Archivseite für Wolf von Niebelschütz

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3½ Jahre braucht der Autor, um das Buch zu schreiben, 3½ Monate der Verleger, es herauszubringen, 3½ Tage der Re­zen­sent, es zu lesen (wenn ers liest!), 3½ Stunden, es zu besprechen (wenn er sich Mühe gibt), 3½ Minuten der Leser, um die Re­zen­sion aufzunehmen, 3½ Sekunden, sie wieder zu vergessen.

Wolf von Niebelschütz

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Dominik Riedo: Wolf von Niebelschütz

Riedo-NiebelschützWolf von Niebelschütz ist, wie bereits an anderer Stelle gesagt, einer der bemerkenswerten Autoren der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur: Ei­ner­seits von einer kleinen, aber stetig wachsenden Guppe von Lesern geschätzt, andererseits beinahe nie aus dem Schatten eines Geheimtipp-Daseins herausgetreten, dennoch mit seinen beiden Ro­ma­nen beinahe ununterbrochen lieferbar (sein Biograph Dominik Riedo schätzt die Gesamtauflage der beiden Bücher auf immerhin je 100.000 Exemplare) führt er eine jener langlebigen Randexistenzen der Li­te­ra­tur, die zeigen, dass der Literaturbetrieb doch noch nicht gänzlich auf das Geschäft der Controller heruntergekommen ist. Oder, um es mit einem anderen, wenn auch inzwischen deutlich bekannteren Au­ßen­sei­ter der deutschsprachigen Literatur zu sagen:

Und die eigentlichen ›Pfade‹ in der Literatur sind die Sackgassen, (auch die der Büchersucher und =finder)

Dominik Riedo hat nun im vergangenen Jahr die erste umfassende Biographie über Wolf von Niebelschütz herausgebracht. Das Buch zeugt mit seinen über 900 großformatigen Seiten nicht nur vom Fleiß des Autors, sondern vermittelt ein tatsächlich so vollständiges Bild von Leben und Werk, wie es sich derzeit erstellen lässt. Niebelschütz war zwar adeliger Herkunft, wuchs aber in bürgerlichen Verhältnissen auf, besuchte Schulpforta, begann anschließend in Wien Geschichte zu stu­die­ren, brach das Studium aber schon bald ab und wurde Journalist in Magdeburg bei jener Zeitung, für die auch sein Vater arbeitet. Neben der journalistischen Arbeit schrieb er Gedichte. Vom aufkommenden Nationalsozialismus hält er sich fern, wenn es auch wohl übertrieben wäre, ihn einen Gegner zu nennen (Riedo verschweigt dabei durchaus nicht die antisemitischen Tendenzen, denen Niebelschütz in dieser Zeit anhängt). Dann wird er zur Wehrmacht eingezogen, wobei er dazu neigt, das Soldatentum einerseits in Gedichten heldisch zu überhöhen, andererseits aber persönlich ziemlich unerträglich zu finden.

Noch während des Krieges beginnt Niebelschütz, angeregt durch die Lektüre eines Hofmannthal-Fragments, mit der Arbeit an seinem ersten großen Roman – zwei Romanversuche zuvor sind nicht zur Druckreife gelangt –, einem im 18. Jahrhundert im fiktiven Mit­tel­meer­in­sel­reich Myrrha spielenden Haupt- und Staatsroman, der nicht nur das Zeitalter des Barock mit seinen Umgangsformen und seinem Lebensgefühl feiert, sondern sich zugleich auch über genau diese Fas­zi­na­tion lustig zu machen versteht. „Der blaue Kammerherr“ erschien 1949 im jungen Suhrkamp Verlag, und es sah zuerst nach dem von Autor und Verleger erhofften Erfolg aus. Doch nach anfangs guten Verkäufen ließ das Interesse rasch und deutlich nach, so dass sich Niebelschütz in den Folgejahren als Vortragsredner und Auftragsautor für die deutsche Industrie verdingen musste. So erschien erst zehn Jahre nach seinem Debüt sein zweiter Roman „Die Kinder der Finsternis“, dem beim Publikum ein nahezu identisches Schicksal beschieden war. Dennoch sind beide Romane nie vollständig vom Buchmarkt verschwunden, und mit den Jahren ist Niebelschütz langsam zu dem Status eines wohlbekannten Geheimtipps gekommen, ein Schicksal, dass er zum Beispiel mit Albert Vigoleis Thelen teilt, was zeigen mag, dass es sich um kein so ganz einmaliges Phänomen in der deutschen Nachkriegsliteratur handelt.

Dominik Riedos Biographie ist eine wissenschaftlich orientierte Gesamtdarstellung, die nicht nur Leben und Werk, sondern auch die Rezeption besonders der beiden Romane umfassend würdigt, sowohl was das Feuilleton als auch was die germanistische Forschung angeht. Da das Buch übersichtlich und der Sache nach klar gegliedert ist, erlaubt es aber auch eine eher biographisch als li­te­ra­tur­wis­sen­­schaft­lich gewichtete Lektüre. Überhaupt muss man Riedo einen sprachlich stets klaren und nahezu immer beispielhaft objektiven Zugriff auf die dargestellte Sache bescheinigen; nur einige wenige im Ton schwär­me­ri­sche Stellen lassen hier und da den Fan durchschimmern.

