Gattungsgeschichtlich sind Tweets und Status-Updates Aphorismen - allerdings von Leuten, die gar nicht wissen, was ein Aphorismus ist
Der Aphorismus ist die Pantomime unter den Literaturgattungen. Eine Kunstform, die irgendwann mal ihren Sinn hatte, dann von wenigen Vertretern zur Blüte gebracht wurde und nach deren Tod zur peinlichen Pseudokunst herabsank. Es gibt nur drei Aphorismenbücher, die sich zu lesen lohnen: Lichtenbergs "Sudelbücher", Schopenhauers "Aphorismen zur Lebensweisheit" und Adornos "Minima Moralia". Und es gab sogar nur einen Pantomimen, dem normale Menschen bei der Arbeit zusehen konnten, ohne Qual zu empfinden: Marcel Marceau.
Eigentlich ist es um den Aphorismus viel schlimmer bestellt als um die Pantomime. Denn während diese immer noch oft von jungen, verwirrten Idealisten betrieben wird, ist der literarische Aphorismus eine reine Altmännergattung. Es hat niemals eine Aphoristikerin gegeben. Es gehört eine typisch männliche Egozentrik dazu, die Welt mit gedruckten Sammlungen seiner eigenen Geistesblitze zu behelligen.
Thomas Bernhards Romanheld Wertheimer aus "Der Untergeher" nennt den Aphorismus "eine minderwertige Kunst der geistigen Kurzatmigkeit". Gerade seine Kürze macht den Aphorismus zur idealen Form für Autoren im fortgeschrittenen Alter, denen die Kraft für Längeres abhanden gekommen ist. Als Ernst Jünger keine Romane mehr schrieb, brachte er trotzdem noch alle paar Jahre eine Kollektion von Tagebuchskizzen und Aphorismen zustande. Und der Sound des Aphorismus schlechthin bleibt für mich immer die vom Greisenschleim belegte Stimme E. M. Ciorans, der ich einmal während einer Theaterinszenierung stundenlang vom Band lauschen musste.
Die Namen Jünger und Cioran weisen auch noch auf zwei andere Eigenarten des Aphorismus: Erstens blicken Aphoristiker fast immer von einem rechten kulturpessimistischen Standpunkt auf die bestehenden Verhältnisse. Sie wollen alle kleine Nietzsches sein. Es ist kein Zufall, dass der einzige Aphoristiker, der es in den vergangenen Jahren wenigstens zu marginalem Kultstatus gebracht hat, der Kolumbianer Nicolás Gómez Dávila (1913 bis 1994) ist, der nach seiner posthumen Entdeckung auch von liberalen Medien mit wohligem Grusel als "Der letzte Reaktionär" gefeiert wurde. Ein Schelm, der vermutet, die gattungstypische konservative Grundhaltung habe etwas mit dem hohen Durchschnittsalter der meisten literarischen Aphoristiker zu tun.
Zweitens stammen Aphoristiker fast immer aus undemokratischen Ländern. Während des Kalten Krieges erlebte das Genre eine letzte Scheinblüte im damaligen Ostblock. Denn dank seiner Kürze eignet sich der Aphorismus hervorragend für Samisdat-Literatur, die auf Geheimpressen und Kopierern vervielfältigt und in Kassibern an den Aufsehern des Systems vorbeigeschmuggelt werden kann.
Spätestens mit dem Ende des Kalten Krieges schien der Aphorismus endgültig jede Daseinsberechtigung verloren zu haben. Er hätte auf dem Friedhof der Literaturgattungen sterben können, und seine bleichen Gebeine hätten sich dort mit denen des Versepos, des Fastnachtsspiels oder der Xenie vermischt.
Doch neuerdings ist der Aphorismus lebendiger denn je. Er hat die Sphäre der gedruckten Literatur - also der von den Interneteuphorikern verspotteten "Holzmedien" - verlassen, trägt coole Namen und jeden Tag wird seinesgleichen millionenfach von einem Graswurzelnetzwerk junger Menschen hervorgebracht, das nichts mit der alten Aphoristikergemeinde zu tun hat. Denn wenn der Aphorismus "eine prägnant knappe, geistreiche oder spitzfindige Formulierung eines Gedankens, eines Urteils oder eine Lebensweisheit" ist, wie es "Metzlers Literaturlexikon" formuliert - was sind dann Tweets, Facebook-Status-Updates oder Postings anderes als Aphorismen?
