"Bibliothek & Lesegesellschaft", flüstert der kleine, weiß lackierte Briefkasten an der Amalienstraße, mühelos poltern die grellen Fassaden der Copyshops ringsum dagegen an. "Poesie", beharren die Pflastersteine, und ausgerechnet der Hinterhof hält dieses Versprechen. Zeitgenössische Plastiken bewachen dort einen gläsernen Vorbau, der ausschaut, als hätte man ihn eben erst aus Zellophan gewickelt. Das alte Atelierhaus ist nicht wiederzuerkennen. Das Münchner Lyrik-Kabinett, Deutschlands größte Bibliothek für Poesie, auch nicht.
Jahrelang nämlich führte der Weg ins Lyrik-Kabinett durch unverkennbar universitäre Flure, über Noppenfußböden, an schwarzen Brettern mit ganz unpoetischen Ankündigungen vorbei. Der Dichter las damals im Souterrain, nachher diskutierte man am Fuß der nächsten Betontreppe, und nur ein Bruchteil der unaufhörlich wachsenden lyrischen Bibliothek war in einem Hinterzimmer zugänglich. Der Rest verstaubte auf dem Speicher der Ludwig-Maximilians-Universität, als hätten Gedichte nur noch diese Wahl: Keller oder Dachboden.
Dabei ließe sich das Projekt von Ursula Haeusgen, Initiatorin und Seele des Lyrik-Kabinetts, in etwa so beschreiben: Sie will Lyrik auf die ebene Erde holen und auf der Straßenseite des Lebens zugänglich machen. Alle Lyrik übrigens, aus aller Herren Länder und - für alle. Zu diesem Zweck erwirbt die 1942 geborene gelernte Kauffrau pro Jahr etwa 1500 Gedichtbände, hat das Rückgebäude der Amalienstraße 83 auf 66 Jahre von der Universität gepachtet und auf eigene Kosten renoviert, hat die "Stiftung Lyrik-Kabinett" mit einer Million Euro ausgestattet ("für wenn ich mal stirb") und beschäftigt fünf Teilzeitkräfte.
Öffentliche Zuschüsse beansprucht sie kaum. Wird sie auch vom Kulturreferat unterstützt, ist ihr Lohn allzu oft die Sorte Lächeln, die nur Kindern und Enthusiasten zuteil wird. Aber Aufmerksamkeit ist Ursula Haeusgen ohnehin so peinlich, daß sie fahrig darüber wird. Die feierliche Wiedereröffnung des Lyrik-Kabinetts wird sie deshalb zwar freuen, aber auch ein wenig quälen. Wortkarg wird sie, spricht man sie auf ihr Mäzenatentum an. "Sie hat mich lassen", sagt sie über ihre Familie, die sich ihr Vermögen mit einem Hydraulik-Unternehmen verdient, dem mittlerweile Sohn Karl vorsteht. Schon Ursula Haeusgens Vater übrigens, der Unternehmensgründer, hatte ein Herz für die Kunst. Edelkomparse an den Münchner Kammerspielen war er, bevor er Maschinenbauer wurde.
Beredt hingegen ist Haeusgen, wenn sie ihre Künstlerbücher aus den Schubladen des wandlangen Schranks zaubert, eine Anthologie mit Naturgedichten von Sylvia Plath oder Ezra Pound etwa mit famosen Kaltnadel-Radierungen von Jim Dine, das ganze in einem Schuber mit Bronzeplatte. Gesamtauflage: 175 Stück.
Neben diesem Prachtband nehmen sich die zahllosen laminierten Pappbändchen im zentralen Magazin eher bescheiden aus. Ursula Haeusgen jedoch sind sie nicht weniger wert: Sie will dokumentieren, sammelt nach Maßgaben der Soziologie, und hat sie auch ein Gespür für Qualität, so ist Qualität doch nicht ihr einziger Maßstab. Im Lyrik-Kabinett gilt der Vers vielmehr als Phänomen, als kleines, auch mal therapeutisches Wunder im menschlichen Alltag. 30 000 Gedichtbände sind in 800 Bücherkisten in der Amalienstraße angekommen, in Europa hat nur Londons "Poetry Library" mehr in den Regalen.
Der Dichter Michael Lentz, der vor vielen Jahren Haeusgens Begeisterung für auf ein bestimmtes Büttenpapier gedruckte Erzählungen Robert Walsers teilte, nennt das Lyrik-Kabinett "Deutschlands wichtigste stationäre Institution für Poesie mit der umfassendsten Präsenzbibliothek." Vor noch nicht allzu langer Zeit hat der Germanist Karl Otto Conrady hier eine Woche verbracht, um die jüngste Auflage seines maßgeblichen "Buchs der Gedichte" fertig zustellen.
Aber das Lyrik Kabinett ist mehr als ein Archiv. Was 1989 als Buchhandlung in einer kleinen Seitenstraße begann und als Geschäft zwischen den teuren Uhren, Suiten und Anzügen auf der Maximilianstraße durchaus triumphal an der Ladenmiete ebenso wie an Ursula Haeusgens wachsende Abneigung gegen Verkäufe scheiterte, hat sich zu einem Ort der Begegnung gemausert. Die Gästeliste liest sich wie ein "Who is Who" der Poesie: John Ashbery, Volker Braun, Hilde Domin, Kurt Drawert, Seamus Heaney oder Michael Hofmann waren zu Gast, Durs Grünbein, Raoul Schrott oder Michael Lentz lasen hier, lange bevor sie Preise sammelten fast wie das Kabinett Gedichte. Antje Vollmer stellte im Kabinett ihre Lieblinsgedichte vor, Ruth Klüger las Heinrich Heine.
In ein paar Tagen wird sich Cees Nooteboom die Ehre geben - in einem Hinterhaus aus Glas und Versen. Wer in den Abend stolpert, kommt an diesen Zeilen nicht vorbei - sie stammen vom Spanier Jaime Gil de Biedma, hängen im Durchgang und sind womöglich Programm: "Immer dachte ich, daß ich Dichter sein wollte, aber im Grunde wäre ich lieber Gedicht."