Louis Malle

Mit 21 Jahren wünschte sich Volker Schlöndorff nichts sehnlicher, als so zu sein wie er – wie Louis Malle. Noch heute, nach dem Tod des französischen Regisseurs, sieht Schlöndorff in ihm ein unerreichbares Vorbild. Louis Malle gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Nouvelle Vague. Bei den Malle-Filmen PRIVATLEBEN, DAS IRRLICHT und VIVA MARIA war Schlöndorff Regieassistent. Gemeinsam reisten sie nach Indochina, nach Mexiko und Afrika, nannten sichPetit Louis“ und „Vovolk“.

Das Frühjahr 1960 war das Jahr der Nouvelle Vague: Claude Chabrol führte seinen ersten Film LE BEAU SERGE in der Aula der Sorbonne vor, Louis Malles FAHRSTUHL ZUM SCHAFOTT lief im Kino, Jean-Luc Godard drehte einen Kurzfilm mit Jean-Paul Belmondo. In den Straßen von Paris wurde der Film neu erfunden. Es war Zeit, den Verliesen der Cinémathèque und ihren Vampiren zu entfliehen, mich der Gegenwart zu stellen, mich auf die Suche zu machen nach dem ›wahren Leben‹, das draußen vor der Tür doch irgendwo sein musste. Ein Zufall kam mir zu Hilfe.

Gleich nach meinem Prix de Philosophie hatte sich bei den Taverniers ein alter Freund gemeldet. Der Schriftsteller Roger Nimier hatte vor zehn Jahren denselben Preis gewonnen. Als Wunderkind gefeiert, hatte er mehrere Romane geschrieben, zynisch, frech, nihilistisch und, um die französische Bourgeoisie zu schockieren, mit einer provozierenden Verherrlichung alles Deutschen. Außerdem, und hier wurde ich aufmerksam, hatte er mit Louis Malle das Drehbuch von FAHRSTUHL ZUM SCHAFOTT geschrieben.

Über ihn bot sich mir ein schnellerer Weg zum Film. Aus der Presse wusste ich, dass Louis Malle einen neuen Film vorbereitete. Roger Nimier arbeitete diesmal zwar nicht mit, aber er schrieb mir zwei Zeilen auf eine Visitenkarte, die sollte ich dem siebenundzwanzigjährigen Regisseur überbringen.

Seine Produktion residierte auf den Champs Elysées, den Eleusischen Feldern. Nach langem Warten wurde ich endlich vorgelassen. Ich betrat ein Großraumbüro, das aussah wie ein Polizeikommissariat in einem Film mit Jean-Gabin. Zigarettenqualm, Papiere und Akten kreuz und quer auf Tischen gestapelt, Stadtpläne und Fotos an den Wänden, Kommen und Gehen von Mitarbeitern, die alle sehr jung und elegant waren in ihren grauen Flanellanzügen, mit geknöpften Hemdkragen und College-Krawatten, very british, ziemlich versnobt. Meine Uniform aus dem Quartier Latin, Jeans und schwarzer Rolli, war hier wohl keine Empfehlung.

Louis Malle saß, womöglich noch eleganter als der Rest seines Teams, allerdings ohne Jacke, dafür mit breiten roten Hosenträgern, hinter einem der Tische und betrachtete ratlos die Visitenkarte, auf der geschrieben stand: „Mein lieber Louis, der Umgang mit einem deutschen Philosophen könnte Dir nicht schaden. Dein Roger.“

Es folgte ein schneller, unwirscher Wortwechsel: Was ich denn wolle? Zum Film. Er habe schon zwei Assistenten und drei Volontäre. Ob ich nicht mal ins Atelier… zuschauen… Hilfsarbeiten jeder Art… Ich wusste, ich hatte keine Chance, es war aber eine einmalige Chance, nur nicht plump insistieren, schlau sein, hieß es jetzt. Um mich loszuwerden, schickte Malle mich zu einem Assistenten. Philippe Collin musterte mich hochmütig, aber auf eine so ausgesucht höfliche Art und Weise, dass ihm eine schroffe Ablehnung einfach nicht gelang. Er verriet mir Ort und Zeit des Drehbeginns. Es war im Studio Joinville, am folgenden Montag, dem 3. März 1960, dem Tag, an dem ein paar der dauerhaftesten Freundschaften meines Lebens beginnen sollten.

Auf der herrlichen offenen Plattform eines Pariser Stadtbusses fuhr ich hinaus an die Ufer der Marne. Das Studio Joinville lag unmittelbar am Fluss, an dem es aber keine guingettes, Tanzböden im Freien, mehr gab, nur noch Industriebauten und Sozialbauwohnungen. In einer der Studiohallen drehte, unter strenger Bewachung und Zutrittsverbot, Georges Clouzot DIE WAHRHEIT mit Brigitte Bardot und Jean Gabin. An einer anderen Halle hing ein Zettel: „ZAZIE“. Das Tor war offen, eine Göre lief rein. Ich ging ihr nach. Louis Malle fing die Kleine ab, stülpte ihr seine schottisch karierte Mütze über und trug sie auf den Schultern an den Set. Ich weiß nicht, wie ich die Unbekümmertheit, die Leichtigkeit, den Charme, die Frechheit und den Ernst beschreiben soll, die in diesem Studio herrschten.

Vorlage war der gerade erschienene Roman ZAZIE DANS LE MÈTRO von Raymond Queneau. Alle literarischen Traditionen und Stilarten wurden darin persifliert, parodiert und ad absurdum geführt. Zusammengehalten wurde das Ganze von einer 13-jährigen Göre, Zazie, die mit unübersetzbarem Wortwitz die Sprache der großen Klassiker verhohnepiepelte.

