Um das Jahr 240 v. Chr. erhielt der Philosoph und Mathematiker Eratosthenes einen Brief aus der ägyptischen Stadt Syene, dem heutigen Assuan. Der Verfasser des Briefes berichtet, dass am Tag der Sommersonnenwende in Syene niemand einen Schatten besitze. Die Sonne stehe direkt über den Menschen und diese seien zur Mittagszeit vollkommen entkleidete, von nichts als Erdenlicht umgebene Wesen. Und wer an diesem Tag einen Blick in einen Brunnen werfe, könne nichts erkennen, da sein eigener, sich über den Brunnenrand neigender Kopf einen absolut vertikalen Schatten werfe, der unten alles in Dunkelheit tauche.
Eratosthenes verwendete diesen Bericht, um den Umfang der Erdkugel zu bestimmen. In seinem eigenen Heimatort Alexandria besaßen die Menschen zur Sommersonnenwende durchaus einen Schatten und mit dem Winkelunterschied des jeweiligen Schattenwurfs und der Distanz der beiden Orte ließ sich alles Weitere berechnen.
Aber sehen wir uns diesen Bericht einmal durch die Augen eines normalen Lesers, eines Nichtmathematikers an. Was für ein ungeheures, elementares Grauen wird hier erzählt? Was für ein Ort ist Syene? Da leben Menschen ohne Schatten in einer südlichen Stadt am Nil. Wir sehen alles einhüllendes Sonnenlicht und Menschen, die darin wie in einer seltsamen Isoliersubstanz gefangen sind. Ein Ort, wo Blicke in Brunnen unmöglich sind, wo jeder Brunnen ein schwarzes Loch ist, das nur immer genau die Finsternis zurückgibt, die der Betrachter hineinwirft. Menschen, die in die Schächte fallen, sind verloren, unsichtbar.
'Hard Boiled Wonderland' war das erste Buch von Murakami, das ich gelesen habe. Ich war sechzehn. Ich las sofort alle anderen.
Wir begegnen „Syene“ immer wieder in den Büchern von Haruki Murakami. Etwa in „Weltende“, jenem kleinen, von Mauern umgebenen Dorf im Roman „Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt“ aus dem Jahr 1985. Der Roman handelt von einem Mann, der für eine „Das System“ genannte Firma als „Kalkulator“ tätig ist. Er ist, nachdem ihm ein Chip ins Gehirn implantiert wurde, eine menschliche Datenverschlüsselungsmaschine, die komplexe kryptografische Aufgaben bewältigen kann. Ein Teil seiner Persönlichkeit hat sich dabei allerdings abgespalten, in einem unbewussten Akt von Selbstschutz. Von einem alten Professor, der in den Tunnelsystemen von Tokio arbeitet, erfährt er, dass das Implantat in seinem Kopf ihn bald umbringen wird. Doch sein verletztes Gehirn hat sich tief im Inneren einen Ort geschaffen, an dem es ewig weiterexistieren kann.
Wie die immer weiterlaufenden, kleiner werden Kommastellen einer irrationalen Zahl verliert sich das Leben in „Weltende“, diesem abgekapselten Gehirnbezirk, in einem ewigen Echo. Beim Betreten des Weltendes muss der Protagonist seinen Schatten abgeben. Danach wird er in der Ortsbibliothek angestellt, um aus verstaubten Einhornschädeln Träume zu lesen. Sein Schatten fristet währenddessen ein elendes Dasein als Zwangsarbeiter in einer Baracke. Man erwartet, dass er den ersten Winter nicht überlebt. Am Ende entschließt sich der namenlose Bewohner des Weltendes, seinen Schatten zu befreien, aber die Flucht misslingt, ganz zuletzt überlegt er es sich anders, und er verbleibt in der Stadt, dem geborgenen, aber auch unmenschlichen Ort ohne Schatten, ohne Zeit.
