo Lanthaler oder Anna Stecher der Fall ist.
Und Sepp Mall versäumt nicht, schon auf der Umschlagseite darauf hinzuweisen, dass es sich bei der Literatur dieser jungen SüdtirolerInnen nicht um Heimatliteratur handelt. Muss sich also Literatur aus Südtirol für alle Zeiten über ihre Ahnen Heimatliteratur und Anti-Heimat-Literatur definieren?
Besser, man liest unbekümmert hinein in diesen schmalen Band. So entdeckt man Texte, die von einer Welt erzählen, die sich nicht innerhalb der Grenzen Südtirols bewegt, so gut wie nie stößt man auf einen Hinweis, dass der Schauplatz Südtirol sein könnte. Und um eine Situierung geht es in diesen Texten auch nicht, sie könnten in Brixen, Bozen oder Sterzing genauso gut wie in Berlin, Wien oder London spielen. So ist London auch tatsächlich Schauplatz von Bettina Galvagnis Text „Die chinesische Pagode“ und Berlin ist die neue Heimat von Margareth Obexer und Toni Bernhart geworden. Einzige Gemeinsamkeit aller in dieser Anthologie vereinten Autoren und Autorinnen ist also ihr Geburtsort in Südtirol und, beeilt sich Sepp Mall auf der Titelseite hinzuzufügen, „dass sie (dennoch) keine Heimatliteratur schreiben“. Die Texte bewegen sich tatsächlich jenseits jeder Kategorisierung von Heimat oder Antiheimat, die Thematisierung von Heimat und Heimatsuche ist kein Thema in dieser Anthologie.
Vielmehr stößt man auf Texte, die sich mit den Räumen und  Zwischenräumen zwischenmenschlicher Beziehungen in der modernen Welt auseinandersetzen und auf das nicht immer unkomplizierte Spannungsfeld zwischen Privatem und den Bedingungen der heutigen Arbeitswelt eingehen. Und nicht selten sind es Frauenfiguren, die diese Beziehungen reflektieren, Frauenfiguren, die versuchen, ihren Platz in den Beziehungen zu finden. Bettina Galvagnis Frauenfiguren fühlen sich gefangen, wobei sich die Frage stellt, ob sie sich nicht selbst einsperren, Anne Marie Pirchers Frauenfigur tanzt auf einem esoterisch angehauchten Selbstfindungsseminar „Aus der Reihe“, wie leider nicht viele Frauen, und auch Anna Stecher wählt in „Die Sprache der Katzen“ die Perspektive der Frau, um in verstrickten, ineinander montierten Gedankengängen über die Schwierigkeiten der Liebe nachzusinnen.
Wem diese Frauengeschichten etwas zu "frauenlastig" sind, der wird sich über das Ich freuen, das in einigen dieser Texte in seine Kindheit und Jugend, zumindest aber in die Rolle als Kind seiner Eltern zurückkehrt. Die Ich-Erzähler in den Texten von Margareth Obexer und Martin Pichler wählen nicht den abgeklärten, analytischen Blick der Erwachsenen, ihre Intention ist es nicht, Kindheit oder die Beziehung zu den Eltern zu zerreden, nein, diesen Texten gelingt es meisterhaft, in die Perspektive des Kindes zurück zu schlüpfen. Sprühen Obexers Texte „Schwester Michaela“ und „Oder: Von der Schwerkraft der Wörter“ von tiefgründigem Humor und Ironie, so entführt Pichlers Text in die sensible und zerbrechliche Welt eines Vaters, in der die Zeit vergeht oder stillsteht, in der sich alles verändert, verschwindet oder gar versteinert. Die Metamorphose findet sich übrigens auch als Motiv in Obexers Text „Schwester Michaela“, in dem eine Klosterschwester immer mehr verkrüppelt und am Ende im wahrsten Sinn des Wortes verschwindet. Unter die Haut geht auch die Geschichte „Oleg“ von Selma Mahlknecht, in der ein sensibler kleiner Junge, dessen einziger Halt das Sammeln von Schneckenhäusern ist, sich immer mehr in sein eigenes Schneckenhaus zurückzieht.
Igo Lanthalers Text „Aus der Neuen Welt“, der Eingangstext der Anthologie, der dem gesamten Band den Namen gibt, parodiert schließlich die Bedingungen des heutigen Arbeitsmarktes und der Arbeitswelt, in der es ständig heißt „neuen Herausforderungen ins Auge zu blicken“ (S.17). Formale Anleihen nimmt Lanthaler bei der amerikanischen Detektivstory, einem Genre, das sich hervorragend dazu eignet, ironische Seitenhiebe auszuteilen.
Davon erzählen diese Geschichten, von Veränderung und Stillstand, von Einsamkeit und Zweisamkeit, auch das alte Thema Liebe, nicht immer leicht zu bewältigen, muss in einem solchen Panorama der „neuen Welt“, die unser aller Welt und Lebensraum ist, vorkommen. Deshalb nehmen diese Geschichten den Leser gefangen, weil sie den Schritt über den Brenner in die „neue Welt“ herüber getan haben.

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