Rezensionen von Günter Vallaster

 

 
Julia Rhomberg, grashalme. statisten.
Gedichte
Innsbruck: Haymon, 2006


Leicht, schwebend und damit große Höhen erreichend, so präsentieren sich die Gedichte in Julia Rhombergs zweitem Lyrikband nach „zuletzt seife und“ (Das fröhliche Wohnzimmer-Edition 2000). Schon die ersten beide Verse stehen hierfür programmatisch: „die gedanken paragleiten / hierhin und dahin“ (S. 7). Und sie landen an unterschiedlichen Orten der Welt, begeben sich „hierhin und dahin“ und fangen sprachlich hoch konzentriert Eindrücke und Stimmungen ein. Im ersten Teil, „januarfluss“, ist es die Begegnung mit einem anderen Kontinent, Südamerika, die festgehalten wird. Dunstig, flirrend, heiß, brasilianisch, aber in klaren, uhrwerkpräzisen Versen gehalten sind die Gedichte in diesem Abschnitt. Die Langsamkeit, die Stille und der Stillstand werden in dynamischen Versen ausgedrückt: „über stunden kein vogel / reglos die lila blüte“ (S. 14). Wortbedeutungen fließen wie in Aquarellen ineinander: „nachts aber fahndet das blaulicht / des mondes nach schläfern / auf den gehsteigen“ (S. 13). Nicht die Ansichtskartenmotive Rio de Janeiros und Brasiliens – die Statue Cristo Redentor wird nur mal kurz angedeutet („christus breitet die arme aus“, S. 13), sondern die Verlorenheit vor ihnen wird gezeigt („in den wolken verfangen sich / junge paare mit dem fotoapparat“, S. 11) und vor allem die Orte dahinter: „fassaden hinter denen / nichts ist als / stillgelegter himmel // totes bahngeleise / ein fleischmarkt“ (S. 18).
Wie ein Bruch, aber nur thematisch, erscheint der zweite Abschnitt, „grashalme statisten“: Von der Copa Cabana geht es nach Tirol, zunächst ins Hallenbad in der Amraser Straße in Innsbruck, in die Laurinallee, dann nach Ratzell und nach Vill. Die Sprachbilder sind in grün getaucht, wie Unterwasseraufnahmen, eingefangen werden Momente, Augenblicke, Lidschläge, Atemzüge und Menschen mit ihren Bewegungen, mit einer Syntax, die die Bewegungsabläufe gleichsam wiedergibt: „auf und zu / auf und zu / ein spanischer fächer“ (S. 26). Poetisch geschickt werden Formkongruenzen genutzt, wodurch eine eindringlich vielschichtige Bilderwelt entsteht: „und wieder ein viertelmond // pausenzeichen in der / vielstimmigkeit des nachthimmels“ (S. 28). Kategorien wie Raum und Zeit, Größe und Kleinheit werden synästhetisch zusammengebracht, wodurch die Gedichte mit einer enormen Spannung aufgeladen werden: „weltall zuschauerraum / grashalme statisten der“ (S. 28).
Im dritten Teil, „luftkalte begonienwinter“, treten verstärkt auch ironische Momente dazu, „die kuh kopf an / kopf mit / der hl. mutter gottes“ (S. 33), sprachlich sehr stark das Ich als „jokerpronomen“ (S. 34). Spielerisch und witzig werden Beziehungsfragen in Schachfiguren ausgedrückt (hie und da / spiele ich schach / mit ihm, S. 35), mit Dame, König, Turm und allem Drum und Dran. Der geografische Kontext, immer noch Tirol, wird als Ansichtskarte beim Wort genommen: „frühjahrslicht hinter schneekuppen / die sommeralm rosenpostgroß // bald fallen die herbstgrenzen / beginnt ´s feilschen ums licht // das überwintern in eisschatten / in sprüngen von spiegeln // im tal, wenn man festsitzt“ (S. 36) – „feilschen“ klingt in diesem Kontext wie ein touristisch artikuliertes „Veilchen“ und festgesessen wird nicht lange, der nächste Abschnitt mit dem richtungsweisenden Titel „rasches packen gewöhnt“ führt von Innsbruck nach Berlin, wobei nicht das Reisen, sondern die Migration, die „niederlassung in / buchstabenlücken“ (S. 39), im Zentrum der poetischen Betrachtung steht, „kopftuch und jeans /spannen / den bogen“, wie es im Gedicht „türkisches geschäft“ (S. 43) heißt.
Klar und dicht geht es in „landschwindlig“ weiter, Venedig wird kunstvoll gestickt („in gold ein gobelin“, S. 47), aber die Lagunenstadt entsteht hier mit wenigen und gezielten Strichen und Stichen nicht anhand ihrer Bauwerke, sondern durch ihre „damen und dogen“, ihr „hundegebell“ und das sie umspülende Meer, das „ein wenig modrig“ ist. Mit weiteren italienischen Orten wie Mantua, Paliano oder nicht näher benannten Inseln tritt auch die italienische Sprache in die Gedichte, was sich im nächsten, schon italienisch co-betitelten Abschnitt „su balconcini / auf winzigen balkonen“ zur Zweisprachigkeit der Texte steigert, was sich nicht nur dadurch, sondern auch durch die Knappheit und Pointiertheit der Gedichte auch wie eine Hommage an den 2005 verstorbenen Dichter Gerhard Kofler liest.
Weiterhin sind es vor allem die Ränder der Alltagswahrnehmung, die die poetische Aufmerksamkeit erhalten, „letzte eidechsen / verschwinden // in den spalten / der nacht“ (S. 57). Die Verse „in rufweite / stille“ aus demselben Gedicht können vor diesem Hintergrund als Motto für das ganze Buch gesehen werden. Der Abschnitt endet in Rom, die Bilder ähneln in gewisser Weise denen aus Rio, einerseits touristen- und großstadtschwer, andererseits eine Leichtigkeit des Lebens vermittelnd: „alle spalle / due stole / rosso pompeiano“, übersetzt „um die schultern / zwei stolen aus / pompejanischem / rot“ (S. 60 und 61), was an Eugenio Montales Vers „il nulla alle mie spalle“, übersetzt „das Nichts auf meinen Schultern“ denken lässt.
„landzungen / prosa“, der nächste Abschnitt des Bandes, unterstreicht einmal mehr, dass hier die stillen Orte und Orte der Stille zwar gewürdigt, aber nicht idyllisiert und verklärt werden, auch die stillen Örtchen dieser Welt müssen gezeigt werden: „die toiletten schmutzig / natürlich“ (S. 69). Wir sind in Indien, mit Tuberkulosefällen und leeren Dorfstraßen, sehr eindringlich wird das Gefühl am fremden Ort in Verse gekleidet: „mit leichtem gepäck /stehe ich hinterm horizont // habe die kleider gewechselt / aber nur wenige worte“ (S. 70). Die Welt wird konzentriert aufs Wort.
„mit hellblauer vespa“ und einem Abstecher ins Elsass sowie einem Popsong klingt der Band aus. Im letzten Gedicht schließt sich mit dem Eröffnungsgedicht unter „mit 4 atü“ der Kreis: In beiden, wie eigentlich allen Gedichten des Bandes ist der Aufbruch, der Ortswechsel das Thema, auf das die Texte fokussieren. Im ersten Gedicht machen sich zwei Gedanken „auf nach bulgarien“ (S. 7), im letzten geht die Fahrt „nach athen“ (S. 85). Das Warum, das Wohin und das was zurückbleibt, vor allem in den Menschen, sind dabei wichtige Triebfedern der Texte: „und nun gehst du / oder ich gehe // eine/r geht immer / hinterlässt // ein tattoo“ (S. 85).
In Summe fügen sich die Grashalme in Julia Rhombergs Buch zu einer wunderschönen Blumenwiese zusammen, die zu betreten, ja zu der aufzubrechen sich allemal lohnt. Sie ist voller poetischer Blumen, die gepflückt und mitgenommen oder besser noch: stehen gelassen und immer wieder betrachtet werden wollen.  