Es war dies das erste Buch von Murakami, das ich gelesen habe. Ich war sechzehn. Ich las sofort alle anderen, die ich auftreiben konnte, die Erzählsammlung „Der Elefant verschwindet“ und die ungeheuren, elektrisierenden Romane „Wilde Schafsjagd“ und „Mister Aufziehvogel“. Ich war süchtig. Murakamis Werk wurde sogar meine erste „Underground“-Erfahrung, denn in meiner besessenen Suche nach jedem geschriebenen Wort, das ich von ihm finden konnte, stieß ich im damals noch jungen und wenig kontrollierten Internet auf Raubkopien seiner ersten beiden, heute vergriffenen Bücher in englischer Übersetzung: „Hear the Wind Sing“ und „Pinball, 1973“. Ich weiß noch: ich brachte sie, auf einer alten 3,5’’-Diskette gespeichert, durch strömenden Regen zu einem Freund, der ebenfalls Murakami-Fan war. Dann lasen wir uns abwechselnd daraus vor.
Im Roman ,Kafka am Strand‘ spielt sich die gesamte Handlung, so zumindest könnte eine Interpretation lauten, sogar ausschließlich innerhalb eines traurigen Liedes ab.
Um der Klärung der Frage, worin der Zauber dieser Bücher besteht, näherzukommen, kann es aufschlussreich sein, sich zu überlegen, wo diese Geschichten spielen. Das Wort Parallelwelten, das oft genannt wird, ist viel zu flach. Ein Roman von Murakami spielt, wie erwähnt, zur Hälfte in dem abgegrenzten Gehirnbezirk eines todgeweihten Mannes. Ein anderer in einem nur an der Hand eines bestimmten Musikstücks, Leoš Janáčeks „Sinfonietta“, betretbaren „1Q84“, in dem zwei Monde am Himmel stehen. Immer wieder tritt darin eine seltsame Nebenfigur auf, ein untoter Gebühreneintreiber des japanischen Senders NHK, der mit den Leuten, bei denen er anklingelt, regelrechte Verhöre durch die geschlossene Wohnungstür anstellt. Vielleicht hat ihn irgendetwas, wie Kafkas Jäger Gracchus, an die Welt gebunden, sodass er nicht sterben kann und immer weiter seine Aufgabe ausführen muss, die niemanden glücklich macht, ihn selbst am wenigsten.
Im Roman „Kafka am Strand“ spielt sich die gesamte Handlung, so zumindest könnte eine Interpretation lauten, sogar ausschließlich innerhalb eines traurigen Liedes ab, das eine Frau namens Saeki einst schrieb, nachdem ihr Jugendgeliebter umgebracht wurde. Über die Öffnung des „Eingangssteins“ eines Schreins schafft sie es, in ihre eigenen schmerzlichen Erinnerungen einzudringen beziehungsweise diese Erinnerungen als Folie über die Wirklichkeit zu projizieren. Dadurch entstehen Verwerfungen und Interferenzen, das Leben verschiedener Menschen wird beeinflusst, ein Junge namens Kafka Tamura macht eine schmerzhafte Verwandlung durch.
Nur ein nach einem mysteriösen Unglück gegen Ende des Zweiten Weltkriegs innerlich „vollkommen leerer“ alter Mann namens Nakata, der mit Katzen sprechen kann und dessen Schatten blasser ist als der anderer Menschen, treibt mit der entrückten Sicherheit eines Schlafwandlers durch diese von Trauererinnerungen kontaminierte Welt und öffnet den Eingang erneut, um das alte Gleichgewicht wiederherzustellen. Diese Interpretation freilich ist falsch, denn sie ist nicht die einzige. „Kafka am Strand“ ist, wie die meisten längeren Erzählungen Murakamis, ein proteisches Lebewesen, ein – um es paradox zu formulieren – „hermetisch offener“ Roman.