Zazie ist das Gegenteil aller niedlichen Mädchen: Rotzfrech, anarchisch und respektlos, besucht sie für ein paar Tage ihren Onkel Gabriel in Paris. Ihr Traum ist es, einmal Metro zu fahren. Die U-Bahn ist aber im Streik. Überhaupt funktioniert nichts in dieser Gesellschaft, in der Welt der Erwachsenen. Männer verkleiden sich als Frauen, Frauen verlieben sich in Frauen, Polizisten sind Kinderschänder, Liebende quälen sich, Touristen sind obszöne Voyeure, Gewerkschaftler legen den Verkehr lahm, Architekten zerstören das Stadtbild, die faschistische Miliz CRS wartet auf den Tag der Rache, der da kommen wird. Zazie wundert sich über gar nichts und stiftet alle gegen alle an.

Es war das Buch des Jahres, von dem die Taverniers beim sonntäglichen Mittagessen schon geschwärmt hatten, nur war man sich einig, dass es unverfilmbar sei. Mit Jean-Paul Rappeneau hatte Malle ein brillantes Drehbuch geschrieben, das vom Slapstick und den frühen Mac-Sennett-Komödien über Laurel und Hardy, Méliès’ Phantasiewelten, den film noir bis zu anspruchsvollen Literaturverfilmungen, französischen Melodramen, Problemfilmen und Sexkomödien so ziemlich alle Genres und Filmtechniken persiflierte. Truffaut schrieb Malle nach der Premiere einen regelrechten Fanbrief, wohl den einzigen überhaupt, denn die beiden gehörten zwei sehr rivalisierenden Lagern an:
„Mein lieber Louis, ZAZIE hat mich verblüfft; es ist ein wahnsinnig ehrgeiziger und ungeheuer mutiger Film. Ich hätte bestimmt mehr und häufiger gelacht, aber oft haben mich die technischen Tricks, die Nahaufnahmen vor bewegtem Hintergrund usw. einfach überwältigt… Selten habe ich dem Film eines Kollegen so sehr Erfolg gewünscht wie diesem!… Dein François.“

Als ich ins Studio kam, am 3. März 1960, war der erste Drehtag. Erst sechzehn oder achtzehn Wochen später fiel nach Überziehungen aller Art die letzte Klappe. Von dem Anfangsteam war nur ein kleiner Kern übrig, darunter ich. Schon am ersten Tag hatte ich mich dem Requisiteur angeschlossen, Dédé Davallon, eine Art Mädchen für alles, der für eine Fressszene mit Philippe Noiret Unmengen von Spargel kochen musste, gleichzeitig sollte er Regentropfen an den Fenstern herabrieseln und die Dekoration des kleinen Bistros mit Zigarettenqualm einnebeln lassen. Zuständig war er auch für den sprechenden Papagei, der von einem Scheinwerferstativ zur Registrierkasse hin und her hüpfte. Gut gelaunt besorgte Dédé alles. Wieder und wieder probte Dédé in der Kulisse mit dem Federvieh den immer gleichen Satz: „Du quasselst, du quasselst, sonst kannste nix.“

Nur verweigerte sich der ansonsten gut dressierte Papagei immer dann, wenn die Kamera lief. Die Uhr lief mit, aber alles Vorsprechen, Zureden, Schimpfen und Mit-Stöckchen-Schlagen war umsonst. Erst als der zermürbte Regisseur „Cut! Danke, das genügt“ sagte, antwortete der Papagei prompt: „Du quasselst, du quasselst, sonst kannste nix.“ Ich soll damals die rettende Idee gehabt haben, dem Papagei etwas Senf auf den Schnabel zu schmieren. Mit behender Zunge leckte er das Zeug ab, dabei so mit dem Mundwerk klappernd, dass man jeden Text darauf synchronisieren konnte.

Wie dem auch sei, ich machte mich nützlich, hielt mich aber im Hintergrund, denn eigentlich hatte ich ja nur die Genehmigung, einen Tag zuzuschauen. Ohne besonders aufzufallen, fand ich mich auch am zweiten und dann jeden weiteren Morgen ein, fragte nie nach einem Vertrag oder einem Essenscoupon. Ich hatte ja mein Auskommen durch das Stipendium. Lohndumping hätten die anderen Praktikanten das zu Recht nennen können.

Louis’ Ankunft am Set glich einer Show, einem Auftritt. Seine Laune konnte man an seinem Tempo ablesen, an seinem Schal, seiner Mütze, dem Wagen, den er gerade fuhr, und an dem Winkel, in dem er seine Schulter nach vorne beugte. Einen dieser Auftritte werde ich niemals vergessen. Louis kam mit seiner Dauphine unter dem Eiffelturm an, fuhr eine Achterschleife, bremste schlitternd auf dem Kies, sprang grinsend aus dem Auto, trug seine Mütze verkehrt herum wie ein Stummfilmkameramann, rieb sich die Hände und rief uns zu: „Fangen wir an!“ Genau in diesem Moment setzte ein roter Sprühregen ein. Louis begriff als Erster, dass irgendwo über uns ein Selbstmörder in die 300 Meter hohe Eisenkonstruktion gesprungen sein musste, und sagte: „Das fängt ja gut an“ Er wechselte von belustigtem Erstaunen zu einer gewissen Pietät, ließ unser Equipment fortschaffen und den rötlich gefärbten Kies mit Stricken als ›Grabmal des unbekannten Selbstmörders‹ absperren.

Ich stand einfach da und starrte ihn an. Er war 27, ich 21 und glaubte, soeben den charmantesten, erfolgreichsten, unerträglichsten, vollkommensten Menschen erlebt zu haben, und wünschte mir nichts sehnlicher, als so zu sein wie er. Ich wusste natürlich, dass ich das nie schaffen würde, aber ich versuchte es dennoch sein Leben lang – und eigentlich heute noch.

