Die Welt:
In Ihrer Nobelpreisrede haben Sie erklärt, die Welt des Schriftstellers sei passiv. "Wie", haben Sie gefragt, "sollte ein Schriftsteller handeln, wo er sich doch nur darauf versteht, sich zu erinnern?" Andere Nobelpreisträger wie Nadine Gordimer haben das Schreiben dagegen sehr wohl als Handeln begriffen.
J.M.G. Le Clézio:
In gewisser Weise hat sie Recht, Schreiben ist Handeln. Ich wollte eine Unterscheidung zwischen meinen Ansichten und der Illusion vieler französischer Schriftsteller unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg treffen. Diese Autoren glaubten damals, die Gesellschaft verändern und eine bessere Welt schaffen zu können. Wir wissen sehr gut, dass es dazu nicht gekommen ist. Diese bessere Welt ist nirgends zu sehen. Das hat zu einer Krise des Vertrauens in die Literatur geführt. Ich habe gewissermaßen die sogenannte "engagierte Literatur" und ihre Vertreter kritisiert, weil sie zu nichts als Negativität fähig waren und es ihnen misslungen ist, ein neues Denken zu befördern. Ihr Engagement war bloß eine Art pessimistischer Selbstgefälligkeit. Und in ihrem Wahn lagen sie die meiste Zeit falsch. Sartre zum Beispiel hat gezögert, das Regime Mao Tse-tungs zu kritisieren. Mich hat der Pessimismus des (schwedischen Schriftstellers) Stig Dagerman, der schließlich Selbstmord beging, ziemlich berührt. Er konnte in solcher Verzweifelung nicht überleben. Ich selbst bin kein Pessimist. Doch als Schriftsteller muss man bescheiden sein, man schreibt nur Erzählungen, man erzählt nur Geschichten. Man mag die eigenen Gefühle und Ideen in sein Schreiben fassen, aber die Welt verändern wird man nicht. Man versucht bloß, sich selbst bestmöglich auszudrücken. Man ist wie jeder andere, nur mit dem Talent zu erzählen.
Horace Engdahl, ständiger Sekretär der Schwedischen Akademie, hat behauptet, die amerikanische Literatur sei zu "isoliert" und nehme am globalen Dialog der Literatur nicht teil. Sie haben in den USA gelebt und gelehrt, wurden dort vor dem Nobelpreis aber nicht von einem breiten Publikum gelesen. Warum?
Le Clézio:
Ich nehme an, das war eine Folge der Nachkriegsära. Sartre und Camus waren in den Vereinigten Staaten gefeiert worden, ihre Nachfolger jedoch sind rasch verblasst. Auf sie folgte in der französischen Literatur der "nouveau roman". Er war sehr abstrakt und sprach nur eine kleine Leserschaft an, in erster Linie an Universitäten, aus akademischem Interesse. Auf das fehlende Interesse eines breiten Publikums folgte das völlige Desinteresse an der Kultur, die den "noveau roman" hervorgebracht hatte. Zu meinem Leidwesen kam ich nach alldem. Wie die meisten meiner zeitgenössischen französischen Kollegen betrat ich die Szene im Gefolge dieses Misstrauens, dieses Desinteresses. Wir müssen es überwinden. Am Ende, bin ich mir sicher, werden wir einfach weiterschreiben und -veröffentlichen. Aber es ist eine schwierige Aufgabe!
Dass Sie mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden, hat viele amerikanische Schriftsteller und Kritiker überrascht. Sie hatten sich die Auszeichnung eines bekannten amerikanischen Autors wie Philip Roth gewünscht. Einzelne europäische Kritiker haben daraufhin sogar behauptet, Europa sei immer noch die Mitte der literarischen Welt.
Le Clézio:
Die Welt hat keine Mitte. Und ich habe auch nicht den Eindruck, dass die Vereinigten Staaten Europa beneiden; sie schauen mittlerweile in eine andere Richtung. Sie schauen nicht nach Europa, was des Misstrauens wegen, von dem ich eben gesprochen habe, ganz natürlich ist. Literatur ist heute Ausdruck eines globalen Anliegens, nicht nur europäische Kultur, sondern eine Literatur, die aus allen Stimmen und allen Nationen hervorgeht. Das ist, was mich am meisten interessiert. Deshalb reise ich so viel. So kann ich Schriftsteller an so unterschiedlichen Orten wie Amerika, Afrika oder Indien kennenlernen.