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Helene Flöss, Brüchige Ufer.
Roman.
Innsbruck: Haymon, 2005

Von den Enden, sozusagen den Ufern des Lebens her erzählt der Roman die Geschichte einer burgenländischen Familie, beginnend mit dem Begräbnis von Irma Regner und endend mit dem Suizid ihres Sohnes Gyula. Dazwischen gestalten sich aus Erinnerungen, vor allem Kindheitserinnerungen der Familienmitglieder Porträts, die über drei Generationen reichen und es sind nicht die Reichen, Schönen und Mächtigen, die hier thematisiert werden, sondern Leute von nebenan, in bescheidenen Verhältnissen, auf dem Land, fast einem Niemandsland im Grenzgebiet zwischen Österreich und Ungarn. Der Weg zu ein bisschen Wohlstand verläuft mühsam über die Generationen, die Prägung durch das karge bäuerliche Leben und die industrielle Ausbeutung, durch Krieg und Faschismus hinterlässt bei den Protagonisten tiefe Spuren, macht sie beziehungs- und letzten Endes lebensunfähig.
So etwa Michael Regner, Gyulas Großvater väterlicherseits, der wie viele aus dem Burgenland und aus Ungarn das Glück in einer amerikanischen Fabrik sucht und das sogar zweimal und mit einer Kiste voll Werkzeug zurückkehrt. Mathias Regner, sein Vater, Eich- und Vermessungsbeamter, auch Soldat im zweiten Weltkrieg, er prügelt seine Frau und stirbt 1972 an Lungenkrebs. Irma, zur Kinderarbeit gezwungen, später Haushälterin in Wien und Frau von Mathias. Die Nazis widern sie an. Sie überlebt ihren Mann um 30 Jahre. Rosa, Irmas Schwester, zur Zeit des Faschismus Sekretärin eines Gauleiters, die im Zusammenhang mit dem NS-Regime bis an ihr Lebensende von „Zusammenbruch“, nicht von „Befreiung“ spricht. Fernec, Gyulas halbtauber bildnerisch begabter Bruder, der es auch im Roman nur zu einer Nebenfigur bringt. Karin, die erste Frau von Mathias Regner, die sich nach zahllosen einsamen Abenden mit Weinglas und Fernseher von ihm scheiden lässt. Alena, seine zweite Frau, die im Roman vor allem als Begleiterin der Besuche im Altersheim auftritt, in dem seine Mutter auf den Tod wartet. Gyula, der durch die häufigen Ortswechsel der Familie schulische Probleme bekommt, sich damit abfindet, am Gymnasium von einem Lehrer, Professor Jikal, gefördert wird, der ihm sogar das Autofahren beibringt und ihn über den Lehrplan hinaus in die Welt der Literatur einführt, was aus Gyula fast einen Schriftsteller macht. In vielen Romanen wäre er auch Autor geworden, in „Brüchige Ufer“ studiert der „schwermütige Zweifler“ (S. 200), der Gyula schon als Schüler ist und der von seinem Vater schon mal grün und blau geprügelt wird, weil er den Geigenunterricht verweigert, später bis zum Doktorat und er erlangt eine gesicherte berufliche Position, begleitet von zahlreichen Ehekrisen.
Wie alte Portraitfotos rufen sich die Personen in Erinnerung, wobei der Vorhang oder die Leinwand als Hintergrund gelüftet ist. Dadurch tritt viel Zeit- und Alltagsgeschichte zu Tage, die sehr genau beobachtet und detailliert erzählt wird. Die Fotografie taucht auch immer wieder geradezu leitmotivisch auf, mit gezahntem Rand, als Erstkommunionfoto, Hochzeitsfoto oder vergilbter Abzug eines Klassenfotos, als Kamera von Mathias Regner, die „altehrwürdige Box“ (S. 187), zusammen mit einem Feldstecher und einer Pistole die Erinnerungsstücke Gyulas an seinen Vater. Neben den Fotos sind Zitate das zweite Movens des Erzählstroms, einzelne Wörter oder kurze Sätze der Akteure wie Irma Regners „Meinbub“, kein anderes Wort prägt sich Gyula so ein oder „Leb wohl, Mama!“ (S. 160), der „lautlose Schrei“ von Ferenc beim Begräbnis von Irma Regner.
Der Roman ist streng, fast mathematisch durchkomponiert, schon in den Passagen am Beginn, in denen die Begräbniszeremonie für Irma Regner dargestellt wird: Im Gasthaus, das Alena und Gyula betreten, sitzen drei Männer am Stammtisch, in der dunklen Totenkapelle sitzen drei alte Frauen, gemeinsam ist den beiden Situationen die beklemmende Stille. Der Roman erstarrt aber nicht in einem Formalismus, sondern vermittelt unter die Haut gehend das Lähmende und Einschnürende der erzählten Welt, unterstützt durch eine lyrisch dichte Sprache, die den Persönlichkeitsverlust der Protagonisten durch Personifizierungen oder (De-)Animierungen ihrer Umwelt plastisch zum Ausdruck bringt. Beispielsweise in den Schilderungen des Fabrikmolochs in Amerika, der Michael Regner als Rädchen des Systems verschlingt oder der von Gyula durchstreiften Stadt, in der die Blätter wie tote Vögel von den Bäumen fallen. Der Roman ist eine umfassende psychologische Untersuchung der Familie, in der das Geflecht der einzelnen Bindungen und Entfremdungen geradezu wissenschaftlich exakt herausgearbeitet ist: zwischen Irma und Gyula, verstärkt durch die Abwesenheit des Vaters im zweiten Weltkrieg, zwischen Mathias und Ferenc, dem von Irma abgelehnten Vaterkind, zwischen Irma und Rosa, und viele weitere mehr. Der Roman ist schließlich eine große historische Dokumentation, nicht nur von Abläufen, sondern auch von Gefühlen, von psychischen Verletzungen und ihren Langzeitfolgen. Anhand der Figuren zeigt sich, wie sich die Weltgeschichte zwischen den Flüssen Pulka, Wulka und Gusen, den Sprachen Deutsch, Ungarisch und Kroatisch und der christlichen, jüdischen und Roma-Kultur spiegelt, wie vor allem der Faschismus die Menschen und ihre Koexistenz zerstört. Er transportiert sehr viel Alltagskultur, Begegnungen mit dem Fremden, mit den alliierten Soldaten aus Russland und Amerika, mit den ersten Ölsardinen und Südfrüchten. Die Entnazifizierung durch die Alliierten ist in direkter Rede gehalten, oral history aus dem Mund Irma Regners. Sehr beeindruckend ist die Passage, in der sich Gyula an die Opfer in den Mauthausner Nebenlagern Gusen I und II zu erinnern versucht, die er als Vierjähriger noch miterlebte. Die jüdische Kultur ist vor allem in der Figur Béla Grünfelds präsent, der in direkter Rede die Situation in der international hoch angesehenen Mattersburger Talm Jeschiba schildert und im März 1937 „voller böser Ahnungen“ (S. 125) ist. Irma Regner arbeitet in Wien bei einer jüdischen Familie. Vor den furchigen Gesichtern der Roma schrecken sich die Buben Guyla und Ferenc, die Eltern erzählen ihnen von ihrer schlechten Lage und der Verfolgung und Ermordung durch die Nazis. Die christliche Kultur zeigt sich mit „bedrohlichen Bußliedern“ (S. 154) in Irma Regners Wallfahrt nach Mariazell.
Mit Irma Regner und ihrem Sohn Gyula wird schließlich   das 20. Jahrhundert zu Grabe getragen. Eine Generation, die in das 21. Jahrhundert wächst, gibt es nicht mehr.
„Am anderen Ufer des Sees berührte der Himmel die Erde“ (S.108), so sieht Gyula als Schüler das „Flache“, wie die Einheimischen den Neusiedler See nennen. Viele Berührungspunkte zwischen Himmel und Erde gibt es an den diesseitigen Ufern nicht. Das zeigt der Roman eindringlich. Die Ufer halten nicht einmal, sie reißen die Protagonisten fort und die Leserinnen und Leser mit.

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Gerald Kurdoglu Nitsche (Hg.), heim.at. Anthologie türkischer Migration.
Landeck: EYE Verlag, 2005.

