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Meinung Weltfremd und öde

Deutsche Literatur – so frisch wie Omas Salzgebäck

| Lesedauer: 9 Minuten
Unverlangt eingesandt, unbedingt aussortiert: Was läuft schief mit der deutschen Gegenwartsliteratur? Unverlangt eingesandt, unbedingt aussortiert: Was läuft schief mit der deutschen Gegenwartsliteratur?
Unverlangt eingesandt, unbedingt aussortiert: Was läuft schief mit der deutschen Gegenwartsliteratur?
Quelle: Getty Images/Flickr RF
Die Feuilletons streiten mal wieder: Die deutsche Literatur sei zu brav, zu bürgerlich oder, tja, zu deutsch. Doch schaut man sich die Autoren von heute an, ist alles noch schlimmer. Eine Abrechnung.

Manchmal werde ich gefragt, ob ich mal wieder ein gutes Buch gelesen hätte, einen spannenden deutschen Autor zum Beispiel. Meist überlege ich lange und empfehle schließlich den neuen Fontane.

Die Leute lachen dann. Ich aber denke nach, mit offenem Mund. Und mir fallen noch ein: Grimmelshausen. Arnold Zweig. Uwe Johnson. Irmgard Keun. Oder Fallada, „Bauern, Bonzen und Bomben“. Welch ein Buch! Wie viel Recherche, wie viele gut beobachtete Typen, wie viel Liebe zu allen Figuren! Handlung, Sprache, Politik, alles dran! Alles drin! 1931.

Ich muss wohl alt geworden sein. Meine zahlreichen Versuche der letzten zwanzig Jahre, ähnliche Qualität auch aus der Gegenwart herauszusaugen, sind beinahe alle gescheitert. Kathrin Röggla fällt mir ein, „Wir schlafen nicht“. Feridun Zaimoglu, „Kanak Sprak“.

Muffige Literaten-Literatur

Bücher mit einer brennenden Neugier auf Sprache und Jetzt. Bisschen Goetz, bisschen Jelinek. Tja. Und Helge Schneiders tolle Autobiografie, „Guten Tach, auf Wiedersehen“. Ansonsten schlägt mir, aber das mag ja an mir liegen, immer und überall dieser Popanz, dieser Muff der Literaten-Literatur entgegen und der beigeordneten Literaturkritik, die es für berichtenswert hält, wer mit wem auf dem Nobelpreisball getanzt hat.

Nörgelt man so vor sich hin. Das Merkwürdige ist ja: Als rundum alter Sack fühle ich mich gar nicht. Ich lese Nachrichten, ich gucke Bundesliga, streame die neuesten Serien, chatte mit Neuseeland. Überall bilde ich mir ein, über eine gewisse Neugierde zu verfügen. Auch bei Literatur. Der merkwürdige Effekt aber, immer wieder, wenn ich mal reinschaue in die einheimische Produktion: 95 Prozent davon fühlen sich so frisch an wie Omas Salzgebäck.

Den Leser aber, Profi wie Amateur, juckt das alles, so will es scheinen, wenig. Er ist zufrieden mit dem, was er da geliefert bekommt, seine menschlichen Bedürfnisse, die er nach Feierabend entwickelt, werden befriedigt, die stillschweigende Übereinkunft zwischen Literatur-Anbieter und Literatur-Kunde hält, was sie verspricht. Es gibt da verschiedene Geschäftsmodelle.

Sensibel oder coole Socke

Geschäftsmodell Nummer 1: Ich Autor bin eine Figur der Historie, meine Bücher sind vor fünfzig Jahren echte Kracher gewesen. Wenn ich abends zu sauer gegessen habe und nachts ein Gedicht draus wird, dann wird es zwei Tage später prominent in der Zeitung gedruckt – SO einer bin ich. Ich bin der Ewigkeit nah, ein Strahl von meinem Glanz, lieber Leser, fällt auch auf dich, meine Bücher machen sich unnachahmlich in Deinem Regal.

Geschäftsmodell Nummer 2: Ich bin nahezu besorgniserregend sensibel! Ich kann nur barfuß schreiben, ich fülle ganze Romanpassagen damit, wie jemand ein Weckglas aus einem Kellerregal holt, weil all das so intensiv einwirkt auf mich: die Gerüche im Keller, das Knarzen des Regals und der Hahn, welcher draußen kräht, und die Muster, die meine Heldin als Kind noch in die Staubschichten gezeichnet hat, ach ... Du und ich, Leser, wir sind sehr, sehr empfindsame, besondere Wesen, und ich finde es unheimlich schön, dass Du jetzt mein Buch gekauft hast.