Einerseits war ihm aufgrund seines Charmes so ziemlich alles erlaubt, andererseits verbot es ihm die anerzogene Zurückhaltung, jemals die Grenze der Schamlosigkeit zu überschreiten. In einem seiner wenigen Briefe aus Indien schrieb er mir, wie er sich täglich dazu zwingen müsse, die Kamera auf Menschen zu halten, denen das wie eine Vergewaltigung vorkommen musste. Er zwinge sich, einzudringen in das Leben anderer, wie in einen Rohstoff, um Material zu sammeln, auch wenn das Eindringen das Unmittelbare zerstöre. Zwischen solche Betrachtungen flocht er die Bitte, ihn bei einer Exfreundin, es war Barbara Steele, für einen besonders brutalen Brief zu entschuldigen, den er ihr an einem Abend voller Wut und in Rage geschrieben habe. Diese Bitte, verklausuliert in einem Nebensatz über indische Mythologie, war so ungefähr das Privateste, was er mir in 20 oder 30 Jahren Freundschaft mitgeteilt hat – und zweifellos der eigentliche Grund des Briefes.

Wochen, Monate, Jahre und Jahrzehnte haben wir zusammen gearbeitet, sind rund um die Welt gereist, nach Griechenland, nach Indochina, nach Mexiko, nach Afrika, ohne dass er ein einziges Mal über sein Privatleben gesprochen hätte. Wieder und wieder ließ er sich auf extreme Beziehungen zu starken, unkonventionellen Frauen ein – deren Erste natürlich Jeanne Moreau war –, um dann im letzten Moment zu brechen und sich mit einem bürgerlicheren Frauentyp einzurichten. Auf Zeit. Denn der nächste Ausbruch ließ nicht lange auf sich warten.

Wie wir alle war er auf der Suche nach dem Glück, und was er, aufgrund seiner Privilegien, früher als wir herausfand, war dessen Unmöglichkeit. Seine großen Vorbilder waren Jean Renoir und Luis Buñuel. Als Mensch aber war er Antonioni am nächsten. Er nannte Michelangelo den Inbegriff des Filmemachers, „er ließ es niemals zu, dass seine Filme zur Ware verkamen, und er arbeitete nur auf Basis seines eigenen Materials, dessen, was seine Obsessionen ihm erschlossen, seine Phantasien, sein Begehren, sein Schmerz und natürlich sein Wissen um die Unmöglichkeit des Glücks“. Als er das in Berlin über Michelangelo Antonioni sagte, wusste ich, dass Louis von sich selbst sprach.

Anders als Antonioni hat er selten ›eigenes‹ Material verarbeitet, dennoch betrachtete er alle seine Filme als ein Gesamtwerk, für das er große Verantwortung empfand. Seine Wahl war immer überlegt, wiewohl qualvoll. Er verwarf zwei oder drei Projekte, bis er sich schließlich für eines entschied, oft das Unerwartetste. Da er unterhalten wollte, versuchte er schon das Genre zu einer Überraschung zu machen. Es war, als sagte er zum Publikum: „Sie mochten den Thriller FAHRSTUHL ZUM SCHAFOTT, wie wäre es mit den gewagten LIEBENDEN? Ihnen gefiel diese romantische Liebesgeschichte, wie wäre es mit der anarchistischen ZAZIE oder dem albernen PRIVATLEBEN oder einem tödlich ernsten IRRLICHT?“ Ich könnte hinzufügen: Gefolgt von der Komödie VIVA MARIA. Wonach er für ein Jahr in Indien verschwand und mit einem achtstündigen Dokumentarfilm zurückkam.

Unbeständig? Nicht wirklich. Er war bei all diesen Projekten immer er selbst. Sein Charme und seine Leidenschaft waren die gleichen, ob er mit Zazie den Eiffelturm hochkletterte, in Algerien folternde Soldaten befragte, die Masseusen in Bangkok filmte oder die fröhliche Anarchie von Brigitte Bardot und Jeanne Moreau in Mexiko inszenierte. Auf diese oder jene Weise versuchte er dem Leben beizukommen, das ihm doch wie ein Irrlicht entglitt.

Seine Art zu leben und zu inszenieren waren eins, er wollte verführen, geliebt werden, vom Publikum wie von seinen Freunden, seinen Frauen und seinem Team. Ob Bühnenarbeiter oder Beleuchter, Ton- oder Kameramann, Garderobier oder Maskenbildner, die Assistenten und die Produzenten, die Stars und die Kleindarsteller, alle beobachten den Regisseur. Was hat er vor? Sollten seine Filme das Publikum verführen, so begann Louis damit, zunächst sein Team zu verführen. Andere Regisseure tun das auch, aber bei jedem ist es verschieden: Die einen treten autoritär auf, wie Melville, der keine größere Lust kannte als die an endlosen Machtspielen.

Louis Malle dagegen war einer von uns, nur begnadeter. Ihm schien alles zuzufallen. Er war für uns ein Vorbild, aber, obwohl er alles zu wissen schien, nie ein Lehrmeister. Ich betrachte ein großes Foto von ihm auf einem Plakat des Festivals von Cannes zur Zeit, als er Jury-Präsident war. „Es ist nicht einfach“, scheint dieser Blick noch heute, mehrere Jahre nach seinem Tod, zu sagen. Ein Blick, sehr ähnlich dem des sehr viel älteren, aber mit ähnlichem Charme gesegneten Billy Wilder. Wie komplex Louis’ Charakter war, habe ich bei ZAZIE noch nicht erkannt. Ich war blind wie ein Verliebter, gleichzeitig war er mir fremd. So war es mir nur recht, ihn mit Monsieur anzureden und Distanz zu halten. Erst Jahre später gingen wir über zu den Vornamen, wie alle nannte auch ich ihn zärtlich Petit Louis, er mich Vovolk, aber wir siezten uns immer noch mit dem französischen vous, wie es ja auch meine Klassenkameraden noch mit ihren Eltern taten. Ansonsten ging es sehr kameradschaftlich zu in dem Team. Selten dürfte ein Anfänger so viele Möglichkeiten des Films auf einmal erfahren haben und sicher keiner je mit so viel spielerischer Freude. Am letzten Tag waren von dem ursprünglichen Team nur fünf oder sechs übrig geblieben. Wir umarmten uns ohne Abschlussfeier und Zeremoniell, aber wir wussten, wir würden uns wiedersehen.