Literatur sei keiner Nation, sondern einer Sprache zugehörig, haben Sie gesagt. Heute hat es eine Literatur, die in keiner der großen Sprachen geschrieben ist, immer schwerer, ein globales Publikum zu erreichen.
Le Clézio:
Ich habe das Gefühl, dass die sogenannten "Minderheitensprachen" in Zukunft leichter Zugang zur allgemeinen Kommunikation haben werden, nicht nur weil die Menschen, während die Globalisierung voranschreitet, mehr Sprachen zu lernen bemüht sein werden, sondern auch, weil Übersetzungen immer leichter zugänglich sind. Die Übersetzung ist das entscheidende Mittel zur Verbreitung von Literatur. Womöglich ist der Zugang zu anderen Sprachen und Kulturen durch das Internet heute leichter als zuvor. Identität ist absolut entscheidend und an die Sprache gekoppelt. Identität meint dabei aber nicht notwendig die Verbindung zu einer Nation oder einem Stück Land, sondern vielmehr zu einer modernen oder alten Kultur. Alle menschlichen Sprachen sind alt, keine wurde in der jüngeren Geschichte geschaffen. Alle Wurzeln weisen weit zurück.
Aber die Buchkultur ist in der Krise. Die Leute lesen weniger und schauen mehr. Jetzt könnte das E-Book dem Buch den Rest geben.
Le Clézio:
Offen gestanden, ich halte das E-Book für keine Gefahr. In manchen Ländern sind die Preise für Bücher ein Hinderungsgrund. In Mauritius etwa würde ein Buch aus Europa oder den Vereinigten Staaten ein Großteil dessen kosten, was eine Familie im Monat zum Leben braucht, also fehlen den Menschen dort die Mittel, Bücher zu kaufen. Bücher im Netz, oder am Ende das E-Book, sind deshalb, bin ich sicher, die richtige Antwort. Ich persönlich mag Bücher immer noch, und um sie zu retten, müssen wir, nehme ich an, alle möglichen Wege gehen, damit die Öffentlichkeit Zugang zu ihnen hat.
Wie wichtig ist Literatur im Zeitalter der beschleunigten Globalisierung?
Le Clézio:
Literatur im 21. Jahrhundert ist der einzige Ort, das Andere zu verstehen, denn Literatur meint mitfühlende Menschlichkeit. Ich habe hier nicht die christliche Botschaft im Sinn. Ich meine die Fähigkeit, andere zu verstehen, und das Bewusstsein, mit ihnen verbunden zu sein. Um mitfühlen zu können jedoch, sollte man in der Lage sein, die Condition humaine zu begreifen, die Perspektive einer anderen Kultur zu verstehen, die Bedeutungslosigkeit von "Fremdheit" zu sehen. Heute scheint vor uns die Möglichkeit nie dagewesener Verbindungen zwischen weit entfernten Orten auf, Kinder in einem Wald in Panama etwa könnten der Werke Homers gewahr werden. Das ist staunenswert und einmalig in der Geschichte der Menschheit. Der Hunger nach Wissen war immer schon universal; jetzt, mit Hilfe des Internet und der neuen Kommunikationsmöglichkeiten, kann dieser Hunger gestillt werden. Kommunikation hat nichts mit Geld oder politischem Einfluss zu tun, es geht um die essentielle Neugier menschlicher Wesen. Kommunikation ist heute wie Wasser - sie fließt überallhin. Man kann Wasser nicht am Fließen hindern. Die Macht des Wissens und der Kommunikation ist überwältigend und erreicht jeden Punkt auf dem Planeten. Ich bin der festen Überzeugung, dass dies Hoffnung auf Wandel bedeutet. Ganz gewiss ist unsere Gegenwart eine bessere, insoweit wir wissen, dass es andere gibt. Wie ich gesagt habe, es gibt keinen Ort auf der Welt, den Homer nicht erreichen könnte. Er kann überall sein und ebenso Shakespeare. Ich glaube, die Vermischung der Kulturen, was nicht notwendig die Vermischung von Nationen meint, ist eine fundamentale Erscheinung des Seins. Sie verdankt sich unserer Neugier. Wir wollen wissen, was auf der anderen Seite ist. Wer weiß? Am Ende könnte die Explosion des Wissens Kriege verhindern.
Das Gespräch führte Michael Skafidas von der Zeitschrift "Global Viewpoint".