Die türkische Kultur ist ein fester Bestandteil Österreichs. Die Anthologie heim.at ist der beste Beleg dafür und das künstlerisch gestaltete Länderkennzeichen von Peter Wibmer und Gero Weinmann weist schon auf der ersten Seite sehr anschaulich darauf hin: „TR“ für „Türkei“ ist in „Austria“ enthalten. Ein hervorragendes Motto für den Band, der ein wichtiger Beitrag für die Integration ist, für die, so Bundespräsident Heinz Fischer im Vorwort, noch viel zu tun ist, da „Integration auf mehreren Ebenen gelingen muss, um dauerhaft Bestand zu haben“ (S. 5). Eine essentielle Ansatzfläche dafür ist die interkulturelle Kommunikation. Daher hat Gerald Kurdoğlu Nitsche in seinem engagierten EYE Literaturverlag, der sich programmatisch den „Wenigerheiten“ widmet, gemeinsam mit Yeliz Dağdevir 38 in Österreich lebende türkische Autorinnen und Autoren mit ihren lyrischen und einigen bildnerischen Werken zur vorliegenden Anthologie türkischer Migration eingeladen, um damit, wie Yeliz Dağdevir von der Initiative Minderheiten Tirol in ihrer Einleitung schreibt, „viele Brücken“ zu schlagen (S. 10). Auch die sprachliche und kulturelle Vielfalt innerhalb der Türkei wird wiedergegeben, indem Gedichte auf Kurdisch, Armenisch, Aramäisch und in Romanes abgedruckt wurden.
Die Beiträgerinnen und Beiträger gehören allen Altersschichten an, von Jahrgang 1937 (Kundeyt Şurdum) bis 1989 (Seda Yldiz), neben arrivierten Schriftstellern wie Kundeyt Şurdum oder Hüseyin Şimşek finden sich Autorinnen und Autoren mit noch wenig Publikationserfahrung, die in unterschiedlichen Berufen tätig sind. „Dass auch Künstler, Literaten, Musiker gekommen sind, ist hier kaum bekannt, denn sie arbeiten auf dem Bau, in der Küche ..., wer vermutet da schon eine Dichterin, einen Dichter“, schreibt Gerald Kurdoğlu Nitsche in seinem Vorwort (S. 11) und er weist darauf hin, dass das Verfassen von Gedichten in der Türkei fast ein „Volkssport“ ist – was durch die vertretenen Autorinnen und Autoren sehr gut zum Ausdruck kommt. Zudem zeigt der Band sehr schön: Die Literatur ist für alle da.
Der Anthologie ist in drei Abschnitte gegliedert: In „Içimdeki söylenmemiş sözlerim / Stumme Worte in meiner Seele“ (Meral Kaya) finden sich Liebesgedichte, in „Wird es schwer sein, in der Heimat meines Sohnes zu sterben“ (Kundeyt Şurdum) wird das Leben in der Fremde thematisiert, in „Bir gülün soluduğu anla o gülün soluduğu ana / Der Moment, in dem mich die Rose atmete und verwelkte“ (Hüsein Şimşek) geht es um die Situation des Individuums in der Gesellschaft, auch um Unterdrückung und Krieg. Die gemeinsame und leitmotivisch wirkende Hintergrundkulisse der drei Teile bilden die Bewegung, das Warten, Kommen und Gehen, die Fremde und die Sehnsucht.
In einigen Gedichten des ersten Teils wird die Lyrik als Anredeform der Liebe genutzt beziehungsweise das Gedicht mit der Liebe identifiziert: „Henüz tamamlanmamiş / Bir şiirsin – Ein nicht beendetes / Gedicht bist du“ lautet ein Vers in „Gidiyorum / Ich gehe“ von Nurettin Hanci (S. 44). Exemplarisch dafür ist auch der Zyklus „kül ses / Aschenstimme“ von Haydar Zeki, in dem zunächst das Gedicht selbst thematisiert wird und das lyrische Ich sich dann in Fußnoten ausspricht. Eine Stelle daraus lautet: „ein Buch von mir mit Gedichten blieb zurück, ich lief, Asche blieb / in meinem Herzen zurück“ (S. 37). Sehr pointiert bringen die aramäischen und deutschen Gedichte von Selin Prakash Özer den Vergleich zwischen Orient und Okzident zum Ausdruck, so in „nord / süd“ (S. 40): „wenn ich dich umarme / nordische kälte / wirst du nicht wärmer / ich aber / friere“.
Der zweite Teil steht im Zeichen der Sehnsucht nach einem Zuhause, die oft in einem Stadt-Land-Gegensatz abgehandelt wird. Daraus spricht eine Einsamkeit in den urbanen Ballungsräumen, poetisch sehr stark beispielsweise von Şerafettin Yldiz umgesetzt in „Bir emekçinin kutsal evi / Das Heiligtum eines Gastarbeiters“ (S. 73): „Die Tünche ist abgeblättert von der Decke / Zwei unterbrochene Linien erinnern mich / immer an eine Kurve, die in unser Dorf führt.“ Manchmal mündet die Isolation in ein Bekenntnis zum Leben auf dem Land und in Naturverbundenheit, so in „Köyülüm / Ich bin ein Dörfler“ von Numan Alsan, S. 68: „Ein Dörfler bin ich, verbunden mit der Erde / Mein Inneres gleicht meinem Äußeren / ...“ oder in „Alin sizin olsun / Ihr könnt sie behalten“ von Ömer Yldiz (S. 63): „So sehr vermiss ich mein Dorf / All die Dachterrassen sollen euch gehören / Kaltes Wasser genügt mir / Das Bier soll euch gehören“ (S. 63). Aber es gibt auch „Genugtuung in der Fremde“, Kundeyt Şurdum auf S. 70: „Aufregend ist das reiten / auf unbekannten ebenen / stolpern auf den fremden steinen / sich freuen nach einem gelungenen sprung / in meiner deutschen sprache“.
Im dritten Teil werden aus der Schwierigkeit, oft auch Zerrissenheit des Lebens zwischen den Sprachen und Kulturen lyrische Antworten formuliert: „Die Sprache ist / Eine Wunde in mir. // Heilt sie / Verstumme ich“, schreibt Ecevit Ari-Uzunkaya (S. 94). Turgay Ayoĝlus antwortet in „Arayş / Suche“ mit einem Wunsch, einer Einladung: „durch jede Selbstbezeichnung / färbte sich meine Welt ins Nichts / komm, bezeichne mich in meiner Vielfalt“ (S. 89). Kundeyt Şurdums Antwort ist eine Frage ohne Fragezeichen: „Wieso steht im Koran, dass / Gott verschiedene Völker geschaffen hat / Damit sie in Eintracht leben // Würde es also mehr Kriege geben / Wenn die Menschheit nur / aus einem Volk bestünde“ (S. 134).
Wie der legendäre Band „Österreichische Literatur – und kein Wort Deutsch“ vermittelt „heim.at“ nicht nur eine spannende Auswahl eines Teils nicht-deutschsprachiger österreichischer Literatur, sondern ist auch graphisch sehr ansprechend gestaltet.
Es bleibt nur noch zu wünschen, dass das Beispiel der Insel Burgaz im Marmarameer, auf der 22 Ethnien und 6 Konfessionen friedlich koexistieren und die Gerald Kurdoğlu Nitsche daher zum Untertitel „Burgaz Projekt / Burgaz Projesi“ inspirierte (vgl. Vorwort, S. 17), mit Hilfe der Anthologie in jedes Heim unter der Länder-Domain .at ausstrahlen möge.

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Bernhard Aichner, Das Nötigste über das Glück.
Innsbruck: Skarabaeus, 2004.

Aus einer Postkarte, einem Cartoon mit einem toten Mann und einer Frau, die in den Raum tritt, entwickelt sich die Geschichte von Elvina und Hans. „Du tot in der Küche Hans? So kenn ich dich gar nicht!“ (S. 7) steht in der Sprechblase und ebenso tot ist das Leben von Hans, der die Postkarte mit seinem Lieblingswitz von der Bar zu sich in sein Bahnwärterhaus in Maria Gugging nimmt. Er will sterben wie auf der Postkarte gezeichnet und um das Szenario zu komplettieren, sucht er per Annonce eine Frau, eine Zugehfrau. Bald steht Elvina vor der Tür und während er sich im Selbstmitleid suhlt und seine Selbstmordvorbereitung zelebriert, gibt sie das brave Hausmuttchen, bald auch Hausnuttchen, das ihn am „Schwanz“ (S. 9, S. 13 etc.) zurück ins Leben zieht. Sie malt die Postkarte bunt aus und flüstert ihm ein, mit ihr nach Spanien zu gehen. Von der bunten Postkarte weg spannt sich dann ein abenteuerlicher Handlungsbogen, der in einem bunten Häuschen an der spanischen Costa de la Luz endet.
Die beiden Hauptfiguren können nicht unterschiedlicher sein, trotzdem oder gerade deshalb finden sie sehr schnell zueinander. Dazu mag beitragen, dass sich an den Enden der Psychogramme doch wieder einige gemeinsame Ebenen und Ansatzflächen finden. Hans, in seiner kleinen, mit wenigen Bezugspunkten abgesteckten Welt festsitzend, still, in sich gekehrt. Vormals Tischler, hat er sich im Bahnwärterhäuschen festgenagelt und verdient den Lebensunterhalt mit Geschäften über das Internet. Elvina, ständig auf Achse, mit Stationen in Hamburg und Paris, laut, extrovertiert, mit Berufswunsch Pilotin, am liebsten würde sie selbst fliegen können. Mit einem Auto ohne Kennzeichen unterwegs, wehrt sie sich bei der Polizeikontrolle heftig und landet in der geschlossenen Anstalt von Gugging. Gemeinsam ist Elvina und Hans die Sehnsucht nach Aufbruch, nach Veränderung, nach Welt und nach Glück. Glück haben die beiden dann auf ihrem Weg von Maria Gugging bis zur spanischen Costa de la Luz jede Menge. In vielen Etappen und mit einigen Rückschlägen schlagen und stolpern sie sich durch und fast jede Teilstrecke beginnt überraschend und endet in einer Katastrophe, die Elvina und Hans unversehrt und glücklich vereint überstehen. Eva und Adam auf einer Tour de force ins spanische Paradies.
Der Roman besteht überwiegend aus Hauptsätzen, vom Nebensatz bis zum Einzelwort wird in schnellen Schnitten beinahe alles mit Punkten abgetrennt. Dadurch entsteht ein enormes Tempo, das sich bei näherer Betrachtung als Summe scharfer Bremsungen erweist. Die lapidare direkte Rede wird in Kürzestsätzen direkt eingefangen. Und die Sprache ist sehr direkt: kurz angebunden und derb. „Sie hat nicht viel geredet. Nur das Nötigste“ steht auf Seite 19 und das Nötigste erhebt sich kaum aus den vier Buchstaben. Der Blick des Erzählers ist fotografisch. Jeder Satz ist ein Schnappschuss. Bisweilen sind die Bilder aber zu plakativ, zu kraftmeierisch, zu dick aufgetragen. Elvina und Hans werden als hochheiliges Paar hochgehalten, an dem die Welt buchstäblich abprallt. Diese Welt ist in schrillen Farben und in Hochglanz gehalten, die Figuren bewegen sich darin in schwarzweiß. Das ist bildnerisch nicht unspannend, zumal es eine Verfremdung ist, umgelegt auf die konventionelle Sprache besteht aber die Gefahr, dass Klischees eher verstärkt als kritisch ausgeleuchtet werden. Es entsteht eine Ästhetik der Affirmation, die sich allzu glatt in das einfügt, was in der mainstreamigen Unterhaltungsindustrie als schön und gut und wert sanktioniert wird. Die Sprache wird zu einem Glatteis, auf dem es auch mit dem Mittel der inhaltlichen Übertreibung, den allzu großen Katastrophen und allzu glücklichen Fügungen nur schwer möglich ist, die Kurve vom Trivialen weg zu kratzen. Dies wird an Elvina und Hans deutlich und in besonderem Maße an den Figuren, die ihnen im Laufe der Kapitel begegnen, unterwegs oder in ihrer Erinnerung. Das Paar trifft auf lauter Nicht-Paare, Alleinstehende, Ex-Partner, die in irgendeiner Form stranden, verunglücken, zerschellen. Wie der Lkw-Fahrer, der tot über das Lenkrad gebeugt endet. Wie Cloe, die ebenfalls bei einem Autounfall ums Leben kommt. Wie Herbert, der in Montpellier zurückbleibt, um Frau und Kind wiederzufinden und Hans und Elvina seine rosarote chinesische Beiwagenmaschine zur Weiterfahrt leiht. Wie Costa, der Fischer, der sich die Zigaretten auf der Hand ausdrückt und dessen Partnerin zu weit weg in Hamburg ist.
Es ist sicher eine wesentliche Leistung der Literatur, zu enttabusieren, ob es nun das Sterben ist oder die Sexualität, zu zeigen, dass es Jacke wie Hose sein kann, ob von Schwanz oder Mund geredet wird, aber aufs „Wie“ kommt es an, auf die Art der Thematisierung und die sprachliche Realisierung. Der vorliegende Roman ist zu sehr das Duplikat eines Sexshops oder eines B- oder C-Movies. Sex sells nicht immer – ein wenig weniger wäre mehr gewesen. „Dann waren sie da. Hunderte Pornofilme, Dildos und Unterwäsche. Hans ließ sich Zeit. Auch Elvina war neugierig. Ich war noch nie in einem Sexshop. Ich finde es geil“ heißt es auf den Seiten 78 und 79 und der Roman würde auch gut in das Sortiment eines Sexshops passen.
Die Binsenweisheit, dass das Leben lebensgefährlich ist, dass in der mobilen Welt viele Gefahren lauern, aber auch nie gewagte Möglichkeiten – deutlich an der Stelle, an der Elvina in der Eisenbahn die Notbremse zieht –, zeigt und nutzt der Roman sehr radikal, ebenso den Umstand, dass jeder sich einmal einer Verkettung von Ereignissen ausgeliefert sieht. Aber die Auflösung ist zu einfach, die Hauptpersonen dürfen halt nicht sterben. Am Schluss kehrt mit Entsafter und Zehenwackeln (vgl. S. 96) eine Art Ehealltag ein. Auch mit dem Gugginger Arzt, mit dem Elvina in der Anstalt nicht das beste Verhältnis hatte und den das Paar in Spanien trifft, erfolgt nach der Rettung seines Sohnes vor dem Ertrinken die Aussöhnung: „Der Arzt weinte jetzt. Dann schluchzte er. Lange. Hans legte ihm die Hand auf die Schultern. Sie tranken Bier gemeinsam“ (S. 96). Friede, Freude, Schnäuztüchel. Nur der Leser sitzt stumm und ratlos in der Ecke.
Viele Kapitel werden lyrisch verdichtet abgeschlossen, zum Beispiel, ausgehend von einem Fernsehapparat:  „Das Bild war gestört manchmal“ (S. 61). Aber eben nur manchmal – das Bild, das der Roman liefert, ist extrem flimmernd bis zum Schneesturm-Rauschen in der sprichwörtlichen „Welt da draußen“ und extrem schön und heimelig in den verschiedenen Bahnwärterhäuschen auf dem Weg nach Spanien. Somit erweist sich „Das Nötigste über das Glück“ als eine High-Speed-Idylle mit einigen spannenden Teilen, aber als ein etwas zu glattes und schlüpfriges Ganzes.