Wenn das Sein das Bewusstsein bestimmt, so bestimmt die Herkunft den Umgang mit Geld. Melvilles minimalistischer Stil entstand aus Notwendigkeit, nicht aus Geiz – und schon gar nicht aus ästhetischem Apriori. Louis Malle dagegen war, wie es im Englischen heißt, „mit einem Silberlöffel im Mund geboren“ – seine Familie besaß praktisch das Zuckermonopol in Frankreich –, auf Geld kam es ihm nicht an. Statt wie Melville bedruckte Folien auf den Studioboden zu kleben, ließ er Fußböden aus echtem Marmor verlegen. Es stimmt, auch wenn man das nicht sah, spürte man es doch. Brigitte Bardot ging einfach anders. Es klang auch anders. Und natürlich spiegelte sich das Licht anders. In PRIVATLEBEN zum Beispiel spürt man sofort, dass BB in einem reichen Haus aufwächst. Von den Tischtüchern, dem Geschirr und den Speisen bei den Essensszenen, die in keinem Louis-Malle-Film fehlen, geht etwas anderes aus als von dem kargen Imbiss bei Melville. Hier saß die Bourgeoisie bei Tisch, und es war kein rausgeschmissenes Geld, ihre Rituale kostspielig zu inszenieren.

Es war vielleicht auch das Verhältnis zum Geld, das meine beiden Meister so verschiedene Sujets auswählen ließ. Als ich Louis einmal fragte, warum er keinen film noir wie Melville mache, lachte er: „Soll ich etwa Filme machen über Leute, die – wie die meisten französischen Gangster und Polizisten – aus Korsika kommen?“ Melville dagegen empörte sich über Malles verschwenderische Ausstattung und lange Drehzeiten. Immerhin akzeptierte er ihn als Profi, während er den Rest der jungen Regisseure sarkastisch Dilettanten schimpfte – obwohl sie sich doch auf ihn als den Vater der Nouvelle Vague beriefen.

Nach dem kommerziellen Fiasko von ZAZIE beschloss Louis Malle, seinen guten Namen zu Geld zu machen oder – wie er es ausdrückte – „als Söldner zu arbeiten“. Es war eines der wenigen Male, dass er als angestellter Regisseur für eine andere Firma arbeitete. PRIVATLEBEN war ein Starvehikel für Brigitte Bardot, Marcello Mastroianni und eben Louis Malle. Geld schien unbegrenzt zur Verfügung zu stehen. Die Drehzeit war ein Spaß, das Ergebnis eher sinnlos, obwohl auch das Privatleben eines Stars wie Brigitte Bardot Stoff für ein Melodram à la Douglas Sirk geboten hätte.

BB provozierte nicht durch ihr Aussehen, sondern durch ihre Haltung. Zehn Jahre vor der Kommune 1 praktizierte sie die freie Liebe mit häufig wechselnden Partnern, die mal Schauspieler oder Sänger, mal Chauffeure oder Bodyguards waren. So hautnah wollte sich Louis Malle nicht auf sie einlassen und begnügte sich mit einem unverbindlichen Hochglanzporträt. Er fürchtete, wie immer, didaktisch zu werden, einen Film mit eindeutiger Aussage zu drehen. Bestenfalls wollte er sie mit einer Hommage feiern, noch dazu einer sehr keuschen, gerade weil man vom Regisseur der LIEBENDEN etwas Gewagtes erwartete.

Louis Malle war umgeben von Freunden und Mitarbeitern, die allmählich eine wirkliche Gemeinschaft bildeten. Wir alle stellten hohe Ansprüche an uns wie an unseren Meister, immer mit Blick auf die Filmgeschichte, unausgesprochen uns messend an den anderen Konkurrenten Truffaut, Godard und Chabrol. Der offensichtlich mangelnde Ehrgeiz des neuen Projekts provozierte Unmut im Gefolge der Getreuen, die bei abendlichen Gelagen ihr künstlerisches Gewissen mit viel Chianti und lautem Singen der trivialsten Chansons beruhigten. Wir lebten im Haus von Gian-Carlo Menotti an der Piazza del Duomo in Spoleto – keine schlechte Adresse. In ebendiesem Haus hatten sich Brigitte Bardot und Mastroianni zunächst verschanzen müssen. So groß war der Ansturm der Paparazzi, dass wir vier Tage lang nicht drehen konnten, bis jeder Einzelne sein Foto des vermeintlichen Traumpaares geschossen hatte.

„Take your money and run“, sagen die Amerikaner, wenn man einen Job nur wegen des Geldes macht. Und genau so verfuhr auch Louis Malle. Nach Ende der Drehzeit in Italien war er auf einmal verschwunden, und so kam es, dass ich ganz allein mit BB Regisseur spielen und im Studio in Paris die Schlusseinstellung des Filmes drehen durfte: ein irreales Bild, Brigitte Bardot mit wehender Mähne beim Sturz von einem Dach, ein endloser Fall ins Leere, gedreht wie in einem alten Méliès-Film vor einem riesigen bemalten Rouleau. Louis Malle war diesem Kitsch entflohen, von der Luxusproduktion in den schmutzigsten der Kriege, den Kampf um die Unabhängigkeit in Algerien. Georges Buis, ein Colonel der französischen Armee, hatte eine typische Episode dieses letzten Kolonialkrieges als Roman erzählt, DIE HÖHLE. Der Kampf um die Unabhängigkeit ging in das achte Jahr, ein Zehntel der Bevölkerung, die französischen Siedler, die seit über 150 Jahren dort waren, betrachteten dieses Land auf der anderen Seite des Mittelmeers nicht als eine Kolonie, sondern als Bestandteil Frankreichs.

Louis lud mich ein, mit ihm nach Algier zu fliegen, um zu erkunden, ob man dort überhaupt drehen könnte. Im Februar 1962 trafen wir im Hotel Aletti ein. Außer uns waren dort nur Journalisten. Es war genau die Atmosphäre, die ich später in DIE FÄLSCHUNG gezeigt habe. In die Kasbah, die Altstadt, konnte man nicht. Sie wurde von der algerischen Freiheitsfront FLN kontrolliert. Jeden Tag gab es etwa zwanzig Sprengstoffanschläge.

