Den Deutschen Buchpreis wird in diesem Jahr eine Frau gewinnen. Das ist schon rein rechnerisch keine riskante Prophezeiung: Es stehen drei Autorinnen auf der gerade verkündeten Sechser-Shortlist, also stehen die Chancen fifty-fifty.
Für eine abermalige Siegerin – nach Kathrin Schmidt und Melinda Nadj Abonji – spricht auch, dass die Bücher der drei Kandidatinnen jeweils ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal aufweisen: Sibylle Lewitscharoff hat mit ihrem Roman über den großen Gelehrten Hans Blumenberg den gedanklich anregendsten Roman des Herbstes geschrieben.
Angelika Klüssendorf erzählt in „Das Mädchen“ von einer schier unglaublichen Rettung aus asozialen (DDR-)Verhältnissen und stellt damit in puncto Härte die Konkurrenz in den Schatten. Und die Österreicherin Marlene Streeruwitz hat sich als Einzige einen hochaktuellen Stoff vorgenommen. Ihre „Schmerzmacherin“ ist eine Inneneinsicht in die Welt der global operierenden Sicherheitsfirmen wie Blackwater; mit der Erzählerin taumelt der Leser darin orientierungslos umher wie Kafkas Landvermesser K. im „Schloss“.
Dagegen fallen die Männer ab: Jan Brandts 900-Seiten-Provinzroman „Gegen die Welt“ ist der kühne, aber überambitionierte Versuch, das ostfriesische Pendant zu Uwe Johnson und Uwe Tellkamp zugleich zu schreiben. Lesenswert ist ohne Zweifel Eugen Ruges spätes Debüt „In Zeiten des abnehmenden Lichts“, ein DDR-Familienroman über vier Generationen, aber in seiner Erzählweise ganz konventionell.
Schließlich Michael Buselmeier. Auf eine Kleinverlags-Wildcard konnte man nach der ausgefallenen Longlist wetten. Nun ist der Heidelberger Wunderhorn-Verlag der Gewinner, der den in den Sechzigern spielenden Künstlerroman „Wunsiedel“ im Programm hat. Hübsch, charmant, klug, aber ein Buchpreiskandidat? Das wäre im so starken Literaturjahr 2011 ein seltsam rückwärtsgewandtes Signal.
Es wird wieder romantisch
Es ist immer unfair, über einzelne Titel mit der Jury ins Gericht zu gehen. Aus einer Longlist , die schon zugunsten (zu) vieler Außenseiter wichtige Titel ignorierte – etwa Annett Gröschners Berlin-Panorama „Walpurgistag“, Michael Kumpfmüllers Kafka-Roman „Die Herrlichkeit des Lebens“ oder Leif Randts verstörende Zukunftsvision „Schimmernder Dunst über Coby County“ –, hat die Jury eine respektable Shortlist gezimmert.
Auffällig ist jedoch ihre Schlagseite zum romantisch-retrospektiven Komplex. Das ist gute deutsche Tradition und tatsächlich repräsentativ für eine Strömung der Gegenwartsliteratur. Lange war der Bildungsroman nicht so präsent. Bei Brandt ist das ganz deutlich; aber auch die Schüler von Lewitscharoffs „Blumenberg“ arbeiten sich am Gelingen ihrer Lebensreise ab.
Und wie Buselmeiers theatralische Sendung an Goethes „Wilhelm Meister“ anknüpft, so ist Klüssendorfs „Mädchen“ ein weiblicher „Anton Reiser“. Wieder einmal sieht es ganz so aus, als habe die Gegenwartsliteratur mehr Herkunft als Zukunft zu bieten. Doch das ist nur die halbe Wahrheit.