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Matthias Schönweger, Türe zu.
Bozen: Edition Raetia, 2003.

Es geschehen noch Zeichen und Bücher. Türe zu gehört zu diesen und das Schild „Türe zu“ und der Verfassername auf dem Cover müssen eigentlich nur zusammenhängend gelesen werden: Es ist eine Türe zu Matthias Schönweger. An die 600 Seiten stark, ein kiloschwerer Ziegel, ausgestattet mit allen Farben dieser Welt. Wie in Flügelverleih (Edition Raetia 2000) durchzieht Biographisches den Band, „msch“ und seine Umgebung, „Gott und die Welt in Meran“, wie es im Klappentext heißt, als Kunstprojekt. Flügelverleih schließt mit einem Schild „Ausgang“, von „msch“ ergänzt mit „ungewiss“. Türe zu schließt an diesen Ausgang an, das „Biabl“ auf dem Umschlag will auf einem Stockerl stehend eine Tür öffnen und dem Leser und der Leserin gehen durch das Aufschlagen, Blättern und Lesen laufend Türen, Tore und Portale wie Lichter auf. Das Stockerl dazu stellt „msch“ bereit, als Angebot, Konventionen zu hinterfragen und Möglichkeiten zu entdecken, hinter verbotene oder noch nicht gesehene Türen zu blicken, ob sie nun zum Medium Buch oder zum Medium Sprache führen. Der Maßstab wird durch das Buch der Bücher gesetzt: Türe zu wirkt wie eine pracht- und prunkvolle Bibel, wobei der Titel und das Biabl die Bibel konterkarieren, gewissermaßen auf den Boden holen. Von den philosophischen Grundtugenden Staunen, Zweifel und Neugier geleitet wird ein kindlich unbefangener Blick auf die Dinge hergestellt und ein Katechismus des Alltagslebens gestaltet. Immer wieder tauchen Devotionalien auf, Heiligenbilder, Adam und Eva als Ken und Barbie, Jesus, der die Arche trägt, dazwischen priesterlich „msch“ selbst auf Fotos aus dem Familienalbum und von verschiedenen Kunstaktionen. Als bunte und prächtige Gobelins sind seine Texte eingewoben. Sie sind aus dem Leben, aus der Sprache gegriffene Psalmen und Stoßgebete. „Jesus / stirbt / 33  / Jahre / nach / Christus“ (S. 66). „Ich verspreche bei / allem / was mir / heilig / ist / nichts / ist / mir heilig bei / allem / was ich / verspreche“ (S. 130). „Ich bin wie / geschaffen / für / dieses Leben“ (S. 195).
Die Welt wird als Ready-made ins Buch geholt, einschließlich Leserin und Leser: So ist ein Gästebuch eingebaut (S. 174 ff.), das nicht nur eine Einladung ins Buch ist, sondern auch ein Hinweis darauf, dass man – schon im Buch – dort sehr willkommener Gast ist. Durch die künstlerische Umkontextualisierung ist gar nicht mehr notwendig, es tatsächlich zu beschreiben. In der Serie Einsicht/Aussicht (S. 480 ff.) kann durch Guckfenster, die in die Seiten geschnitten sind, Einsicht in die Welt genommen werden. Die Seite wird so zum Rahmen, in weiterer Folge zum Zeichen, das sich situativ mit denjenigen Bildern füllt, wohin der Leser es gerade wendet. Die große Einsicht wird zum Hinweis, dass sie so groß nicht ist und wenigstens zur guten Aus-Sicht aus Sicht des Lesers und der Leserin.
Die Wörter beim Wort nehmen, den Wörtern auf den Grund gehen – das ist die frohe Botschaft dieses Buches. Schönweger zeigt Seite für Seite auf sehr vergnügliche Weise, was in den Wörtern steckt: Der „Stammhalter“ ist ein Äffchen, das sich an einen Ast klammert (S. 48). Die Wörter „Kürze“ und „Länge“ sind gleich lang (S. 55).
Natürlich kann das Buch wie jedes andere Buch linear von vorne bis hinten gelesen und betrachtet werden, aber es gibt noch mindestens 360.000 weitere Möglichkeiten, das Buch zu lesen und man liest immer richtig.
Auf der letzten Seite findet sich wieder das Schild „Türe zu“, das Biabl aber fehlt. Die Tür wird geschlossen, das Buch wird zugeklappt mit dem Wunsch, dass das Biabl in einem nächsten Band wieder erscheinen und der Sprache viele Streiche spielen möge. Das PS im Impressum (S. 575) lässt diesbezüglich hoffen: „Als Fortsetzung folgt dem Schluss als Schluss der Schluss / zum Schluss / kann gegackert werden / denn wieder ist ein Ei gelegt“. Und dieses Ei aufzuschlagen, sei allen anempfohlen!

