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Kultur

Lateiner gegen Germano-Yankees

| Lesedauer: 8 Minuten
Der erste Nord-Süd-Konflikt wurde in Waterloo entschieden, und Kaiser Napoleon war ein Märtyrer des Mittelmeers. Die kulturellen Grenzen in Europa sind viel älter als der aktuelle Streit um den harten oder weichen Euro

Vor fünfzig Jahren, am 8. Juli 1962, legten bei einer Messe in der Kathedrale von Reims General de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer den Grundstein der deutsch-französischen Freundschaft. Von nun an würden, so de Gaulle in seinen privaten Aufzeichnungen, „der alte Franzose und der noch ältere Deutsche“ gemeinsam die europäische Kathedrale bauen.

Vor fünfzig Jahren, am 19. März 1962, erlangte Algerien seine Unabhängigkeit von Frankreich. In Algerien hatte 1960 der erste französische Kernwaffenversuch stattgefunden; im Vertrag von Evian setzte Frankreich durch, die Testanlagen in der algerischen Sahara noch weitere fünf Jahre nutzen zu können. Mit der Force de Frappe machte de Gaulle Frankreich zur Atommacht.

Zwischen der Messe von Reims und dem Vertrag von Evian gab es für de Gaulle einen Zusammenhang. Die Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland konnte nur Bestand haben, wenn zwischen beiden Ländern ein Ungleichgewicht herrschte. Die Force de Frappe sicherte Frankreichs Platz unter den Weltmächten. Im vereinten Europa würde Frankreich die politische Führungsrolle beanspruchen – und Deutschland würde diesen Anspruch zu honorieren haben. Mit dieser Zielsetzung wurde der Gaullismus über linke und rechte Parteigrenzen hinweg zu einer Konstante der französischen Politik.

Vor fünfzig Jahren erschien in Toulouse ein Buch mit dem Titel „L’idée latine“. Der Autor Roger Barthe beschrieb darin politische Ängste und Wunschvorstellungen, die in der europäischen Einigungseuphorie verdrängt wurden – und heute wieder sichtbar werden. Das Europa des gemeinsamen Marktes, so Barthe, war als Falle für Frankreich konzipiert. Mit wirtschaftlichen Mitteln würde Deutschland versuchen, auf dem Kontinent erneut eine Vormachtstellung zu erreichen – und Frankreich damit demütigen.

Roger Barthe war ein „homme du midi“, Verfasser eines Okzitanisch-Französischen Wörterbuches und Mitbegründer der Zeitschrift „Occitania“. In der Kollaborationsregierung des Marschalls Pétain war er zum Präfekten von Vichy ernannt worden. In Vichy träumte man von der Errichtung eines „Etat Occitan“. Die militärische Niederlage sollte als Chance zu einer Erneuerung Frankreichs genutzt werden, die vom Süden des Landes ausging und sich gegen den „nördlichen“ Zentralstaat der Jakobiner richtete. Hätte Vichy länger gedauert, schrieb der bekannte Historiker Emmanuel Le Roy Ladurie, die Franzosen des „freien“ Südens und die Franzosen des besetzten Nordens hätten sich auseinandergelebt wie die Ossis und die Wessis im geteilten Deutschland.

Anfang der Sechzigerjahre wollte Barthe die „lateinische Idee“, die sich in Vichy nicht hatte verwirklichen lassen, im europäischen Maßstab wiederbeleben. Europa sollte nicht im Schulterschluss mit den USA, sondern durch die Bildung eines „Lateinischen Blocks“, der Südamerika und große Teile Afrikas einschloss, zur Einheit gelangen und so seine Rolle in der Welt behaupten. Nicht der Atlantik, das Mittelmeer würde dabei als geografischer und geistiger Fixpunkt dienen. Gegen die „Germano-Yankees“ und ihre neoliberale Ideologie sollte das von den Ländern des Südens geführte Europa versuchen, eine Politik der „sozialen Gerechtigkeit“ zu verfolgen.