Wieder begann ich ein Tagebuch:
„8. Februar 1962, vom Flughafen zum Hotel: alles ruhig und sehr schön, strahlende Sonne, das Meer blau, buntes Gewimmel in den Straßen, die Häuser weiß, Bougainvilleas in voller Blüte. Wir könnten in Nizza sein. Kaum bemerkt man Soldaten, hier und da Stacheldraht. Alles ist in Farbe. Ganz anders als auf den Schwarz-Weiß-Bildern im Fernsehen.
Nachmittags in der Stadt die gleiche Ruhe, aber allmählich spüren wir eine ungute Spannung. Etwas Unsichtbares bedrückt uns. Wie könnte man das filmen? Abends Fahrverbot ab 21.00 Uhr, Ausgangssperre ab 23.00 Uhr. Die Straßen sind leer, die Luft angenehm und mild. Ein paar arabische Jungen scherzen mit einem Mädchen, das sich vor einem Schaufenster kämmt. Zwei Marinesoldaten, weiße Mützen mit roter Bommel, gehen Hand in Hand vorbei. Die eisernen Rollläden fast aller Geschäfte sind heruntergelassen. Nur ab und zu ein neonerleuchtetes Café dazwischen, die Stühle schon auf den Tischen, nur zwei, drei Kunden an der Theke. Sie sprechen zu laut und zu fröhlich – als ob sie Angst übertönen wollten. An einer Ecke diskutiert heftig eine Gruppe junger Männer. Sonst alle Straßen leer, so weit man blicken kann.
Eine geschminkte Frau sitzt am Bordstein, die Beine übergeschlagen, das obere streckt sie uns neckisch entgegen, mit einem müden: „Kommst du mit, Schatzi?“ Eine zweite kommt eilig vorbei und flüstert: „Es geht gleich los.“ Ein Liebespaar folgt ihr im Laufschritt. Die Rue Michelet liegt jetzt völlig verlassen. Zwei Half-Trucks, ähnlich unseren alten Panzerspähwagen, fahren im Schritttempo vorbei. Die Soldaten im MG-Turm sprechen nicht. In der Stille Tangomusik und Lachen aus einer Wohnung. Licht hinter Fensterläden. Die Kettenfahrzeuge rasseln ohrenbetäubend um eine Kurve.
Später, von der Hotelterrasse aus, prachtvoller Blick auf das Meer. Die zwei Spähwagen fahren wieder vorbei, womöglich noch langsamer. Am nächsten Morgen meldet die Zeitung siebzehn Tote, darunter ein Franzose. Frühstück mit frischen Croissants und Orangenmarmelade auf der Terrasse. Wieder Blick auf die Meeresbucht, jetzt sonnig, Windstille. Autos fahren zu den Stränden. Soldaten auf Urlaub flanieren. Ein Frachtschiff verlässt den Hafen, gleitet langsam über das glatte Meer und verliert sich im Dunst. Es wird heiß heute.
Louis wird von der lokalen Presse interviewt. Um nicht zu viel über sein Projekt zu verraten, erklärt er ein halbe Stunde lang, warum er nicht verheiratet ist.“

Nach ein paar Tagen hatte Louis Malle genug von der Stadt, er wollte an die Schauplätze des Romans von Georges Buis, in die Berge der Kabylei, in das Tal der Ouma. Dort sollte sich Amirouche, ein berühmter Rebellenführer, verborgen halten – wahrscheinlich eben in einer Höhle auf halber Höhe eines Tafelberges. Man gab uns Ratschläge, die uns eher ratlos ließen, wie etwa vor Kurven zu verlangsamen, in der Kurve aber Vollgas zu geben – wegen eventueller Hinterhalte … Wir hatten zwei 16-mm-Kameras und fuhren von Militärposten zu Militärposten. Louis Malle wurde, sehr zu seinem Ärgernis, immer begeistert empfangen als der Regisseur, der mit den beiden größten französischen Stars gedreht hatte:
– Stimmt es, dass B.B. jeden ranlässt, dass sie es sich am liebsten von hinten besorgen lässt?
– Jeanne Moreau soll ja eine richtige Dame sein … oder treibt die es auch so?
In diesem Stil verlief die Unterhaltung in den Offizierskantinen.

An dieser Stelle bricht das kurze Tagebuch ab, auch unsere Reise endete ein paar Tage später. Der Krieg ging erfolglos weiter. Die französische Regierung begann, mit der Unabhängigkeitsbewegung zu verhandeln. Daraufhin putschten die Generäle in Algier. In Paris brach die Republik zusammen, de Gaulle wurde als Retter in der Not geholt. Er schuf eine neue Verfassung, die 5. Republik wurde ausgerufen, mit ihm als Präsident. Als Erstes bescherte er Algerien (und ganz Schwarzafrika) die Unabhängigkeit. „Non, rien de rien, je ne regrette rien…“, sangen die Fallschirmjäger und die Fremdenlegionäre, als sie das Land verließen. Militär, das eine Hütte durchsucht und Zivilisten foltert, das ist ein Bild, das ich seitdem wieder und wieder im Fernsehen gesehen habe, in Vietnam, in Palästina, in Bosnien, im Irak. Es ist immer das gleiche Bild. Die Schläge treffen aber jedes Mal andere Menschen.

Ein Film über den Algerienkrieg ist damals nicht gemacht worden, weder von Louis Malle noch von jemand anderem. Die Wahrheit zu sagen war nicht möglich, nicht in einer fast staatlichen Filmindustrie wie der französischen. Jean-Luc Godard hat es versucht, LE PETIT SOLDAT, sein Film über die Tortur, wurde verboten. Ich verlor Louis aus den Augen, er stürzte ab ins Nachtleben der Rive Gauche.