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Christoph W. Bauer, Fontanalia. Fragmente. 
Innsbruck: Haymon, 2003. [limitierte Auflage mit 499 Stück]

Das Buch wäre schon ein Kunstwerk, wenn auch nichts drinnen stünde. Als bibliophiles Leporello bietet es den adäquaten Untergrund für Christoph W. Bauers poetische Auseinandersetzung mit dem Thema Wasser, besonders der Fassung des Wassers in Brunnen, im Fluss durch die Literaturgeschichte und unter Einfluss bestehender Brunnengedichte. Der gefaltete Papierbogen als Kern erzeugt zum einen beim Blättern eine Art Wellengang, zum anderen liegt das Buch in der Hand wie ein Schiffchen, das den Wogen nachgibt und vom Wellengang getragen wird. Auf beiden Seiten bedruckt, wird das Leporello zum Doppelbuch, das mit zwei identischen Covers versehen ist. Auf der einen Seite wird der Lyrikreigen entfaltet, wird das Paddel gewendet und umblätternd weitergeschlagen, zeigt sich überwiegend in Prosa ein erläuternder Kommentar zum Gedichtzyklus – oder umgekehrt: je nachdem, wie man das Buch zufällig in der Hand hat.
Beginnen wir aber mit der Lyrik: 15 Gedichte umfasst der Zyklus und sie sind mit Zitaten aus Brunnengedichten von der Antike bis in die Neuzeit eingeleitet oder durchsetzt, die dann poetisch reflektiert werden. Programmatisch und ein Paradigma setzend ist gleich das Zitat am Anfang des ersten Gedichtes: „fontanalia a fonte in fontes coronas iaciunt / et puteos coronant“. Es stammt, wie im Prosateil zu erfahren ist, vom römischen Polyhistor Varro und beschreibt die Fontanalia, das römische Fest zu Ehren des Brunnengottes Fontus, bei dem die Brunnen mit Kränzen geschmückt wurden. Ebenso präsentieren sich die 15 Gedichte wie Kränze, die um tiefe Brunnenschächte, im übertragenen Sinne: um die Überlieferung der poetischen Zeugnisse gelegt werden. Durch die versetzte Zeilenanordnung erinnern die Strophen an antike Strophenformen und vermitteln den Eindruck von Kaskaden. Markant sind die in unterschiedlicher Dichte auftretenden Auslassungspunkte. Vexierbildhaft vermitteln sie im Verbund mit den Wörtern einerseits Flüssigkeit, den Lauf des Wassers, das Tröpfeln, Plätschern und Rinnen, andererseits verweisen sie auf Festes, Gefäße, Formen, letztlich die Strophenformen und ihre Sprünge, Brüche und Scherben – Fragmente eben, unterstrichen dadurch, dass die Punkte an keiner Stelle über das exakte Schema des Drei-Vers-Schrittes hinausreichen.
Die Spanne von mehreren tausend Jahren Motivgeschichte wird in den 15 Gedichten fokussiert auf drei Stunden und sechs Melange-Längen (vgl. xiv) in einem „unter altstadtlauben verkrochnen café“ (i und xv), das Meer spiegelt sich sozusagen in einem Tropfen, der von Strophe zu Strophe, von Schale zu Schale weiterrinnt. Wasser und Gefäße prägen die Lexik der Gedichte, beispielsweise: „tassenrand“ (i), „wallend“ (i), „strömt“ (i), „becken“ (ii), „scherben“ (ii), „zungenzerkübelt“ (iv), „zerfliessen“ (v), „becher“ (vi), „gischtwirbel“ (ix), „scherbenhaufen“ (ix), „aschenbechern“ (ix), „schwüregeschäum“ (xi), „brunnenschalen“ (xiv), „schalen“ (xv).
„This one goes out to the one I...”  prangt groß als Motto über dem Titel des Buches, ein Song von R.E.M., und wo nach dem “I” Auslassungspunkte ein Abreißen und eine Lücke signalisieren, folgt im Song: “love”. Das Du im Da spielt in den Gedichten eine entscheidende Rolle – ja die Liebe: Beispielsweise heißt es in iv: „liebe quillt“ oder in v: „mein blick gleitet um dein becken“, in viii erscheint ein „salamander“ und eine „salamandrina“, in xii ist vom „brauchdichgezwitscher“ die Rede. Der Prosateil verrät, dass hinter den Brunnengedichten Minnedichtung steckt, „eine Form von Liebeslyrik“, „Gedichte, die das Unaussprech-“.
Essentiell ist weiters, dass oft das Artikulieren, das Rudern der Zunge im Mund, schließlich die Sprache selbst thematisiert wird und Welt als Sprache auftritt, zum Beispiel in vi: „becher der grammatik“ oder in vii: „mir halswärts hüpft im silbenrauch metaphernrausch“. Die Gedichte präsentieren sich somit als literarische Übersetzung von Sprache und Literatur, als Reflexion, Verarbeitung und Weiterbauen des poetischen Brunnens. Dabei findet Bauer in bewährter Weise immer wieder zu spannungsvollen Wortbildungen wie in vi: „blaupausenduktus“ oder in xii: „sekundenmäander“.
Kehrtwende: Kopfüber weitergeblättert kommen wir zum Buch im Buch bzw. zum Buch über das Buch: Im Prosateil wird der Gedichtzyklus als „Bündel von Papieren, das eine anthrazitfarbene Mappe zusammenhielt“ beschrieben, ein Findling anonymer Verfasserschaft im Studio des Musiker-Freundes Christian Martinek, den er an Christoph W. Bauer weitersandte. Es bildet den Anlass zu einer Recherche-Reise durch die Literaturgeschichte, die unter anderem von Sappho, Catull, Ovid, über Snorri Sturluson, die Trobadore des Mittelalters, Walther von der Vogelweide bis zu Flaubert, Hofmannsthal, Celan und Paz führt.
Hier wird das „ad fontes ire“ sehr deutlich, von der Bibliothek bis zur Buchhandlung wird den Versen auf den Grund gegangen, Hinweise von Freunden werden eingeholt. Leitmotivisch wirken die Fragen: „Ist nicht jeder Text, jedes Gedicht ein Fragment?“ Und an anderer Stelle: „...sind nicht in jedem Gedicht auch die vielen anderen, schon geschriebenen zu lesen?“
Im Gedichtteil wird genau der Moment des Verarbeitens bestehender Gedichte im Dichten gleichsam fotografisch festgehalten, assoziative Gedankenflüsse werden dokumentiert einschließlich der Lücken und Pausen. Verdichtung durch Zurücknahme und semantisches Aufladen, so erfolgt der dichterische Dialog mit den Quellentexten.
Nicht allein Brunnen, die Form ganz allgemein wird schließlich zum Gegenstand des Interesses, hier taucht die lateinamerikanische Dichterin Alejandra Pizarnik (1936 – 1972) auf und ihr Gedicht „Formas“, in dem es heißt: „tal vez oral como una fuente tal vez juglar“, eingeflochten in das Gedicht xi.
Im prosaischen Teil entfaltet Bauer sein poetologisches Programm: „...denn für mich ist Dichtung immer eine Art Fortschreibung und nichts andres als ein Anknüpfen an bereits Geschriebenes, eine Variation und bei aller Ernsthaftigkeit im Umgang mit dieser ein Spiel auch und somit ein Vergnügen“. Vorgeführt wird dies an Hand von acht Seiten Lyrik, die sich auch in diesem Teil finden: Ausgehend von der Trobadorlyrik Guihelms und dem Vers „ein liedchen wollt ich machen rein aus nichts“, wird „in alter Manier“ gereimt und fortgeschrieben, bis im Pastiche plötzlich „abceliche träume“ auftauchen, Kontraste werden erzeugt: „dass dies liedchen in wahrer aufrichtigkeit gesungen / auch noch den letzten eurer zweifel fragmentiert / bis ihr vom selben verlangen wie ich verschlungen“.
Dass das Wasser sein Element ist, zeigte Bauer schon mit dem 2001 bei Haymon erschienenen Lyrikband „die mobilität des wassers müsste man mieten können“ und das darin als Motto enthaltene Zitat von Octavio Paz, „das Gedicht fließt“, gilt auch für „fontanalia.fragmente“. Es könnte weiter variiert werden zu: Sprache fließt. Und der Fluss, in den man steigt, ist nie ganz der gleiche. Das beweisen Bauers Texte im besten, somit poetischen Sinne.

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Matthias Schönweger, von & zu Peter & Paul.
Innsbruck: Skarabaeus, 2003.