Claude Lévi-Strauss bemerkte 1980 in seinem Radiovortrag „Mythos und Bedeutung“: „Es schien so, als ob ein bestimmter Stamm den Planeten Venus bei vollem Tageslicht sehen konnte, etwas, das ich für ganz unmöglich und unglaubhaft hielt. Berufsastronomen, denen ich diese Frage vorlegte, bestätigten mir natürlich, dass wir ihn nicht sehen. Dennoch sei es nicht ausgeschlossen, dass einige Völker, die die vom Planeten tagsüber ausgestrahlte Lichtmenge kennen, ihn sehen können. Später sah ich alte Navigationsbücher durch, die unserer eigenen Zivilisation entstammen, und es scheint, als seien die früheren Seefahrer sehr wohl in der Lage gewesen, den Planeten bei vollem Tageslicht zu erkennen.“
Etwas Unsichtbares sichtbar zu machen scheint ein Grundprinzip von Haruki Murakamis Literatur zu sein. Manchmal muss man an sonderbare Orte gehen, um sehen zu lernen. Der Protagonist von „Mister Aufziehvogel“, Toru Okada, klettert dazu in einen Brunnen: „Kurz nach fünf Uhr morgens war der Himmel schon hell, aber dennoch sah ich oben eine Menge Sterne. Es war genau so, wie Leutnant Mamiya mir erzählt hatte: Vom Grund eines Brunnens kann man am helllichten Tag Sterne sehen. In die vollkommene Halbmondscheibe Himmel waren säuberlich, wie Proben von seltenen Mineralien, schwach glimmende Sterne eingebettet.“
Häufig wohnt unterhalb der Beschreibungen in Murakamis Romanen ein Nichts, ein kaum benennbares Grauen.
Etwas später bemerkt er: „Das waren meine Sterne, für niemanden sichtbar außer mir, hier unten im dunklen Brunnen. Ich nahm sie als mein eigen an, und sie überschütteten mich ihrerseits mit Energie und Wärme.“ Trotzdem überkommt ihn auch, beim Anblick des Sternenhimmels, eine Ahnung der grenzenlosen Leere, in der wir uns befinden. Die Erde, so Toru, „konnte schon morgen – und wir alle mit ihr – durch ein augenblickhaftes Aufblitzen von irgendetwas oder durch eine geringfügige Verschiebung im Energiezustand des Universums fortgeblasen werden.“
Häufig wohnt unterhalb der Beschreibungen in Murakamis Romanen ein Nichts, ein kaum benennbares Grauen. Einem Mann kommt der Schatten abhanden – nun, das ist, zumindest in der deutschen Literatur, ein bekanntes Motiv, und selbst ohne Literaturgeschichte fühlt jeder sofort, wie entsetzlich es wäre, tatsächlich keinen Schatten mehr zu werfen. Auch das plötzliche Verschwinden einer Ehefrau, wie es in „Mister Aufziehvogel“ geschieht, ist ein direkt nachvollziehbarer Schrecken. Aber wie sieht es beispielsweise mit diesen sonderbaren Pappfiguren aus, die uns in Romanen wie „Kafka am Strand“ und „1Q84“ begegnen? Johnny Walker und Colonel Sanders, die bekannten beiden Trademarkfiguren, bewegen sich in „Kafka am Strand“ lebendig durch die Welt und antworten auf die Frage, was sie sind, mit der Feststellung: „Nur ein Prinzip.“ Auch in „1Q84“ wird Ähnliches über die mysteriösen „Little People“ angedeutet, die imstande sind, einen Kokon aus Luft zu bauen und einen Menschen darin verschwinden zu lassen.
Was auf den ersten Blick wie ein klassisch postmoderner Witz wirkt (eine Figur sagt über sich, „ich bin nur ein Symbol/eine Metapher“), enthält doch, je tiefer man in die Geschichte eintaucht, ein fast unaushaltbares Element von Grauen. Könnten wir die reale Verkörperung eines Prinzips überhaupt aushalten? Johnny Walker entnimmt Katzen bei lebendigem Leib ihr Herz und isst es auf. Er „will“ es gar nicht, aber er muss es. Auch in unserer Realität geschehen solche Dinge. Was, wenn auch hier ein dunkles, nicht änderbares Prinzip am Werk ist? Vielleicht sind einige Menschen auf der Welt nur Handschuhe, die sich irgendein finsteres Prinzip zur Tarnung übergestreift hat.