Als wir uns wieder trafen, fand ich Louis in einer ziemlichen Krise. Er verbrachte seine Nächte in den Bars von St. Germain, lebte in schnellem Wechsel mit verschiedenen Frauen und dachte daran, das Filmemachen ganz aufzugeben. Stellvertretend für ihn, könnte man sagen, fuhr mein guter Geist, der Romancier Roger Nimier, mit seinem Aston Martin eines Nachts gegen einen Brückenpfeiler. Es geschah auf der West-Autobahn, genau dort, wo in FAHRSTUHL ZUM SCHAFOTT die Halbstarken in einem gestohlenen Sportwagen zur Musik von Miles Davis dahinrasen.

Der merkwürdige, bis heute ungeklärte Tod passte zu diesem Helden der fünfziger Jahre, der sich mit dem Überschwang der Nachkriegsjahre gerade rechtzeitig verabschiedete, bevor die Konsumgesellschaft begann. So jedenfalls muss es Louis Malle vorgekommen sein. Das geistreiche, brillante, aber doch sehr selbstgefällige Nachtwandlerdasein erschien ihm plötzlich fad. Er wollte selbst Schluss machen, nicht gerade buchstäblich, aber indem er begann, ein Drehbuch über einen Selbstmörder zu schreiben.

Fast gleichzeitig drückte ihm, mit Hinweis auf Roger Nimier, jemand den Roman LE FEU FOLLET (DAS IRRLICHT) von Drieu la Rochelle in die Hand. Held ist ein Mann Anfang dreißig, Alkoholiker und Schriftsteller, der gerade eine Entziehungskur auf dem Land hinter sich hat und, zurück in Paris, die Runde seiner alten Freunde macht. Es wird der letzte Tag seines Lebens, ein langer Abschied, BABYLON REVISITED. Im Morgengrauen erschießt er sich – nicht ohne vorher die vor längerer Zeit begonnene Lektüre des GREAT GATSBY von Scott Fitzgerald zu beenden.

Kaum hatte Louis Malle dieses IRRLICHT zu Ende gelesen, brach er seinen eigenen Text ab und versammelte uns, seine Mitarbeiter, Freunde sowie Jean-François und Bernard, seine beiden älteren Brüder, zu einer Aussprache. Er drückte uns den Roman in die Hand, das sei der nächste Film, wir sollten schon mal mit den Vorbereitungen beginnen. Er selbst würde inzwischen eine Adaptation machen, aber eigentlich stehe alles im Buch. Zum ersten Mal schrieb er allein, er war fast schamhaft zurückhaltend, mit niemandem wollte er darüber sprechen. Das war auch nicht nötig bei diesem Thema. Wir glaubten alle zu verstehen, worum es ihm ging: Die Straßen, die Cafés, die Wohnungen, das Zimmer, in dem der Held wohnte, es waren die uns vertrauten Orte, an denen Louis verkehrte. Sogar die Zeitungsausschnitte über Marilyns Tod und die Sprüche auf dem Wandspiegel kannten wir aus Louis’ eigener Wohnung. Gedreht wurde im Apartment seines Freundes Antoine Roblot. Zuletzt hat Louis die Ausstattung noch durch seinen Reisewecker, seinen Koffer und ein kleines Ölgemälde, das in allen seinen Filmen vorkommt, ergänzt.

Die Darsteller der Männerrollen waren meist Freunde von Louis, teils Schauspieler, teils Laien, nur die Frauen wurden neu besetzt, so ähnlich wie möglich den Vorbildern aus seinem Leben. Alexandra Stewart, die auch dabei war, wurde später seine Frau. Nur mit der Besetzung der Hauptrolle zögerte er lange, denn die hätte er eigentlich selbst spielen müssen. Obwohl der Name Maurice Ronet, bekannt aus Louis’ erstem Film, wie selbstverständlich am ersten Tag fiel, mussten wir monatelang nach einem anderen Darsteller suchen. Wir flogen sogar bis nach München, um Thomas Holtzmann zu treffen, nach London zu Christopher Plummer und nach Rom zu Serge Leroy-Beaulieu. Niemand, der den Film gesehen hat, wird das im Nachhinein verstehen, denn Maurice Ronet scheint die Idealbesetzung. Das Vorbild im Roman war ein überschäumender, lebenslustiger, fast südamerikanischer Charakter und, wie Louis Malle, kein Kind von Traurigkeit. Und ein solcher Mann sollte der Held sein, ein zwar erloschener, aber vor der Entwöhnung vom Alkohol einmal sehr aktiver Vulkan, an dessen Ausbrüche selbst Barmänner und Garderobieren sich noch mit Rührung erinnerten – ein Charakter eben wie Louis Malle selbst.

So wie der Akt des Selbstmords von aller schwülstigen, weltschmerzgetränkten Stimmung frei sein sollte, indem Alain, bevor er sich die Kugel in die Brust schießt, seelenruhig das begonnene Buch zu Ende liest, so sollte auch der ganze Film kein Quäntchen Lebensmüdigkeit zeigen. Nicht weil er nicht mehr kann, sondern weil er nicht mehr will, scheidet der Held aus dem Leben.

Einen derartig dynamischen Todeskandidaten konnte Maurice Ronet tatsächlich nur mit Louis’ Hilfe spielen. Während der sieben Drehwochen konzentrierte er sich hartnäckig darauf, Maurice Ronet das Selbstmitleid auszutreiben. Als Alain einmal wirklich explodieren sollte, musste sich der Regisseur ausnahmsweise kamera- und schnitttechnischer Kunstgriffe bedienen. Das Ergebnis ist zwar filmisch gelungen, aber mehr das Verdienst der Cutterin als des Darstellers.

Als der Film für das Festival von Venedig ausgewählt wurde, lud er mich ein mitzukommen. Louis war selbst von seinem Film überrascht, er hatte ihn sich nicht zugetraut.
– Zum ersten Mal, sagte er, bin ich zufrieden mit einer Arbeit. Vielleicht sollte ich Film nur noch aus dem Gefühl machen.
Später, als wir auf der Fahrt nach Venedig in Mantua anhielten, fügte er beim Betrachten der Fresken von Mantegna hinzu:
– Es ist ein großer Maler, weil man eine Moral, eine Ethik spürt, nicht in den Sujets, sondern in den Mitteln, die er wählt, um sie zu malen. Das Sujet, das Thema, ist nicht so wichtig. (Dieser Definition sollte Louis selbst von Film zu Film immer näher kommen.)