Es ist ein Sprachereignis ersten Ranges, das Matthias Schönweger hier entfaltet über Peter Mitterhofer und sein Ding, das er aus dem Wald gehauen hat und im Partschins des 19. Jahrhunderts daherkam wie ein Hornerschlitten: die erste Schreibmaschine. An diese Apparatur, die im Prinzip schon alles hatte, was Waffenschmied Remington und Konsorten bei den folgenden Modellen nur noch in großem Stil industriell verfeinerten, setzt „msch“ die Textmaschine aus dem 20. und 21. Jahrhundert: sich selbst in der Figur des Paul.
Als sein erster Roman wird das Buch auf dem Umschlag angekündigt, und es wäre nicht Schönweger, wenn er diese Gattung nicht auf alle sprachkompositorischen Möglichkeiten hin ausleuchtete, die Form als solche beim Wort nähme und das Werk architektonisch plante und zusammenbaute wie weiland Mitterhofer die Maschine. Genau 200 Seiten ragt der Roman in die Tiefe – die Seite 13 wurde ausgelassen – und ganz ohne visuelle Poesie geht’s bei „msch“ nie: Das Auge des Dürer-Apostels vom Cover blickt dich dort, wo sonst z.B. Asterisken stehen, also zwischen den Textabschnitten, stetig an.
Das Buch ist zwei in einem, Roman und „Roman-Ce“, eigentlich Biografie und Autobiografie, Gemeinsamkeiten zwischen Peter und Paul werden gesucht, gefunden und herausgearbeitet.
Da wäre zunächst einmal die scheinheilige Gesellschaft, die kreatives Schaffen damals wie heute nicht unbedingt erleichtert, die Peter und Paul im günstigsten Fall irgendwann zu Heiligenbildern werden lässt. Hundert Jahre nach Mitterhofer hat sich in mancher Hinsicht nicht viel geändert, nicht nur in der Partschins-Provinz mit den Dorfpatronen Peter und Paul. Besonders deutlich wird dies bei Peter bei seinem Gang zu Fuß (!) nach Wein zum Kaiser, um dort für sein „SpielZeug“ (S. 96) mit einer Mini-Subvention von „über zweihundert Gulden“ (S. 96) abgespeist zu werden, bei Paul an seiner Passersteine-Färbeaktion, damit Meran endlich eine Kläranlage erhält. "Auch Peter und Paul haben Klinken geputzt, der eine beim Kaiser, ich bei Galeristen und Verlegern" (S. 66).  
Dann die geistige Verwandtschaft zwischen Peter und Paul, die Lust am Text und an der Aktion, die Schönweger durch das Einflechten zahlreicher Textquellen von Mitterhofer zeigt. Peter liebt es wie Paul vulgo Matthias, Redewendungen oder bekannte Gedichte, die als Texteinheiten wenn nicht im Sprachgebrauch so zumindest im allgemeinen Bildungsgut eingeschrieben sind, aufzugreifen und durch Variationen, Brüche und Erweiterungen pointiert zuzuspitzen wie beispielsweise: „Schiller... Alle Menschen werden Brüder, / Wo dein sanfter Fluegel weilt. Mitterhofer... Schlagen ihre Brueder nieder! / Wenn erst deine! Fluegel schlagen, / wie im Maerchen und in Sagen – / nie mehr eine Wunde heilt “ (S. 166). Oder durchzustreichen: „Goethe, Die Vögel: Der Ausgang gibt den Thaten ihre Titel. Von Peter Mitterhofer drei Mal rot untermalt und einmal blau durchgestrichen“ (S. 166). Mitterhofer war nicht nur dem Dichten, sondern auch der Musik sehr zugetan („Pea tourt über Land, das verschneite, gibt gegen Kost und Logis auf seinem Weg Bunte Abende“, S. 182), ein Multimedia-Performance-Artist wie heute Matthias Schönweger. Der Musik kommt überhaupt eine ganz essentielle Bedeutung zu auch für das Erfinden, die Innovation: „Sein Xylophon mag ihn auf den Gedanken auf den Gedanken gebracht haben – eine ähnliche Apparatur aus Tasten, Hebeln und Hämmern müsse sich, geräuscharm diesmal, dazu verwenden lassen, den in aller Welt händischen Schreibvorgang durch das Spielen auf einer Klaviatur zu ersetzen“ (S. 60).
Bei allen Widerständen, denen sich Peter und Paul ausgesetzt sehen, hört das Buch nie auf, deren Lebensfreude zu vermitteln. So ist es über weite Strecken auch ein Kochbuch, das einige Küchentipps und so manches Schmankerl zum Nachkochen bereithält, z. B. leckere Makrelen-, Schwertfisch- und Muschelgerichte unter der Überschrift   „Ein Tris für zwei“ (S. 46 und 47). Auch das Liebesleben kommt nicht zu kurz, sprachlich genauso lustvoll und plastisch aufbereitet wie die geschichtlichen Ausflüge zu den Ereignissen und Erfindungen des 19. Jahrhunderts („Einer sucht und findet SamenFäden, ein gewisser Kölliker, und ein Mann mit Namen Bischoff stößt auf die periodische Eireifung; als erster beobachtet Remak, wie sich die Zelle teilt, Berzelius gewichtet Atome, der Elementar-Analytiker Liebig eröffnet den agrikultur-chemischen Reigen, Runge zaubert schon vorher aus Kohle Phenol und Anilin, und einer heißt Perlin, der macht FarbStoff aus Teer“, S. 97 f.).
Letzten Endes und nicht zuletzt ist „von & zu Peter & Paul“ auch ein Gedicht. Es enthält nicht nur im Fließtext viele Sätze zum Aufschreiben und Merken („Die Menschheit besteht heute schon aus über 90 Prozent Toten“, S. 43), besonders eindrucksvoll sind die zahlreichen eingeflochtenen Beispiele konkreter und konzeptueller Poesie Marke Schönweger. So steht schon auf S. 7:

ES GEHT RUND
AUF DER ERDE
SEITDEM SIE SICH DREHT

Sie ziehen sich so weiter durchs ganze Buch und halten in Atem. Sie wirken oft wie ein Erzählerkommentar, bauen zugleich auch eine lyrische Spannung zur Prosa auf. Mal kommen sie als epigraphartige Wegmarken daher, zumal wenn die typografische Anordnung eine Kreuzform ergibt, mal wie Aphorismen auf einem Abreißkalender. Sie sind auch eine autobiografische Werkschau, eine Ausstellung einiger seiner Arbeiten – wie sie beispielsweise im Prachtband „Flügelverleih“ (Edition Raetia 2000) versammelt sind –  im Buch. „msch“ zeigt hier alle Register seiner Wortartistik, bricht und variiert Wörter, Wendungen und Zeilen an den richtigen Stellen, permutiert und serialisiert Wortpaare und Wortkonstituenten so lange bis die Semantik kippt und bricht und umschlägt. „Irre Parabel“ (S. 43), ein Wortcocktail vom Feinsten wird da geschüttelt. Einige dieser Konstellationen haben durchaus schon einen motivischen Status erlangt, (S. 66:) „NACH WIE VOR“ (Gerhard Jaschke) oder (S. 189:) „PAPSSST“ (Werner Herbst) sind nur zwei Beispiele der guten Nachbar- und Verwandtschaft, die aber jeweils individuell realisiert wird.

Somit präsentiert sich  „von & zu Peter & Paul“ als ein opulentes Sprachmenü in vielen Gängen, das alle Sinne anregt und anspricht, mit viel feinem Italienischem und kernigem Dialektalem, das immer wieder sehr gut schmeckt und wohl bekommt. Che bello!

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Markus Köhle, Pumpernickel.
Innsbruck: Skarabaeus, 2003, 128 Seiten.

Als „süß und würzig“ wird in Wörterbüchern „Pumpernickel“ beschrieben, genauso ist der vorliegende Erzählband gleichen Titels. Er repräsentiert auch die erste Buchpublikation des 1975 geborenen Autors, der sich bereits durch zahlreiche Lesungen, Teilnahmen an und Moderationen von Poetry-Slam-Veranstaltungen, Publikationen in Zeitschriften und Literaturmagazinen (Cognac & Biskotten, Freibord u.v.m.), als Mitglied der literarischen Kabarettgruppe „Die Schreibmaschinen“, schlagwerkender Mitstreiter von Jörg Zemmer in der Band „Abendroth“ und Herausgeber des gediegenen literarischen Fotomagazins „Flash“ (gemeinsam mit dem Fotografen Tommy Seiter) einen festen Platz in der Literaturszene Tirols und darüber hinaus erschrieben und erlesen hat.
Frei nach dem Motto „keine Probleme – nur Lösungen“ werden in „Pumpernickel“ längere und kürzere Erzählungen wie Schnitten übereinander geschichtet. Es sind Loser- bzw. Pseudo-Winner-Figuren auf der Suche nach Sinn, Exzess und Arbeitsplatz, und wenn nicht nach dem Ein und Alles, so zumindest vehement nach dem Einen, die in diesen Geschichten entfaltet werden. Und mit einigen Protagonist/inn/en nimmt es auch kein gutes Ende. Die Locations sind mediterran und tirolisch – auch der GEIWI-Turm wird zum längst fälligen literarischen Topos. Die Soziotope sind oft alkoholgetränkt und paarungsschwanger, es geht um den ganz alltäglichen Horror, der sich z.B. in einem Stabmixer manifestiert. In 7 Episoden gehalten ist die längste Erzählung, „Ein Betthupferl für Erwachsene“, die Geschichte des Feng-Shui-Beraters Knut Knaller und der Sekretärin Martha Mahlknecht, die sich Folge für Folge immer mehr zu einer Na-dann-gute-Nacht-Geschichte entwickelt. Dazwischen sind kürzere Stories eingestreut: „Falsche Fährte?“ gibt darüber Auskunft, was sich fünf vor High Noon in einem tunesischen Strandcafé alles abspielen kann. „Adams allererster Apfel“ schildert, was passiert, wenn Adam sich zum ersten Mal in seinem Leben auf einer Fähre nach Griechenland von einem Apfel verführen lässt. In „C´est la vie!“ geht es um die Folgen des Berufswunsches „Bergwerksführer“ für jemand, der zufällig Max Mustermann heißt. Zufällig Franz Fuchs heißt auch der Protagonist, der sein „Beziehungsgeschnetzeltes“ erlebt. Emmerich Sandmann wandelt in „Advent-Adventure-Action“ traumtänzerisch in 4 Akten zum Kiachlgang ins „Glühwein-Ghetto“ (S. 75) Christkindlmarkt und muss saunierend in „Liebe macht stark“ erfahren, wie eine Leberkässemmel die Artikulation steuern kann. In vielen Textpassagen wird die Leserin bzw. der Leser auktorial – oft dialogisch – einbezogen. Dieses Erzählverhalten wird, meist in Verbindung mit einer ironisierenden Erzählhaltung, virtuos variiert, wodurch zum einen zusätzliche Spannung aufgebaut und zum anderen viel Humor entladen wird: Vom Fabulierer antik-epischen Zuschnitts über den dokumentarischen, auch aufzählenden Berichterstatter bis zum Reporter, der „live bei Biss vier“ (S. 32) wieder einsteigt und Moderator, der sich locker-leicht Jargonismen und Anglizismen (Falco, schau oba!) bedient. Bei Vergleichen werden Medien-Ikonen wie Grisu, der kleine Drache oder Samantha Fox verwendet und Werbeslogans abgewandelt. Eingeflochtene Bibel- und Märchenmotive werden ebenso selbstreflexiv kommentiert. Die erzählerische Selbstthematisierung wird als origineller Höhepunkt in den letzten beiden Geschichten, „Das St. Johanner Schlafsackwunder“ und „Pumpernickel (Schlafsackstory #13)“, wiederum selbst thematisiert, indem von einem Schlafsack, der wundersam zu einem Erzähler wird, sowie eine seiner Erzählungen erzählt wird. Ein Lesevergnügen, das eine/r sich nicht entgehen lassen sollte!

