Auch in China wogt in den Medien die Debatte über Amy Chuas Erziehungsphilosophie der Tigermütter. Moderne Pädagogen, Lehrer und Eltern kritisieren den puren Leistungsdruck als nicht zeitgemäß. Die Methode wird von ihnen auch nicht als Grundlage des chinesischen Erfolgsmodells angesehen, sondern als Gefahr für dessen Weiterentwicklung. Einer der am meisten diskutierten Beiträge dazu stammt von Erziehungswissenschaftler Yang Dongping. Der 61jährige Professor an der Ligong-Universiät Peking gibt seit 1993 Chinas "Blaubücher zur Erziehung" heraus. Yangs Blog, den unser Korrespondent Johnny Erling mit freundlicher Genehmigung des Autors leicht gekürzt übersetzte, wurde bisher von 2,3 Millionen Besuchern gelesen.
Ich hätte nicht gedacht, dass zum Ende des Tigerjahres jetzt noch eine "Tigernachricht" bei uns hineinplatzt, die alle Welt aufwühlt. Das Buch "Battle Hym of the Tiger Mother" (auf deutsch: "Die Mutter des Erfolgs"), verfasst von der chinesischstämmigen US-Professorin Amy Chua, wird überall in hohen Tönen als gestrenger Erziehungsweg chinesischer Mütter gerühmt. Es heißt des öfteren: "Chinas Mütter besiegen die Mütter in den USA." Diese Nachricht hat in den USA wie eine "zweite Atombombe der Erziehung" eingeschlagen, nachdem im vergangenen Jahr Schüler aus Shanghai bei den Pisa-Prüfungen weltweit am besten abschnitten. Ungeachtet solcher Nachrichten soll hier festgestellt werden, dass dieser vermeintliche Schlachtruf nicht nur eine Tragödie für unsere chinesischen Mütter, sondern auch ein Trauerspiel der chinesischen Erziehung ist.
"Tigermütter" sind bei uns unter dem Namen "verrückte Mütter" bekannt. Sie begründen ihre Strenge damit, dass sie gar nicht anders handeln könnten, wenn sich ihre Kinder unter der Politik des Einzelkindes und härtester Konkurrenz, welches Kind es auf die bessere weiterführende Schule schafft, behaupten sollen. Solche Mütter haben aber ihren Kindern gegenüber oft ein schlechtes Gewissen.
Bei Amy Chua ist es anders. Sie lebt im Erziehungsumfeld der USA. Sie behauptet, dass ihrer Hauserziehung als "chinesisches Modell" allgemeine Gültigkeit zukomme. Das gilt etwa für ihre "zehn Verbote", wonach Kinder außer Lernen nichts anderes mehr machen dürfen. Mit dieser Erziehung setzt sich Amy Chua ab von den meisten amerikanischen Familien. Die sehen ihre Kinder als verletzliche und schwache Wesen an, die sie oft ermuntern und loben müssen. Chinesische Tigermütter glauben dagegen, dass ihre Kinder von klein auf über einen starken Willen verfügen und sie mit Schimpfen und Drohen Druck auf sie ausüben können. Eine solche Mutter verfährt nach drei Erfolgsrezepten: Sie ignoriert die Würde ihrer Kinder, ist überzeugt davon, dass Kinder Eltern gehorchen müssten und die Führung durch ihre Eltern brauchten.
Dieses "Tigermutter-Erziehungskonzept" unterhöhlt aber grundlegende Werte der Pädagogik und ihrer Grundprinzipien. Zweifellos ist es möglich, die Schulleistungen von Kindern durch Disziplin, Einpauken, hohen Druck und Strafen zu erhöhen. Das ist bei militärischem Drill oder artistischem Training nicht anders. So werden Kinder vor Prüfungen durch Übungen gedrillt. Das nimmt ihre meiste Zeit in Beschlag, sogar die des Schlafens und Ausruhens. Spielen und Freizeitlektüre sind ihnen verboten. Erst recht wird bei ihnen keine Entwicklung kritischen Denkens ermutigt. Erwünscht ist das Einüben und Erlernen stereotyper standardisierter Antworten. Die Kinder werden durch ein "Meer an Fragen" auf eine Prüfungssituation so vorbereitet, dass sie die Fragen sofort richtig beantworten können. Als schlimme Folge dieses Modells wird ihnen jegliches Interesse am Lernen, alle Fantasie und Kreativität abgetötet. Das führt dazu, dass sie von klein auf Widerwillen gegen Lernen empfinden.
Manche Tigermutter meint, dass es völlig reiche, wenn ihr Kind eine hohe Schulbildung erreicht und einen guten Job bekommt. Sie wünschen gar nicht, dass aus ihm ein Einstein oder Bill Gates würde. Aber ihre Art der Erziehung bringt ein Risiko mit sich. Alleiniges Streben nach guten Noten kann zu mangelhaftem Sozialverhalten und Persönlichkeitsdefiziten führen. Eltern, die Aktivitäten ihrer Kinder außerhalb der Schulzeiten wie Spielen und Freunde treffen für unnütze Ablenkungen und Zeitvergeudung halten, wissen nicht, dass diese für das Heranwachsen wichtiger als gute Noten sind. Amy Chua, die Kindern verbietet, an Schulaufführungen teilzunehmen, übertrifft damit sogar noch Chinas verrückte Mütter. Weil sie ihre Kinder von Anfang an auf das alleinige Bestehen des Prüfungswettbewerbs trimmen, sehen diese in ihren Mitschülern Konkurrenten, sie sehen nur, wer auf- und absteigt, wer "überlebt oder stirbt". Unter ausgezeichneten Schülern ist die Konkurrenz noch härter. Die Disziplinierung und die Unselbstständigkeit, in der die Kinder gehalten werden, führen dazu, dass es vielen später an Lebenstauglichkeit mangelt, dass sie sich merkwürdig verhalten und ihre Persönlichkeit nicht allumfassend entwickeln. Solche Probleme kommen oft erst zum Vorschein, nachdem sie erwachsen sind.
Wollen wir Menschen mit Persönlichkeit oder nur Dressierte heranziehen? Das ist nicht nur eine Frage der Methode. Tigermütter halten an tradierten Wertevorstellungen von Eliten oder "Drachenprinzen" fest. Der Ruf in Chinas Erneuerungsbewegung des 4. Mai 1919 hieß aber "Rettet die Kinder". Er öffnete einen Weg zur modernen Erziehung, entdeckte die Kinder, schützte ihre Rechte und befreite sie. Kinder sollten wie Kinder und nicht als Erwachsene oder als Werkzeuge für eine erwachsene Gesellschaft behandelt werden. Tao Xingzhi (Red: berühmter Pädagoge:1891-1946) hat über den Wert einer Bürger-Erziehung gesprochen. Ihm war díe Erziehung des "Menschen im Menschen" und nicht des "einen gegen den anderen" wichtig. Ohne dieses zivilbürgerliche Denken lassen sich Kinder nicht normal erziehen.
Heute ist unsere Gesellschaft überall von lärmender, írreführender Vermarktung erfüllt: man will "ausgezeichnete Schüler erzeugen", soll alles tun, um nicht "schon an der Startlinie zu scheitern", glaubt, man könnte "1000 englische Wörter nach 24 Stunden beherrschen", oder "Vierjährigen logisches Denken antrainieren". Noch nie waren die Erziehungsmaxime der Gesellschaft so erschreckend verzerrt. Wie sieht unsere Zukunft also aus, wenn sie der heutigen Erziehung weiter folgt? In diesem Sinne sind wir am gefährlichsten Zeitpunkt angelangt! Ist es etwa nicht so?