Während ich noch hoffnungsvoll auf die Entscheidung über den TÖRLESS wartete, packte Louis Malle mal wieder das Reisefieber. Wie oft zwischen großen Spielfilmen, trieb ihn seine Neugier in ferne Länder. Ob sein alter Traum, Joseph Conrads VICTORY zu verfilmen, dahintersteckte, weiß ich nicht. Er lud Philippe und mich ein, ihn nach Vietnam zu begleiten, wo sich anscheinend ein großer Konflikt anbahne. Am 8. November 1963 landeten wir in Saigon, um für eine Fernsehsendung zu berichten. Beim Verlassen des Flugzeugs legte sich die schwüle Tropenluft wie ein feuchtes Tuch auf unsere Gesichter. Im Hôtel de Paris trafen wir auf eine ähnliche Journalistenschar wie im Aletti in Algier, wenn auch draußen noch kein Krieg herrschte. Nur immer zahlreichere amerikanische Militärberater waren im Land, um die Diktatur der christlichen Familie Diem zu festigen. Als Lektüre hatte ich passenderweise Célines REISE ANS ENDE DER NACHT, von uns kurz LE VOYAGE genannt, im Gepäck. Die Brutalität, mit der Céline die Pariser Vororte beschreibt, passte gut zu dem Anblick einer heruntergekommenen französischen Kleinstadt, den Saigon damals bot. Billige Industriearchitektur, einförmige Straßenzeilen, verblasste Wegweiser und Inschriften aus der Kolonialzeit. Nur die zierlichen Frauen, die in dem Verkehrsgewimmel auf ihren Mopeds in blendend weißen, geschlitzten Gewändern von Dreck und Gestank unberührt schienen, gaben dem Bild etwas Exotisches.

Louis empörte sich über die grobschlächtigen Amerikaner, die teils in Zivil, teils in Tropenkhaki schon mittags betrunken und laut in den Bars an der Rue Catina saßen, schwere Colts am Gürtel und feingliedrige Mädchen auf dem Schoß.
– Die ganze Stadt stinkt nach Sperma, stellte er fest.
Die Barfrau im Hotel hatte schon vier Ehen mit französischen Kolonialoffizieren hinter sich und sprach jetzt fließend Englisch. Von ihr erfuhren wir, dass die Diem-Familie sich nicht würde halten können, nicht gegen die eigene Bevölkerung, die vom Vietcong aus dem Norden aufgewiegelt würde. Es sei denn, die Amerikaner schickten wirklich Soldaten – aber warum sollten sie das tun? Nur wegen ihrer Dominotheorie einen Krieg riskieren?

Präsident Diem wurde ein paar Tage später ermordet. Auf einmal schien ein Krieg unausweichlich. Die gesamte Weltpresse traf in Saigon ein, komplett mit Kamerateams und berühmten Korrespondenten. Aktuelle Nachrichten wollte Louis Malle aber nicht liefern. Gegen den Strom verließen wir Vietnam und flogen nach Bangkok, um, wie er sagte, eine Reportage zu machen über ein Land, in dem nichts passiert.

Es wurde auch eine ruhige Reise, bis eines Abends Louis Malle verschwunden war. Als er gegen Mitternacht immer noch nicht im Hotel war, zog ich von Polizeistation zu Polizeistation, meist zur Straße offene Räume mit einer hohen Holztheke. Überall zeigte ich sein Foto, gab Beschreibungen ab, kam mir vor wie eine verlorene Figur in einem Roman von Graham Greene. Mehrmals musste ich mich davonmachen, um nicht selbst eingesperrt zu werden. Ich irrte in heilloser Panik durch die Nacht, während der Rest des Teams in aller Ruhe schlief. Zu Recht, wie sich am nächsten Morgen herausstellte, als wir Louis nach seinem Anruf in einem wunderbaren alten Teakholzhaus an einem der Kanäle trafen. Vom Balkon winkte eine mit nichts als einem T-Shirt bekleidete Siamesin uns zu. Es war Maryat, eine lokale Schauspielerin, die hier mit Monsieur Rollet lebte, einem französischen Lebenskünstler, der mit Rohseide handelte. Louis hatte die Nacht bei ihnen verbracht. Ein Jahr später veröffentlichten die beiden anonym ein Buch, das viele Folgen hatte, EMANUELLE.

TRAURIGE TROPEN, der Titel des Buchs von Lévi-Strauss, entsprach eher unserem Eindruck von Südostasien, zumal noch niemand an das Sex- und Touristenparadies dachte, das es einmal werden sollte. Als wir wegen Motorschaden auf dem noch nicht asphaltierten Flugfeld von Phuket im Schatten der alten DC 3 saßen, entfernte sich Louis Richtung Küste. An dem endlos grauen Strand sammelte eine Frau Muscheln, den Sarong bis zur Hüfte hochgeschlagen. Barfuß scharrte sie die Kiesel in dem trüben Wasser des Indischen Ozeans auf, bückte sich wieder und wieder, meist vergeblich, nach einer Muschel. Sie war jung, sah aber alt und verhärmt aus. Als Louis seine Kamera auf sie richtete, fuhr sie mit ihrer Suche fort, als habe sie ihn nicht bemerkt. Louis ging immer näher an sie heran. Er sah, wie ihre Augen nass wurden, Tränen liefen ihr über das Gesicht, jedoch wendete sie sich nicht ab. Louis filmte weiter, als bestünde ein Pakt zwischen ihnen – oder war es Gewalt, die er ihr antat und gegen die sie sich nicht zu wehren wagte? Völlig verstört kam er zum Flugzeug zurück. Dieses Erlebnis sollte Folgen haben. Ein paar Jahre später, im Herbst 1968, ging Louis Malle für ein Jahr nach Indien und drehte dort einen sechzehnstündigen Dokumentarfilm über die Indiskretion der Blicke.