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Hans Haid, Sie nehmen auch den Schnee – ils prennent aussi la neige.
Lektüre für geübte & ungeübte Rückwärtsleser & Vorwärtsdenker. Hg.: Gerhard Prantl, Gerlinde Haid.
Innsbruck: TAK, 2003, 117 Seiten.

Eine Hommage an den Walliser Schriftsteller und engagierten Tourismuskritiker Maurice Chappaz ist der von Gerlinde Haid und Gerhard Prantl herausgegebene und sehr bibliophil gestaltete Band, der Texte und Bilder von, zu und über Hans Haid und Maurice Chappaz versammelt und der zu einer Schatulle, randvoll mit kostbaren Schätzen, geriet: Von den Grafiken Helmut Kurz-Goldensteins, die das Buch einleiten, bis zur CD-Beigabe am Schluss, auf der eine gemeinsame Lesung von Maurice Chappaz und Hans Haid im Rahmen der Reihe „Musik und Poesie in den Alpen“ dokumentiert ist, die 1987 in Gries bei Längenfeld/Ötztal stattfand. Diese Lesung bildete auch die Grundlage für den vorliegenden Band. Von hinten nach vorne zu lesen und damit schon gegen den Mainstream und aufrüttelnd gegen konventionelle, fast schon festgefahrene Rezeptionsweisen gerichtet, ist es ein Buch, das gegen den Strich geht, gegen den Lawinenstrich, gegen den Massentourismusstrich. Darin tritt der kritische Mundartdichter und Volkskundler vom „Roale“-Hof im Ventertal in einen persönlichen und interalpinen Dialog mit seinem Dichterfreund und Walliser Pendant, in freien Improvisationen zu Texten Chappaz´, in Gedanken an ihn beim Mähen, mit neueren und älteren Gedichten. Das Zurückblättern vermittelt auch den Eindruck einer Retrospektive. Von „Zuhältern des ewigen Schnees“ spricht Maurice Chappaz und meint skrupellose Geschäftsleute, die Berggipfel zu ihren Prostituierten machen. Dadurch erhält die Ausbeutung und Plünderung bis zum letzten Rest, die der Titel „Sie nehmen auch den Schnee“ anspricht, noch eine verschärfende sexuelle Konnotation.
Den Textreigen eröffnet Maurice Chappaz mit einer Darstellung des Großen Sankt Bernhard (im französischen Original und in deutscher Übersetzung von Barbara Haid) und seiner Geschichte als Alpenpass und Schnittstelle zwischen Nord und Süd, von den Pilgern und Herrschern bis zur „immerwährenden Schlepperei, über das Lenkrad der Autos gebeugt“ (S. 5). Daran knüpft Hans Haid mit Reflexionen an und vergleicht das Entremont – das Tal, das zum Großen Sankt Bernhard führt – mit dem Ötztal und setzt in seiner Darstellung der „Alpenüberschreitungen“ Hannibal Ötzi entgegen.
In den darauf folgenden „freien Impressionen zu Texten von Maurice Chappaz“ ergänzt Haid Chappaz’ Thesen aus Ötztaler Sicht durch drastische und poetisch intensive Schilderungen der dortigen touristischen Zustände. Es geht um Talzerstörung durch „schweinsbarockschwülstigkeiten“ (S. 13), um „herren über schnee und bauer“ (ebd.), um Scheinheiligkeit („die scheinheiligen schweine“, ebd.), um „alpenpornosoftbarbarei“ (S. 15), um „gletscherseeausbruchleichen“ (S. 14) im Ventertal und im Val des Bagnes, auch ein Staudammbruch, dem „nur gastarbeiter“ (S. 15) zum Opfer fallen, wird in Szene gesetzt. Schnee in allen möglichen Zusammensetzungen und Ausformungen durchzieht dieses Pamphlet in 16 Kurzkapiteln wie ein weißer Faden: Schneemachen, Schneekrieg, Schneeherr, Schneehimmel und viele weitere mehr. Als Schluss- und Gipfelpunkt des Textes wartet „der aasgeier“ auf die „SCHÖNE LEICH“ – gleichsam ein anagrammatisch ausgeapertes Schnee-Öl-Ich.
Gletscher, Eis und Schnee kommen auch in der Auswahl von Gedichten Hans Haids gehäuft vor, beispielsweise in der „schneefuge“, in der die Abhängigkeit des Tourismus vom Schnee als „erlösender schneefall“ zum Ausdruck gebracht wird, der wie Manna vom Himmel fällt, in Wirklichkeit aber alles unter sich begräbt. Celans „Todesfuge“ zitierend, wird „abends und mittags und nicht zu vergessen auch morgens“ getrunken, denn: „wir haben den NEUSCHNEE / wir haben den ECHTSCHNEE / wir haben den KUNSTSCHNEE“. Oder in „weeret enk“ („wehrt euch“): ... si pöern olle / fearnar oon / mittn schauflen / mittlat / durches weisse / harchz (... sie bohren alle / gletscher an / mit den schaufeln / mitten / durch das weiße / herz ...). Weiters wird in vielen Gedichten die Kargheit des bergbäuerlichen Lebens verarbeitet, oft an Beckett’sche Szenarien erinnernd, wie beispielsweise in „Landschaft mit Baum“, dessen bildnerische Umsetzung mit zaunartig wirkenden Wörtern von Chryseldis Hofer-Mitterer ebenfalls abgedruckt ist. Nicht zuletzt wird Ausbeutung, besonders auch der Frauen, in vielen Gedichten thematisiert, so in „bugglat“: bugglat / hintrn Hause / Naale / klaubet / Höülz ... (gebeugt / hinter dem Hause / die Großmutter / klaubt / Holz ...). Oder in „ir Lebtog“: ... geköchet / gflicket / gfüetrt / gflüechtet / ir Lebtog / geworchtet ... (... gekocht / geflickt / gefüttert / geflucht / ein Leben lang / gewartet ...). Über viele Gedichte zieht sich auch das Seil, der Draht, der Strick, der Seilbahndraht: In „mei Neene“ („Mein Großvater“): ... in Pargnen / hängen an / Soalboondraatnen / seine Suugelen ... (... in den Bergen / hängen an / den Seilbahndrähten / seine Schäfchen ...). In „weeret enk“ („wehrt euch“): ... hänget enk / an soalboondraatnen / au und singet ... (... hängt euch / auf den Seilbahndrähten / auf und singt ...). Oder „in dr leschtn hilzan hölzpruggen“ ... hänget oar / zmöerns / af an schtricke / vö dr decken ... (in der letzten / hölzernen / Holzbrücke / hängt einer / des Morgens / an einem Stricke / von der Decke ...). Bauernhaus und Scholle werden als Anti-Idyllen skizziert, exemplarisch in „geplüamte Fenschtrscheibenviirhänge“: ... lei a Nochtlampele prinnet / in an Weinglaaslan / schwimmet a Flüiga ... (... nur eine Nachtlampe brennt / in einem Weinglas / schwimmt eine Fliege ...). In „Paurnhaus“ („Bauernhaus“) wird sogar die Krippenromantik desillusioniert: ... a Herrgöütswinkl / a Pöüppele / au und au vollgschissn / in ar Wiegen / dies numma geit (... ein Herrgottswinkel / ein Kleinkind / auf und auf vollgeschissen / in einer Wiege / die es nicht mehr gibt ). Viele Gedichte erinnern an Gebete, ein „Amen“ oder „Alleluja“ taucht immer wieder auf. Damit entlarvt der „Alpen-Abraham-a-Santa-Clara“ (Peter Turrini im Vorwort auf Transparentpapier) pointiert die Scheinheiligkeit und Oberflächlichkeit, zumal immer auch Fremdenverkehr, Hotellerie, Bauwut und Profitgier in diese Gebete gekleidet werden: ... hochgelobt und gebenedeit / an POLMSUNNTOOGE / is asö weit / di frentn keemen ... (... hochgelobt und gebendeit / am palmsonntag / ist es soweit / die fremden kommen ...). In der „Heiligen Gletscher-Kommunion“, die den Abschluss von „Mein LEBEN am BERG (Herbstausstellung Meran 2002 ,Schöne Aussicht – Bella Vista’)“ bildet, heißt es: keemet / knielt niedr / busslt in schnea / busslt in fearnar ... (kommt / kniet nieder / küsst den schnee / küsst den gletscher ...): Der Konnex mit den Texten von Maurice Chappaz tritt deutlich zu Tage.
Sämtliche Gedichte sind nicht nur als Verständnishilfe zusätzlich in der deutschen Schriftsprache wiedergegeben, bei vielen wurden auch Übersetzungen in verschiedene Sprachen angeführt, was zum einen die sprachlich-kulturelle Vielfalt im Alpenbogen dokumentiert, zum anderen darüber hinaus die internationale Bedeutung der Gedichte unterstreicht. So sind einige Texte von Pierre Garnier, dem bedeutenden Exponenten der spatialen Poesie, ins Französische und Pikardische übersetzt, Giovanni Nadiani übertrug Gedichte ins Italienische und Romagnolo, Lydia Obholzer und Burghild Holzer übersetzten ins Englische, Oswald Andrae ins Plattdeutsche. Beim Gedicht „geplüamte Fenschtrscheibenviirhänge“ ist ein Hinweis auf Übersetzungen in viele weitere Sprachen und Dialekte angegeben.
Den Band runden schließlich unterschiedliche Stimmen zu Hans Haid, dem unermüdlichen Seismographen der touristischen Naturzerstörung und Chronisten des Untergangs des Alpenlandes, ab: Von Felix Mitterer, Peter Turrini, André Weckmann, Kurt Adel, Sebastian Steinbauer und Fred Sinowatz, die alle sehr eindrucksvoll Person und Werk beschreiben. Zwischen diesen Statements findet sich auch eine Farbzeichnung von Dora Czell. Ganz am Schluss des Buches ist der Text des beigelegten Tondokuments abgedruckt: Maurice Chappaz’ Pamphlet „Les maquereaux des cimes blanches“, ins Deutsche übertragen als „Die Zuhälter des ewigen Schnees“, gelesen vom Autor im französischen Original und von Hans Haid in deutscher Übersetzung.
Sehr ansprechend und die Texte auf jeder Seite auch ästhetisch ergänzend ist die Gestaltung des vom Bozner Buchhändler und Lehrer Konrad Egger handgefertigt gebundenen Buches: Vom schneefarbenen Einband über die Faksimile-Elemente auf vielen Seiten, die transparenten Zwischenseiten bis zur Paginierung mit Zahlen aus dem Prägegerät. Dies verleiht dem Band die Charakteristik eines Albums, was noch dadurch bestätigt wird, dass ein Originalfoto von der gemeinsamen Lesung von Maurice Chappaz und Hans Haid eingeklebt ist. Ein Album über die Alpen, das Band 2 der von Gerhard Prantl und Gerlinde Haid begonnenen Pro vita Alpin & Freistaat Burgstein-Reihe schon freudig-gespannt erwarten lässt.