Auf dem Weg zur Union, an deren Anfang die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl stand, hatte die „lateinische Option“ keine Chance. Auch wenn aus der von de Gaulle verlangten Asymmetrie längst ein prekäres Gleichgewicht geworden war: Die wirtschaftlich immer stärker werdende Bundesrepublik blieb klug genug, den politischen Führungsanspruch Frankreichs auf dem Kontinent anzuerkennen. Mit dem Fall der Mauer und der Auflösung der kommunistischen Regime in Mittel- und Osteuropa veränderte sich die geopolitische Balance auf dem Kontinent. Deutschland wuchs fast gegen seinen Willen auch in die politische Führungsrolle hinein. Frankreich dagegen wurde zum Opfer des Mauerfalls. Und die Einführung des Euro, die nach dem Willen nicht nur François Mitterands die Vorherrschaft der D-Mark beenden und die Macht der Bundesbank brechen sollte, erwies sich als Bumerang: Kein Land profitierte davon mehr als Deutschland.

Jetzt wurde die Idee einer „Lateinischen Internationale“ wieder aktuell. Nicolas Sarkozy betrieb die Gründung der Mittelmeerunion, um den Einfluss Frankreichs in Europa zu vergrößern. Dass diese Gründung auch gegen Deutschland gerichtet war, blieb nicht verborgen. Henri Guaino, der Majordomus Nicolas Sarkozys und ebenfalls ein engagierter „homme du midi“, sprach offen davon, dass Frankreich die Mittelmeerunion „contre les Allemands“ durchsetzen wolle. Der Plan misslang. Angela Merkel legte ihr Veto ein, aus der Mittelmeerunion wurde eine Union für das Mittelmeer, die unter die Aufsicht Brüssels und damit ins bürokratische Abseits gestellt und zur politischen Wirkungslosigkeit verdammt wurde.

Die „Lateinische Option“ schien mit dem Ende der Mittelmeerunion aufs Neue erledigt zu sein – und erfuhr als Folge der Finanzkrise im südlichen Europa eine paradoxe Wiederbelebung. In der Krise formte sich der „Lateinische Block“, der in Zeiten des allgemeinen europäischen Wohlbefindens ein vages Projekt geblieben war. Man braucht nur das Foto vom EU-Gipfel in Rom zu betrachten, auf dem Angela Merkel am Rand neben dem Trio François Hollande, Mario Monti und Mariano Rajoy steht, um bereits von Körpersprache und Physiognomie her zu erkennen, wo die neuen europäischen Konfliktlinien verlaufen. Der Nord-Süd-Konflikt ist wieder aktuell.

Der Nord-Süd-Konflikt gehört zu den Konstanten der europäischen Geschichte. In der Selbstwahrnehmung des Südens mischen sich dabei Selbstbewusstsein und Selbstzweifel, Stolz auf die Vergangenheit und Angst vor der Zukunft. Auf der einen Seite nimmt die europäische Zivilisation im Süden ihren Anfang: Die drei großen monotheistischen Weltreligionen, die Demokratie, der Rechtsstaat und die okzidentale Philosophie entspringen am Mittelmeer. Das Mittelmeer ist, in den Worten Paul Valérys, eine „Zivilisationsmaschine“. Und wehe, die Parvenüs aus dem Norden versuchen, sich ebenfalls als Zivilisationsproduzenten aufzuspielen! „Wie können diese Sauerkrautfresser es wagen, sich als unmittelbare Nachfolger der feinsinnigen Athener zu betragen?“, heißt es 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, in einer Streitschrift mit dem Titel „La culture latine“. Als der griechische Staatspräsident Karolos Papoulias den deutschen Finanzminister mit den Worten abkanzelte: „Wer ist Herr Schäuble, dass er es wagt, Griechenland zu beleidigen!“, rief die Kultur die Barbarei zur Ordnung.