Natürlich haben diese neuen Aphorismen mit dem alten Genre so wenig zu tun wie die Reime einer Hiphop-Combo mit den Knittelversen des "Faust". Sogar noch weniger: Während der Rapper mit Schuldbildung möglicherweise weiß, in welcher Tradition er sich mit seinen Lyrics befindet, ahnt der Twitterer, der sich über hundertfache Retweets einer besonders schönen Formulierung freut, nicht, dass er in den Fußstapfen eines Georg Christoph Lichtenberg steht. Aber eine Formulierung wie "Perhaps international law could change to distinguish between Good Rape (Assange, Polanski) and Bad Rape (anyone who isn't a cause celebre)", die am Tage der Assange-Verhaftung von dem Guardian-Journalisten Dorian Lynskey getwittert wurde, hat etwas von der Galligkeit und dem erhellenden Witz des zwergwüchsigen Göttingers.
Zwar ist beim Tweet oder beim Facebook-Status die Grenze zum Gag fließend. Nicht umsonst finden sich in den Top-Tweets, die Twitter für seine Benutzer vorsortiert, auch immer die Äußerungen typischer Comedy-Gestalten wie Dieter Nuhr ("Am 24.12. sind mehr Leute vor dem Fernseher als in der Kirche! Dabei ist das Programm im TV nur geringfügig besser...").
Aber diese Nähe war schon beim literarischen Aphorismus alten Stils vorhanden. Der ist schließlich hervorgegangen aus dem Bonmot, jener geistreichen Äußerung also, mit der man einst bei Hofe oder im Salon seine fünf Minuten Konversationsruhm einheimsen konnte. Oscar Wilde wäre heute mit Sicherheit ein eifriger und geschätzter Twitterer - genau wie es sein gegenwärtiger Stellvertreter auf Erden, der Schauspieler und Autor Stephen Fry ist.
Wie das Bonmot entsteht auch der Tweet aus der Freude am Wettbewerb. Wenn literarische Aktivität ein gesellschaftliches Breitenphänomen wird, folgt sie fast immer einem agonalen Prinzip. Der schriftstellerisch ambitionierte Bürger will sich mit Seinesgleichen messen, will gekrönt werden. Das war schon so bei den Tragödienwettbewerben im klassischen Athen, bei den dichtenden Patriziern des Barocks und Rokoko oder bei den Poetry Slams der Gegenwart. Nur lässt sich Erfolg im Netz unbestechlicher messen: Das Publikum reicht so weit, wie die Sprache verstanden wird; wenn es Englisch ist, ist sie weltumspannend. Die Zahl der Follower und der Retweets gibt Auskunft darüber, wie viele Menschen die Kurztexte eines Twitter-Aphoristikers tatsächlich witzig oder erhellend finden. Eine Claque oder eine Jury-Verschwörung hat hier keine Chance.
Natürlich findet sich im täglichen Fluss der Twitter-Aphorismen auch eine Unmenge Schrott. Aber auch das war schon früher so, wenn literarische Textproduktion als Gesellschaftsspiel en vogue war. Hunderte, vielleicht tausende schlechte Tragödien des Altertums, die die talentarmen Athener Konkurrenten von Aischylos, Sophokles und Euripides verzapft haben, sind nicht überliefert. Noch mehr Gelegenheitsgedichte aus den Boom-Epochen bürgerlicher Hauspoesie sind ebenfalls ungedruckt dem Vergessen anheim gefallen - so wie heute die witzlosen Tweets des Users XY sogar seine besten Freunde dazu bringen, ihn zu "unfollowen" oder "defrienden".
Ob das alles Auswirkungen auf die gedruckte Literatur haben wird, ist so unwägbar wie die Frage, wie lange es gedruckte Literatur überhaupt noch gibt. Fry ist nicht der einzige Holzmedien-Schriftsteller, der seine Fangemeinde mit getwitterten Aphorismen bei Laune hält. Sibylle Berg tut es mit Mitteilungen im Stile von "promis die mit armen afrikanern tanzen nachdem sie betroffen schwarze kinder angestarrt haben". Paulo Coelho hat weit über 1 Million Follower - und postet gerne klassische Oldschool-Aphorismen von Voltaire. Jodi Picoult hat via Twitter sogar mal eine Debatte darüber angestoßen, warum die Bücher von männlichen Unterhaltungsschriftstellern wie Nick Hornby in Feuilletons häufiger besprochen werden als die von Frauen.
Aber wird das alles später auch den Weg in ihre Gesamtausgaben finden? Im Prinzip sind Tweet-Sammlungen in Buchform genauso denkbar wie gedruckte Blogs. Aber welchen Sinn soll das haben, außer dem, im Mantel der alten Medien ein anderes, nicht-netzaffines Publikum zu erreichen und auf diese Weise ein bisschen Geld einzusammeln, das sich im digitalen Raum nach wie vor schwer verdienen lässt? Die meisten der Netz-Aphorismen sind zeitbezogen. Wer will in drei Monaten noch die Wikileaks-Bonmots von heute lesen? Der Aphorismus ist zwar von den Toten auferstanden. Aber vielleicht nur als Zombie.