Geschäftsmodell Nummer 3: Ich bin eine coole Socke, ich habe viele irre Partys gesehen. Oder zumindest davon gehört. Oder krass irgendwo abgeschrieben. Davon handelt mein Buch, komm, sei dabei! Je wilder meine Figuren es treiben – Sex, Durchfall, Zigaretten! –, desto mehr kannst du dich gesundheitsneutral amüsieren. Berlin!

Wirr, weit weg oder Stoffel

Geschäftsmodell Nummer 4: Ich bin wirr, also genial. Jederzeit kannst Du problemlos behaupten, eines meiner total konfusen Bücher gelesen zu haben: Das macht Dich interessant, innovativ, und niemand wird Dir jemals das Gegenteil nachweisen können.

Geschäftsmodell Nummer 5: Ich bin so weit weg von allem, dass meine Bücher bei den Esoterik-CDs im Dromarkt liegen müssten. Das ist aber etwas Gutes! Ich finde ein Wort wie „Eskapismus“ ein Lob. Ich kann meine ISBN-Nummer tanzen. Die Welt hier unten ist nichts für uns beide, komm, lass uns fliehen! Bis zum Mars und noch viel weiter.

Geschäftsmodell Nummer 6: Ich bin ein lieber Stoffel, genau wie du, lieber Leser, und ich habe eine echt ulkige Jugend in den Achtzigern erlebt, oder ich habe eine echt traurige Kindheit in den Siebzigern erlebt, oder vielleicht waren beide auch nur unsäglich langweilig, genau wie bei dir – aber wo das jetzt jemand in einem Buch aufgeschrieben hat, ist es ja auch wieder Kult!

Geiler Body oder Brille

Geschäftsmodell Nummer 7: Ich bin authentisch! Ich habe Tattoos und einen geilen Body, und ich schreibe über das harte Leben auf Baustellen und in Rotlichtvierteln, und die Feuilletonisten bewundern die ganze Echtheit, denn genau so haben sie sich das Leben auf Baustellen und in Rotlichtvierteln immer vorgestellt. Komm mit, ich zeige Dir meine Welt, sie ist genau so angenehm sepiafarben wie Rosamunde Pilcher – nur eben, dass ich den geileren Body habe!

Geschäftsmodell Nummer 8: Ich bin Literat und lebe ein Literatenleben in Berlin-Literatenberg. Da geht’s aber richtig wild zu! Neulich ist mal ein Auto bei Gelb noch voll über die Ampel gebrettert, aber das war an dem Tag, wo mein Walkman in der Reparatur war, ein Glück. Und gestern war mein Lieblingsplatz im Literatencafé unverschämterweise von einer Touristin besetzt! So geht’s zu bei uns, und obwohl das ein total spannendes, interessantes Traumleben ist, gibt es doch immer auch Widrigkeiten und nachdenklich machende Sachen in meinem Leben. Und Beziehungsprobleme! Über die diskutieren wir viel. Und du, Leser, das weiß ich, bist unheimlich dankbar für diese Art von Literatur – als Einschlafhilfe, sagt meine Agentin, ist sie in vielen Haushalten unverzichtbar.

Buchpreis? Alles Präteritum

So vielschichtig, so bunt sich das alles auch präsentieren mag, eines ist doch sicher: Gegenwartsliteratur findet immer im Präteritum statt. Das klingt zwar erst mal komisch, hat sich aber über die Jahre bewährt: Der Leser, am Ende seines langen Arbeitstages, will ja nicht aufgeputscht werden, er möchte einsinken, am liebsten sind ihm Plots aus gut aufgearbeiteten Jahrhunderten und mit Bildungsgütesiegel.

Gibt es denn etwa Literatur über Schleckermarktfrauen, Lampedusaflüchtlinge, Politikberater, Hartz-IV-Hochhäuser, Konsumforscher? Das sind alles unsagbar schwierige Themen. Der Leser kann nichts anfangen damit. Und vor allem: Sie passen nicht so gut zur ersten Vergangenheit, wo jedem Verb so eine süße, märchenhafte Melancholie innewohnt, wo die Prosa ein watteweicher Stoßseufzer ist: Jaaa, früher, das waren noch andere Zeiten! Total poetisch irgendwie.