Einstweilen spukte der Gedanke in Louis’ Kopf herum, als Kontrastprogramm zum IRRLICHT eine große Operette, einen Zirkusfilm zu machen: Zwei Tingeltangel-Künstlerinnen, die mit einem Wanderzirkus Mexiko zur Zeit Zapatas bereisen, schließen sich der Revolution an. Zirkusartisten, Zauberkünstler, der stärkste Mann der Welt und die beiden Sängerinnen als Idole werden zur Geheimwaffe einer fröhlich anarchistischen Operette. Ich war der einzige Assistent, der mit Luis Malle nach Mexiko ging. Ansonsten war noch der Kameramann Henri Decaë dabei, der sich am besten auf das Fotografieren von Frauen verstand. Angefangen hatte er mit sehr neorealistischer Schwarz-Weiß-Fotografie bei Melville und war nun zum Grandseigneur opulenter Farbbilder geworden, in Erscheinung und Entwicklung sehr vergleichbar mit Michael Ballhaus und wie dieser auch der harmonische ruhende Pol inmitten eines oft chaotischen Unternehmens.

Schon vor der Abreise aus Paris bahnten sich Spannungen zwischen den beiden Diven Brigitte Bardot und Jeanne Moreau, ihren Agenten und Louis Malle an. Der übliche Kampf der Egos wurde zunächst über Gage, Nennung im Vorspann und der Werbung, Anzahl der Entourage, Maskenbildner, Friseusen, Garderobieren, Chauffeure und ähnliche äußere Anzeichen ausgetragen.

Zu Anfang seiner Karriere hatte Louis Malle mit Jeanne Moreau gelebt. Er wollte sie heiraten, aber seine älteren Brüder hielten die Liaison mit einer Schauspielerin nicht für standesgemäß. Jeanne lebte jetzt mit Pierre Cardin, der aber nur auf ein Wochenende nach Mexiko kam. Brigitte Bardot ihrerseits wurde begleitet von Bob Zaguri, einem harmlosen, netten Marokkaner. Sie nahm sich die Freiheit, ihre Liebhaber selber auszusuchen. Ob Louis auch darunter war, wissen nur die beiden. Diese vielfältigen Liaisons hätten für den Regisseur zu großen Belastungen führen können, weshalb er bei Drehbeginn eine alte Freundin aus bürgerlichen Kreisen heiratete.

VIVA MARIA wurde ein paar Jahre später zum Kultfilm vieler 68er. Schön, dass Jean-Claude Carrières surrealistische Einfälle, die Frechheit des ungezogenen Louis Malle, der Charme Jeanne Moreaus und die animalische Lebenslust Brigitte Bardots sowie das wunderbare Mexiko die graue deutsche Szene so aufgehellt haben. Irgendetwas von Land und Leuten musste dieser Pariser Kopfgeburt Seele eingehaucht haben.

Vor Ort wurde aus dem Spiel mindestens einmal Ernst. Am Rande der Silbergräberstadt San Miguel Allende inszenierten wir einen Aufstand der peones, der Bauern, gegen die Armee des Diktators. Maschinengewehre mähten die machete-schwingenden Bäuerlein in ihren weißen Leinengewändern zu Boden, bis endlich die im Galopp heranrasselnden Zirkuswagen Entsatz bringen. Über tausend Komparsen waren im Einsatz, Hunderte lagen als ›Tote‹ auf dem Schlachtfeld. Bei der mörderischen Hitze flohen sie bei jeder Unterbrechung der Dreharbeiten in den Schatten, und ich musste sie jedes Mal lautstark zurückrufen: „Los muertos en sus lugares! Die Toten auf ihre Plätze!“ Nur auf dem Parcours der schweren Zirkuswagen hatten wir weißgekleidete Puppen ausgelegt. Komparsenführer achteten darauf, dass diese Trennung eingehalten wurde. Sei es, dass ein Komparse sich nun doch zwischen die Puppen gebettet hatte, sei es, dass einer der sechsspännig dahinrasenden Wagen vom Weg abgekommen war – einen erwischte es.

„Guanajuato, am 24. Mai 1965 – Er hieß Pio Olmos Rodriguez, war einundzwanzig Jahre alt, Waise und ernährte drei kleine Brüder. Er ist ums Leben gekommen bei einer unserer Gefechtsszenen. Wir drehten auf einem Platz, den eine Barrikade sperrt. Sie ist gestürmt worden, überall liegen die Gefallenen. Die Revolutionäre brechen durch. Zu Pferde, auf Karren und schweren Wagen, in vorsintflutlichen Autos, schießend, johlend, durch Rauchschwaden und platzende Bomben schwärmt der Haupttrupp über den Platz und durch die Bresche, da runter wir, die Zirkusleute. Wir haben die Einstellung einmal gedreht, und uns klopfen die Herzen. Claudio und Poldo sind beinah von ihren Wagen gestürzt. Paulette, die einen spinnebeinigen, vierzig Jahre alten Ford steuert, ist gegen die zersplitternde Windschutzscheibe geschleudert worden: Ein ausbrechendes Pferd ist breitseits in den Wagen gerannt. Ich (Rezzori alias Zauberkünstler) habe alle Mühe, mein Fahrzeug – einen uralten Dodge – zwischen wild hinjagenden Treckwagen, vorüberpreschenden Reitern und Toten durchzusteuern – man weiß nie, ob es ausgelegte Puppen oder Statisten sind. Die Aufnahme wird wiederholt. Ich habe schießende Bewaffnete auf den Kotflügeln, auf dem Kühler, den Trittbrettern des Wagens. Aber wir erreichen die Barrikaden, ohne dass einer von ihnen stürzt. Wir sind aus dem Bild, ich steige aus. Ein paar Schritte hinter mir liegt ein Gefallener. Aber das ist keine Puppe. Es geht etwas Unnennbares von