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Christian „Yeti“ Beirer (Hg.), Radiophone Literatopkartierung – Heinz D. Heisl, Kurt Lanthaler, Gerhard Ruiss, Helmuth Schönauer.
Innsbruck: Edition Freirad, 2001, (CD).

Tiroler Literatur in ihren natürlichen Entstehungs- und Lebensräumen, in ihrer konkreten geografischen Umgebung, sozusagen im Offroad-Bereich wirken zu lassen, am Beispiel ausgewählter markanter und geschichtsträchtiger Orte, die somit als exemplarische „literarische Biotope“ präsentiert werden und dadurch den Kataster einer akustischen literarischen Kartografierung Nord-, Ost- und Südtirols abzustecken – das war das Konzept des bildenden Künstlers, Karikaturisten und „Yeti“-Kalendermanns Christian „Yeti“ Beirer für sein Projekt „Radiophone Literatopkartierung“. Für diese literarische Expedition wurde die Wendung „literarisches Biotop“ in das Portmanteauwort „Literatop“ gepackt (ein Wort, das die Internet-Suchmaschinen zuvor nicht kannten) und so ausgerüstet zogen drei Autoren zusammen mit dem literarischen Berg- und Biotopführer und „hohen Inspizienten der Tiroler Literatur“ (CD-Booklet) Helmuth Schönauer aus, um an drei verschiedenen Orten zu lesen: Heinz D. Heisl witterungsbedingt in der Dengelgalerie von Reutte – ursprünglich vorgesehen war die Ruine Ehrenstein, Kurt Lanthaler im ehemaligen Zollamtsgebäude am Brenner und Gerhard Ruiss in der Ausgrabungsstätte Auguntum bei Dölsach/Osttirol. Alle Lesungen wurden vom freien Radio Innsbruck „Freirad“ live im Internet übertragen.
Mit Auszügen aus diesen Aufzeichnungen wurde schließlich eine CD produziert und als Ergänzung wurden auf einer zweiten CD die Ergebnisse der Vermessung der Biotope der Kulturvermittelung zusammengestellt, die die Interviews von Helmuth Schönauer mit Oswald Perktold (Pettneu/St. Anton am Arlberg), Joachim Burger (St. Johann/Tirol), Uwe Ladstädter (Lienz) und Robert Renk (Innsbruck) ergaben. Mit den beiden CDs entstand ein interessantes und amüsantes Hörbuch, dem der spezielle Reiz eines Live-Mitschnitts zukommt.
Passend zum Wetter lässt es Heisl am Ort seiner Kindheit in bewährter „High Density“ zunächst mit „kurze schauer“ tropfen und regnen; der große Rezitator lässt dann seine Lettern- und Wortkaskaden und typografischen Partituren unter anderem aus einigen seiner „psalmen“ auch akustisch steigen, um sie schließlich mit „herrn guadalcanal“ wiederholt als „linienmaschinenflugzeug“ in einem „breiten breiten Tal“, das wie das Außerfern „im nordwesten“ liegt und in dem alle Einfamilienhäuser „in spezifischer riegelbauweise“ einander „wie aufs haar“ gleichen, landen zu lassen, musikalisch adäquat begleitet vom Duo AkkoSax.
Das Ambiente verleiht der Lesung von Kurt Lanthaler eine besondere Note: Das alte Zollhaus am Brenner bietet dem Wort-Grunge Lanthalers einen Resonanzraum, der in seiner dumpfen amtlichen Düsterkeit fast schon als Stilmittel wirkt. Ein paar Schnappschüsse im O-Ton aus der Grenzabfertigung Marke Kurt Lanthaler: „So wie es in jedem Tal einen Carabiniere gibt, als Staatsmacht, muss es in jedem Tal eine Literaturmacht geben. Das ist notwendig zur Kontrolle der ortsansässigen Bevölkerung.“ Und: „Eigentlich sollte jeder Zöllner ein Lyriker sein – Könnense mal die Papiere rausreichen, dafür gibt’s ein Gedicht...“ Er liest dann originellerweise nicht direkt aus seinen Tschenett-Romanen, sondern aus den Glossaren zu diesen, „aus dem Text, der kommt, wenn der Roman zu Ende ist; aus dem Text, der hinter der Grenze steht“, so Lanthaler. Aus „Der Tote im Fels“ den Eintrag zu „cazzo“ (ital. für „Seegurke“ und übertragen für „männliches Glied“ ), dem, wie Lanthaler ausführt, „italienischen Zentralbegriff schlechthin“ und aus „Grobes Foul“ den Eintrag zu „Hesamandl“, gemeindeutsch „Ameisenlöwe“. Bei „Herzsprung“ wird das Publikum eingeladen, die Melodie von „Zu Mantua in Banden“ zu summen, Kurt Lanthaler singt dazu die Textversion der „Freien Deutschen Jugend“. Den Abschluss seiner Lesung bildet ein Gedicht in Griechisch und auf Deutsch: „Und am Ende ist alles nur eine Frage der Blickrichtung, ob man denn kommt oder geht.“
Mit dem Connie Francis-Lied „Schöner fremder Mann“ beginnt Gerhard Ruiss, auch Schlagerkonfliktforscher, als „Leihsüdtiroler“ seine Lesung in Auguntum, die er mit seinen prägnanten und pointierten „Indikationen“ fortsetzt, die, wie Ruiss erklärt, „Anwendungsgedichte“ sind, „Gedichte zum Ausprobieren, an sich und/oder mit anderen“. Zum Beispiel „Aufarbeitung“: „nicht dass ich mich / erinnern / könnte / je etwas / verdrängt zu haben“.
In „Literatop“ steckt auch „top“ für „Spitze“ und CD 1 dokumentiert in diesem Sinne eindrucksvolle literarische Spitzen. Auch CD 2 vermittelt interessante Einblicke in den Kulturbetrieb in „Zentrum“ und „Peripherie“, wobei die sogenannte „Peripherie“ als absolut gleichberechtigt und gleich wichtig herausgestrichen wird.
Die Lesungen können auch in voller Länge auf der Homepage von „Freirad“ (http://www.freirad.at) angehört werden.

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