Haruki Murakami wird manchmal als der große Poet und Epiker der Leere bezeichnet. Freilich lebt diese Leere in einer überquellenden Fülle aus Geschichten, Abschweifungen und faszinierenden Charakterstudien. Seine Figuren sind häufig unauffällige Menschen, die ein eintöniges Leben führen, oft sind sie reine Reproduzenten, wie etwa Tony Takitani aus der gleichnamigen Erzählung, der alles fotorealistisch nachzeichnen kann, oder die Protagonistin der traurigen Geistergeschichte „Hanalei Bay“, die jedes gehörte Stück auf dem Klavier nachspielen, aber nichts selbst erfinden kann, oder Kitaru aus der Geschichte „Yesterday“ (aus dem eben erschienenen Erzählband „Von Männern, die keine Frauen haben“), der, obwohl in Tokio geboren, seine Energie darin investiert, den Kansai-Dialekt perfekt zu beherrschen.
Wenn schulisch-triviale Erkenntnisse erst einmal aus dem Weg geschafft sind, wird der Lesegenuss noch viel größer.
Sie leben allein, haben strenge Gewohnheiten, essen immer dasselbe, lesen, schwimmen jeden Nachmittag nach der Arbeit ihre Längen im Hallenbad. Manche Figuren sind sogar noch reduzierter, sind reine Prinzipien oder Schattenwesen aus einer Zwischendimension.
Und dann ist da die Ebene der Interpretation selbst: auch in ihr herrscht unerwartete Leere. Denn die Frage, was „dies alles“ bedeutet, wird mitunter mitten in der Geschichte vorausgesehen und direkt im Erzählprozess zersetzt. Da ist etwa die spätnächtliche Diskussion darüber, was ein Symbol sei, aus dem Roman „Sputnik Sweetheart“. Da ist die „Stadt der Katzen“ in „1Q84“, die als Metapher für das Leben einer Hauptfigur bezeichnet wird. „So was sagt man dem Leser doch nicht!“, ruft eine konservative, alteuropäische Kritikerstimme im eigenen Kopf.
Dabei ist, wenn solche schulisch-trivialen Erkenntnisse erst einmal aus dem Weg geschafft sind, der Lesegenuss noch viel größer. Ja, das hier ist ein Gleichnis, sagt die Erzählung, aber davon wird auch nichts besser, Menschen werden trotzdem leiden und in einem schwer begreiflichen, ungastlichen Universum nacheinander greifen, um Halt zu finden. Schon in dem frühen Roman „Wilde Schafsjagd“ wird das eigenartige Geschäft der literarischen Deutung als Staffellauf sinnloser Elemente dargestellt:
„Symbole sind sozusagen Ehrenbürgermeister des Bandwurmuniversums“, lässt der Erzähler uns wissen: „Im Bandwurmuniversum nimmt es nicht groß wunder, wenn eine Kuh nach einer Zange verlangt. Sie wird sie schon irgendwann bekommen. Das hat mit mir nichts zu tun. Wenn allerdings die Kuh versucht, über mich zu ihrer Zange zu kommen, dann sieht die Sache völlig anders aus. Dann werde ich in ein Universum gezogen, wo man gänzlich anders denkt. Und dort nehmen, das ist das Schlimmste, die Geschichten kein Ende. Ich frage die Kuh: ‚Warum willst du eine Zange haben?‘ ‚Weil ich wahnsinnigen Hunger habe‘, antwortet die Kuh. Ich frage: ‚Warum brauchst du denn eine Zange, wenn du Hunger hast?‘ ‚Die muss ich an die Zweige des Pfirsichbaums binden‘, antwortet die Kuh. Ich frage: ‚Warum denn an den Pfirsichbaum?‘ ‚Ich hab doch den Ventilator weggegeben‘, antwortet die Kuh. Und so weiter ohne Ende. Über kurz oder lang fange ich an, die Kuh zu hassen, und die Kuh fängt an, mich zu hassen. Das ist das Bandwurmuniversum.“
In Murakamis zuletzt erschienenem Roman „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ kommen all diese Elemente in einer so hohen Konzentration zusammen, dass sie beinahe unsichtbar werden: die Leere, das namenlose Grauen, das Mysterium nachträglicher Sinngebung und Interpretation. Im Roman wird der titelgebende Held eines Tages aus der Gemeinschaft seiner besten Freunde ausgeschlossen und erfährt erst Jahre später, dass dies aufgrund einer Anschuldigung geschah: eine zu dem engen Freundeskreis gehörende Frau behauptete, Tzukuru Tazaki habe sie vergewaltigt.