Zu wünschen wäre eine von diesem Buch ausgehende, kürzere und preiswertere, an ein breiteres Publikum gerichtete Biographie Wolf von Niebelschütz’, die vielleicht eine Chance böte, diesen sprachlich ori­gi­nel­len und inhaltlich spannenden Autor, der sich dem Strom der zeit­ge­nös­si­schen Literatur nur wenig angepasst hat, einer noch größeren Leserschaft bekannt zu machen. Man darf jedenfalls gespannt sein, ob und wie sich die Wahrnehmung von Autor und Werk durch Riedos Biographie verändern wird.

Dominik Riedo: Wolf von Niebelschütz. Leben und Werk. Eine Biographie. Bern u.a.: Peter Lang, 2013. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 919 Seiten. 133,80 €.

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Zum 100. Geburtstag von Wolf von Niebelschütz

Ja, wir sind blind und wütig und wollen es sein. Jegliches qualitative Plus wird geleugnet, erniedrigt, mit politischem Schmutz begossen, in Kot getrampelt – weiß der Himmel, wofür! Und dieses pervertierte Bewußtsein der Minderleistung erfüllt uns auch vor der Convention. O bitte, nicht gleich gescheut und gekeilt! immer artig zugehört. Was bedeutet sie denn, die Convention? Gar nichts als den Rahmen! der für sich keinen Zweck hat, wohl aber des Gemäldes Pracht vor dem Verfließen bewahrt. Wie traurig stünde es um denjenigen, der, weil die Zeiten roh wurden, die Fähigkeit nicht mehr besitzt, hinter gekühlten Umgangs-Formen das pulsend Private warm zu spüren, sondern intolerant ein Geschöpf verwirft, nur weil es anders ist als er selber. Es gibt solche Leser, ihnen ist nicht zu helfen. Wild entschlossen den Autor wie seine Prinzessin für gestelzt, hoffärtig, herz- und gemütlos erklärend, werden sie eine Vergangenheit niemals begreifen, die sehr sparsam war mit Gefühls-Ergüssen; die es ablehnte, dauernd von Seele zu reden; die im traulichen Du keine unbedingte Erfordernis sah, dem Gesprächs-Partner weder auf die Brust rückte noch ins Maul kroch, das viele Klagen entbehrlich fand, Schmalz und Limonade nur in geringster Dosis goûtierte und Banalitäten nun einmal nicht mochte; die das Leben einem gewissen Schliff unterzog, ihm einen Halt gab, ein Règlement, ein Niveau, ja, die es erleichterte statt complicierte, eben weil klare Verbindlichkeiten über Erlaubtes und nicht Erlaubtes, über Ton und Mißton, gesellschaftlich Mögliches und Unmögliches herrschten; und die es, aus reicher Kenntnis, für schädlich hielt, das Herz auf der Zunge zu tragen – wohin es zweifellos nicht gehört.

Der Blaue Kammerherr

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Wolf von Niebelschütz (1913–1960)

kammerherrWolf von Niebelschütz ist immer noch einer der Geheimtipps der deutschen Nachkriegsliteratur. Er hat zwei umfangreiche Romane geschrieben, die beide seit ihrem Erscheinen mehr oder weniger kontinuierliche lieferbar waren, also seit vielen Jahrzehnten sich langsam aber sicher eine immer noch wachsende Menge von Lesern erobern konnten. Solche Slowseller leben von der Mund-zu-Mund- Propaganda, von Lesern, die sich Buchempfehlungen wie Geschenke überreichen. Allerdings fehlt bis heute eine umfangreichere biographische Darstellung zu Wolf von Niebelschütz oder sonst eine umgangreichere akademische Belästigung des Autors. Also: Paradiesische Zustände für Leser!

Wolf von Niebelschütz wurde am 24. Januar 1913 in Berlin geboren. Er entstammt einer schlesisch-böhmischen Adelsfamilie und wuchs in Magdeburg auf, da sein Vater dort nach dem Ersten Weltkrieg eine journalistische Tätigkeit ausübte. Er war das dritte von sechs Kindern und verlebte offensichtlich eine weitgehend glückliche Kindheit in der Zeit zwischen den Kriegen. Er interessierte sich früh für Literatur und Musik, lernte zeichnen und war ein hervorragender Schüler.

1927 wechselte Wolf von Niebelschütz auf das Internat von Schulpforta – in dem auch Friedrich Nietzsche seine Schulbildung erhalten hatte –, wo er sich mit den gehobenen Ansprüchen einer Eliteschule konfrontiert sah, die ihm zuerst durchaus Schwierigkeiten bereiteten. Dennoch bestand er dort 1932 das Abitur und begann ein Studium der Geschichte und Kunstgeschichte (auch sein Vater war Kunsthistoriker) in Wien.

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