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Aravind Adiga: Letzter Mann im Turm

Anständiges Haus. Anständige Leute.

978-3-406-62156-7Adiga hatte mit seinem Erstling »Der weiße Tiger« einen weltweiten Erfolg gefeiert, besonders da ihm – völlig zu Recht – der Booker Prize für das Buch verliehen worden war. Adiga hat anschließend in kurzer Zeit zwei weitere Romane vorgelegt, deren zweiter in diesen Tagen auch auf Deutsch erscheint. Eine so rege Produktivität weckt bei mir immer erst einmal den Verdacht, ein Autor (und zumeist auch sein Verleger) wollten mit Gewalt den Tages-Erfolg nutzen, doch »Letzter Mann im Turm« beweist, dass Adiga genug Substanz hat, um auch nach so kurzer Zeit einen guten Roman von mehr als 500 Seiten vorlegen zu können.

Das Zentrum der Erzählung bildet eine Hausgemeinschaft in Mumbai, im südlich vom Internationalen Flughafen gelegenen Stadtteil Vakola, einer Gegend, die halb kleinbürgerliche Wohngegend, halb Slum ist. Vakola ist aber zugleich jenes Viertel, in dem sich die expandierende Baubranche ausbreitet: Hier werden zahlreiche Wohnanlagen mit teuren Luxuswohnungen errichtet, denen die alte Besiedlung weichen muss. So soll es auch der Wohngemeinschaft in den beiden Türmen der Vishram Society ergehen. Turm A, um den es im Buch hauptsächlich geht, wurde bereits Ende der 50er Jahre errichtet und beginnt schon, leicht marode zu werden. Doch seine Wohnungs-Eigentümer bildet eine funktionierende und zufriedene Gemeinschaft mit jahrelangen Bekannt- und Freundschaften und festen Ritualen. All dies ändert sich, als der Bauunternehmer Dharmen Shah den Plan entwirft, sein unternehmerisches Lebenswerk durch den Bau einer Wohnanlage genau auf dem Gelände der Vishram Society zu krönen. Er macht daher den Bewohnern ein Angebot, dass diese kaum ausschlagen können: Er ist bereit, ihnen für ihre Wohnungen etwa das Doppelte des Marktwertes zu zahlen, was pro Wohneinheit einem Betrag von ungefähr 236.000 € entspräche, was circa das 400-Fache des durchschnittlichen indischen Jahreseinkommens darstellt.

Wie immer in solchen Fällen sind die Meinungen zuerst geteilt. Allerdings lassen sich bald zwei, dann ein weiterer der vier Gegner des Verkaufs überzeugen. Letzter Mann im Turm  bleibt aber Yogesh Murthy, genannt Masterji, ein pensionierter Physik-Lehrer, der nach dem kürzlichen Tod seiner Frau allein in seiner Wohnung lebt. Natürlich kommt es, wie es kommen muss: Der Bauunternehmer hat sein Angebot mit einem Ultimatum versehen, und je näher dieser Termin rückt, desto größer wird der Druck der Mitbewohner auf Masterji. Er durchläuft alle Grade von der geachtetsten zur geächtetsten Person im Haus. Und Adiga scheut auch nicht vor der letzten Konsequenz dieser Fabel zurück.

Das Buch braucht recht lange bis es bei seinem Thema angekommen ist. Danach bleibt – eventuell mit Ausnahme des Endes – alles im Rahmen des Normalen, Voraussehbaren, Erwartbaren. Und gerade darum scheint es Adiga zu gehen: Wie selbstverständlich ganz normale Menschen, die viele Jahren gut und solidarisch miteinander gelebt haben, all das vergessen und beginnen, einem, der nicht ihrem Willen folgt, ihre Entscheidung aufzuzwingen. Es ist genau diese Normalität, ja Banalität des Bösen, die schrittweise Entwicklung von anständigen Menschen hin zur Bereitschaft, einem eigentlich geschätzten, ja fast verehrten Mitbürger das Schlimmste nicht nur zu wünschen, sondern auch anzutun, um die es in diesem Buch geht. Es bedarf gar keines dämonischen Antreibers, um die ärgsten Verbrechen geschehen zu lassen, es bedarf nur eines gerüttelten Maßes an Eigeninteresse, um alle bürgerlichen und endlich auch mitmenschlichen Grenzen zu überschreiten. Und das alles lässt Adiga in der unmittelbaren Gegenwart und der handfestesten Realität Indiens spielen. Es ist daher alles andere als zufällig, dass der Roman immer wieder en passant auf die Welt der Bollywood-Filme als illusionärer Gegenwelt hinweist.