Tazaki sucht seine Freunde von damals auf und erfährt, dass diese der Anschuldigung schon damals kaum Glauben schenkten. Sie hätten schon gewusst, dass er so etwas niemals tun würde, sagt man ihm. Aber trotzdem schlossen sie ihn aus, mit der vollen Härte von Menschen, die absolute Gewissheit besitzen. Wie von einem seltsamen Rückenwind angetrieben haben sie diese Parallelwelt betreten. Es gab gar keinen starken psychologischen Grund für ihr Verhalten, was alles umso unheimlicher macht. Der Abgrund zwischen den Menschen scheint unermesslich, Lebensläufe biegen einfach irgendwo ab, ohne Grund, Handlungen haben keine Motivation. Und doch ist da eine Frau, die Tzukuru Tazaki mehr als Sinn in der Welt gibt.
Die Romane von Haruki Murakami sind, finde ich, mit etwas zu vergleichen, das noch gar keinen richtigen Namen besitzt, so jung ist es: figure running, Laufzeichnen, drawrunning.
Bisher habe ich es verschwiegen, aber: diese Romane sind alle Liebesgeschichten. Liebe ist darin jener Zustand, der sich einstellt, wenn zwei Menschen eine Parallelwelt freiwillig teilen. Aber wenn es schon riskant und schwierig ist, in einem Roman von Liebe zu sprechen, so ist es bestimmt unmöglich, von ihr in diesem als Lobrede verkleideten Bandwurmuniversum zu sprechen. Nur so viel: wer wirklich etwas über das Rätsel zwischengeschöpflicher Zuneigung erfahren will, der lese „Frosch rettet Tokyo“ aus dem Erzählband „Nach dem Beben“. Es ist meine Lieblingsgeschichte von Haruki Murakami, ich habe sie viele, viele Male gelesen, nie ohne Rührung.
Eines Tages, als Katagiri von der Arbeit nach Hause kommt, wartet ein riesiger sprechender Frosch in seiner Wohnung auf ihn. Dieser erklärt ihm, dass Katagiri ihm helfen müsse, Wurm zu besiegen. Wurm sei ein Wesen, das unterhalb von Tokio lebe und bald ein verheerendes Erdbeben verursachen werde. Frosch erklärt: „Niemand weiß, was Wurm in seinem trüben Hirn ausheckt. Kaum jemand hat ihn je gesehen. Normalerweise schläft er die ganze Zeit. In der Dunkelheit und Wärme des Erdinneren verschläft er Jahre und Jahrzehnte. Natürlich sind seine Augen degeneriert, und vom vielen Schlafen ist sein Hirn zu einer klebrigen Masse zusammengeschmolzen. Ich nehme an, dass er im Grunde gar nichts denkt und nur mit seinem Leib jedes noch so ferne Grollen und Rumpeln erspürt, es speichert und dann den größten Teil davon durch irgendeinen chemischen Vorgang in Hass umwandelt. Warum das geschieht, weiß ich nicht. Ich kann es mir auch nicht erklären.“
Aber was Frosch erklären kann, ist der Grund, warum er ausgerechnet Katagiri ausgewählt hat: der sei nämlich einer von den Unsichtbaren, die einfach ihre Arbeit machen und allein leben, unbedankt und übersehen, die geheimen Helden der Gegenwart. Der Kitt für die Fugen der Welt. Ich möchte diese zarte, feine Geschichte nicht durch weitere Nacherzählung verbeulen, also verrate ich nichts über den Ausgang ihres gemeinsamen Auftrags, Tokio zu retten.