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So, liebe Leser, und jetzt sind Sie sicher neugierig geworden. Könnte es nicht sein, dass auch in Ihnen ein Superautor steckt? Auszuschließen ist das nicht! Wenn Sie ganz sicher gehen wollen, brauchen Sie vor allem ein gutes Thema. Ich habe mich mal schlau gemacht. Folgende Inhalte waren in den letzten Jahren der Burner und haben den Buchpreis abgeräumt: „Großbürgerenkel entrümpelt Villa und findet dabei alte Sachen aus der Nazizeit“ – „Deutsches Bürgerpaar überlegt, ob es mit seinem Leben zufrieden ist“ – „Großmutter der Autorin hat ein schweres Leben (Nachkriegszeit!)“ – „Dresdner Bildungsbürger leben in der DDR so vor sich hin“ – „Autobiografisch gefärbte Frau ist sehr, sehr krank und wird dann wieder gesünder“ – „Autobiografisch gefärbter Herr berichtet von drei Generationen seiner Familie (DDR!)“. Naaa, spüren Sie schon das unerbittliche Anschleichen der Inspiration? Haben Sie vielleicht sogar selbst eine Oma/Erbtante/Haushälterin, die in der Nazizeit gelebt hat? Oder wenigstens DDR? Dann kann schon gar nicht mehr viel schiefgehen. Nur ein paar Fallstricke gilt es zu meiden.

Das sogenannte Talent

Etwa haben manche Menschen einen Job. Bei allem Respekt, daraus ergibt sich eine ungeistige Perspektive aufs Leben. Menschen mit Jobs haben sich angewöhnt, die Welt aus einer bornierten Zeitökonomie heraus zu betrachten, der Aufenthalt im Arbeitsleben trübt oft den Blick für die eigentliche, die poetische Welt, die so reichhaltig im Innenleben floriert. Werden Sie also zunächst Lottogewinner oder Großbürgerspross! Damit wäre eine gute Grundlage da.

Aber vielleicht kennen Sie auch die Gerüchte, für das Herstellen von Literatur brauche man ein sogenanntes Talent, von dem Sie nicht ganz genau wissen, was es ist? Davon sollten Sie sich nicht abschrecken lassen. Talent, das ist so ein Steckenpferd von vermeintlichen Literaturkennern, die sich damit dicke tun. Benötigt wird es eigentlich nicht.

Falls Sie aber große Zweifel an Ihrer Schreibe haben sollten, begeben Sie sich einfach an Orte, wo viel und professionell geschrieben wird: Werden Sie Praktikantin in einer Tageszeitung oder hauen Sie eine Kolumne in irgendeiner Hipnesszeitschrift raus, ganz egal. Hauptsache, Sie sind von Journalisten umgeben. Wenn Sie sich dort nun ein bisschen geschickt anstellen, in dieselben Bars gehen, dieselben Sachen cool finden, ist alles geritzt.

Dann können Sie zwar immer noch nicht schreiben. Aber Sie haben viele Journalisten als Freunde. Und sonst machen Sie doch einfach eine Literatur-Ausbildung, etwa am berühmten Leipziger Literaturinstitut. Dort lernen Sie die Tricks und Kniffe der ganz Großen bis hin zu Ulrike Draesner!

Viel zu gefährlich!

Ganz wichtig aber, und das ist mein ganz persönlicher Tipp: Bohren Sie ruhig quer in der Nase. Schmieren Sie die Marmelade von unten aufs Brot. Ordnen Sie Wattestäbchen nach Größe. Aber begehen Sie einen Fehler nicht: Schauen Sie auf keinen Fall amerikanische Fernsehserien an!

Amerikanische Fernsehserien haben eine unangenehme Neigung, ihre Handlung mit allerhand GEGENWART zu kontaminieren: Irak-Krieg, Alltagsrassismus, Gesundheitssystem, Computerspionage, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, politische Korruption, Google in China, Pharmalobbyismus ... und immer so weiter, you name it. All dies sind Dinge, mit denen Sie sich nicht belasten sollten, um Sinnkrisen zu vermeiden: Was mache ich hier eigentlich? Welche Relevanz hat das? Woher wissen die so viele SACHEN, diese amerikanischen Fernsehserienmacher?

Halten Sie sich immer vor Augen: Das sind Profis, manche von denen werden extra dafür bezahlt, dass sie sich in der Welt auskennen oder, wenn sie sich nicht auskennen, dass sie da rausgehen und Informationen einholen. Viel zu gefährlich! Und auch unfair. Untersuchungen haben ergeben, dass eine Folge „The Good Wife“ etwa das Fünfzigfache an Gegenwart enthält wie ein ganzer Jahrgang an deutscher Gegenwartsliteratur. Legen Sie sich also nicht mit den Falschen an. Wenn Sie wirklich unbedingt fernsehen müssen, nehmen Sie Tierdokus oder eine Literaturverfilmung auf 3Sat.

Klaus Ungerer, geboren 1969, lebt als Schriftsteller, Journalist und Gerichtsreporter in Berlin. 2008 erschien sein Roman „Alles über die Welt“, 2012 „Was weiß der Richter von der Liebe? 24 Straffälle aus dem wahren Leben“.

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