In diesem Sinne ist »Letzter Mann im Turm« eine konsequente Fortsetzung von »Der weiße Tiger«. Adiga zeigt einmal mehr die Gnadenlosigkeit und Grausamkeit der Wirklichkeit einer kapitalistisch bürgerlich verfassten Gesellschaft – nicht nur Indiens – auf. Dass er es mit solch einer erzählerischen Gelassenheit und scheinbaren Harmlosigkeit tun kann, macht seine Qualität aus.

Aravind Adiga: Letzter Mann im Turm. Aus dem Englischen von Susann Urban und Ilija Trojanow. München: C. H. Beck, 2011. Pappband, bedruckter Vorsatz, 515 Seiten. 19,95 €.

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Aravind Adiga: The White Tiger

adiga_tiger Bemerkenswerter Erstling eines jungen indischen Autors, auf den ersten Blick eine Kombination aus Schelmenroman und monologischem Briefroman. Beim Ich-Erzähler bzw. Verfasser der »Briefe«, die vorgeblich als E-Mails daherkommen, handelt es sich um Balram Halwai, Sohn eines Rikscha-Wallahs aus der indischen Provinz, der nun als erfolgreicher Unternehmer in Bangalore lebt. Seine E-Mails sind an den chinesischen Premierminister Wen Jiabao gerichtet, dessen Staatsbesuch in Indien unmittelbar bevorsteht. Ziel der E-Mails sei, dem Premier das Wesen freien Unternehmertums zu erklären, über das dieser sich angeblich in Bangalore unterrichten will.

Balram, der unter falschen Namen lebt, weil er wegen Mordes gesucht wird, präsentiert sich als ein Muster eines neuen indischen Unternehmertums. Seine Karriere beginnt, als es ihn aus seinem Dorf nach Delhi verschlägt, wo er zufällig eine Stelle als Fahrer im Haushalt eines seiner ehemaligen Grundherrn erhält. Er wird schließlich Fahrer des westlich beeinflussten, liberalen Sohnes der Familie, den er eines Tages ermordet, um mit 700.000 Rupien, die als Bestechungsgeld für die Regierung vorgesehen waren, nach Bangalore zu fliehen. Balram eröffnet dort ein Taxiunternehmen, besticht die örtliche Polizei, um sich einige Konkurrenten vom Hals zu schaffen, und etabliert sich als zwar korrupter, doch zugleich »moralischer« Mittelständler.

Die überraschende, aber überzeugende Erzählstrategie des Buches, seinen inzwischen zynischen Protagonisten sein Leben und seine private »soziale Revolution«, d. h. den Mord an seinem Brotherrn, in der Ich-Form erzählen zu lassen, erzeugt eine reizvolle ironische Distanz zwischen erzählendem und erzähltem Ich. Und dass das Buch von seinen humoristischen und pittoresken Anfängen ausgehend am Ende bei einem tief schwarzen und pessimistischen Bild des heutigen Indien ankommt und aus seinem armseligen, naiven Narren einen »modernen« Geschäftsmann mit der Moral eines Mafiapaten macht, der den Tod zahlreicher Familienmitglieder als Folge seiner »Karriere« billigend in Kauf nimmt, ist eine überzeugende und nur konsequente Schlusspointe. Ein Schriftsteller geringeren Rangs  wäre hier in die Harmlosigkeiten eines letztlich unverbindlichen Humors ausgewichen – sapienti sat.

Ein mutiger Erstling eines Autors, den man nicht aus den Augen verlieren sollte. Das Buch hat in diesem Jahr den renommierten und verlässlichen Booker Prize gewonnen. Eine deutsche Übersetzung von Ingo Herzke ist gerade bei C. H. Beck in München erschienen.

Aravind Adiga: The White Tiger. New York u. a.: Free Press, 2008. Pappband, Fadenheftung, Buchblock mit Büttenkante vorn, 276 Seiten.  Ca. 15,– €.

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