In dem autobiografischen Essay „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“ vergleicht Haruki Murakami das Romaneschreiben mit Langstreckenlaufen. Ein auf den ersten Blick einfacher Vergleich, beides sind Tätigkeiten, für die man Ausdauer und Kraft benötigt – aber er ist doch auch auf einer tieferen Ebene passend, denn irgendwann befindet man sich, ob als Romancier oder Langstreckenläufer, mitten im Lauf, man sieht weder Anfang noch Ende. Man ist in einem Niemandsland, wo nichts einem verraten kann, ob man die Strecke bewältigen oder mittendrin kaputtgehen wird. Es hängt von den eigenen Energiereserven ab, ob am Ende etwas Einheitliches, Nachvollziehbares entsteht.
Ich erlaube mir, diesen Vergleich sogar noch etwas zu erweitern: die Romane von Haruki Murakami sind, finde ich, mit etwas zu vergleichen, das noch gar keinen richtigen Namen besitzt, so jung ist es: figure running, Laufzeichnen, drawrunning. Ich entdeckte diesen neuen Trend vor Kurzem im Internet. Die Kunst besteht darin, so durch das Straßennetz einer Stadt zu laufen und seinen Weg dabei von einer GPS-App aufzeichnen zu lassen, dass dabei eine geometrische Figur entsteht. Der Läufer selbst ist die Bleistiftspitze, der Cursor.
Verehrter Haruki Murakami, seien Sie bedankt für die ungeheuren, belebenden Lang- und Kurzstreckenläufe durch das Innere der Elefantenfabriken in unseren Köpfen.
Einmal versuchte ich, ein Pferdchen zu laufen, aber auf dem Stadtplan sah es weniger überzeugend aus als in meiner Vision. Ich hatte keine Balance gefunden zwischen dem Gesamtbild und den einzelnen Details. Und gerade in dieser Balance besteht die Kunst von Haruki Murakami: Er ist auf allen Ebenen gleich stark und in gleicher Leuchtkraft vorhanden: in den einzelnen Sätzen, den Szenen, den Figuren, der Story, dem Gesamteindruck.
Der nie um poetische Vergleiche verlegene Reinhold Messner wurde einmal gefragt, warum er die ganze Zeit auf gefährlich steilen Felsen herumklettere. Seine Antwort lautete, er habe die Vorstellung, mit seinem Körper zwar für alle anderen unsichtbare, aber unheimlich schöne abstrakte Formen in die Gebirgslandschaft einzuschreiben. Geschichten sind eine Möglichkeit, diese Formen für alle sichtbar zu machen, in der nicht weniger gefährlichen Landschaft unseres Unterbewussteins, welches der alte Professor in „Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt“ an einer Stelle als „Elefantenfabrik“ bezeichnet.
Ich vermute, jede Lobrede ist, abgesehen von einem Bandwurmuniversum, im Herzen auch eine Dankesrede – und an dieser Stelle möchte ich dem Preisträger danken: Verehrter Haruki Murakami, seien Sie bedankt für die ungeheuren, belebenden Lang- und Kurzstreckenläufe durch das Innere der Elefantenfabriken in unseren Köpfen, die die meiste Zeit unverbunden nebeneinander existieren. Unsere Welt wäre ohne Ihr Werk ärmer, ja möglicherweise kaum verständlich. Ich empfinde es als ein großes Glück, Ihr Zeitgenosse zu sein, als ein ähnlich unverdient scheinendes Glück wie das, welches Katagiri über die Freundschaft von Frosch empfunden haben muss. Ihre Bücher machen uns weniger einsam. Ich gratuliere Ihnen zum „Welt“-Literaturpreis des Jahres 2014.