Es war der protestantische Norden, der im Prozess der Industrialisierung die Grundlagen der Moderne schuf. Der Süden sah sich als Verlierer der Modernisierung. Fernand Braudel schildert in seinem großen Mittelmeerbuch, wie der Atlantikhandel die Vorherrschaft des Mittelmeers beendet; und das Debakel Napoleons, des „Empéreur du Midi“, bei Waterloo, besiegelt durch den Händedruck zwischen Wellington und Blücher, gilt ebenso als Niederlage des Südens wie 1870 der Sieg der Preußen über Frankreich.

Der Schmerz der Südeuropäer, ökonomischer Verlierer der Moderne zu sein, wird gemildert durch ihr Gefühl, Formen der Lebensführung und des Lebensgenusses bewahrt zu haben, die dem Norden verloren gegangen sind. Das Savoir-vivre gilt im Süden mehr als das Savoir-faire, der wissenschaftlichen steht eine sentimentale Zivilisation gegenüber. Spätestens seit Madame de Staël wird der Midi zu einer Gemütskategorie. Ihre Ausdrucksformen sind Träumerei, Far Niente, Siesta, das Sich-gehen-Lassen und Fantasie – die der Ausdauer, dem Ernst, der Energie und der Initiative des Nordens entgegengehalten werden. Solche zu Stereotypen hochgetriebene Gegensätze werden im Süden meist mit Stolz, im Norden nicht ohne ein Gefühl der Nostalgie beschworen.

Vielfältige Ursachen werden dafür genannt: Seit Montesquieu blüht die Klimatheorie. Die verhältnismäßig leichte Kultivierung der Olive und des Weins soll übertriebene Anstrengung verhindern; der Staat wird angesehen wie ein großer Baum, von dem sich jeder die Früchte nach Belieben pflücken darf. Eingebettet wird dieses Gemütsleben in ein Klientelsystem, in welchem personale Abhängigkeiten und Verpflichtungen eine weitaus größere Rolle spielen als die Loyalität gegenüber den Institutionen. Man sucht das Wohlwollen der Mächtigen – und misstraut dem Recht.

Es gibt so etwas wie eine „moralische Geografie“, wobei das Adjektiv moralisch sich nicht von der Moral und von Verhaltensvorschriften ableitet, sondern von den Mores der Menschen, den kulturellen Selbstverständlichkeiten, nach denen sie ihr Leben ausrichten. Die Grenzen der moralischen Geografie sind fließend, zu politischen Zwecken werden sie leichthin manipuliert. Auch der „Midi“ ist ein politisches Konstrukt. Als es nach dem verlorenen Krieg von 1870/71 in Frankreich darum geht, die militärische Rückeroberung Elsass-Lothringens auf dem Feld der Kultur vorzubereiten, erklärt der Lothringer Maurice Barrès seine Heimat zu einer lateinischen Region. Metz ist auf einmal eine Stadt des Midi. Und die „Kathedrale“ von Straßburg wird von ihm ein „Meisterwerk der Latinität“ genannt – das gleiche Straßburger Münster, über das Goethe gesagt hatte: „Das ist deutsche Baukunst, da der Italiener sich keiner eignen rühmen darf, viel weniger der Franzos.“

Kulturen können ohne eine moralische Geografie nicht auskommen – Kunst und Literatur leben von imaginären Grenzen zwischen den Völkern und Regionen und verschieben diese nach Belieben. Zugleich verfügt die Kunst über die Lizenz zum Stereotyp. In der Politik aber sind Stereotypenkämpfe gefährlich.

Als Folge der Gefühlspolitik geriet in der stereotypenbesetzten Auseinandersetzung über die Beseitigung der Schuldenkrise die Demokratiekrise in Mitgliedsländern der EU wie Ungarn und Rumänien in den Hintergrund. Das dort angewachsene Demokratiedefizit zu beseitigen ist aber für den Bestand und das Ansehen der Europäischen Union nicht weniger wichtig als eine Lösung der Schuldenkrise und die Sicherung des Euro. Wer garantiert, dass vom Autoritarismus eines Viktor Orbán und eines Victor Ponta keine Ansteckungsgefahr für andere Länder ausgeht? In der Europäischen Union braucht auch die Demokratie längst einen Rettungsschirm.