Aus dem Netz
"Zettel's Traum" als Adventskalender
Wie liest man ein unlesbares Buch? Am besten schon mal nicht allein. "Betreutes Lesen" hat man die Erfindung digitaler Konversation über analoge Bücher in der Blogosphäre mal treffend genannt. Maßstabe setzte vor einigen Jahren "Schmidt liest Proust": ein lektürebegleitendes Blog, in dem der Schriftsteller Jochen Schmidt auf erfrischende Weise Lese-Tagebuch geführt hatte. Das Protokoll eines Selbstversuchs mit Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" begeisterte: "Dankeschön Jochen! Dein Blog war wie ein Adventskalender, dessen Türen jeder für sich öffnen konnte, wann er wollte...", so nur eine der vielen Beifallsbekundungen damals - bezeichend darin, wie sie die episodenhafte Produktion und zeitlich flexible Rezeption eines solchen Leseunternehmens auf den Nenner brachte.
Nun folgt im Vor- und Mitlesereigen das nächste große Ding. Unter www.zettels-traum-lesen.de hat sich der Arno-Schmidt-Forscher Marius Fränzel an eine kommentierte Lektüre jenes Schmidtschen Hauptwerks gemacht, das vielen als eines der unverständlichsten Werke der Literatur überhaupt gilt: "Zettel's Traum", das auf 120000 Notizzetteln beruhende Opus Magnum aus dem Jahre 1970, das die Begegnung eines Übersetzerpärchens (und ihrer Tochter) mit einem Edgar-Allan-Poe-Experten schildert, war während vier Jahrzehnten nur als fotomechanische Reproduktion (Faksimile) erhältlich. Nun, zum 40-jährigen Jubiläum, hat Suhrkamp erstmals eine gesetzte Fassung vorgelegt. Fränzel nimmt sie zum Anlass einer Neu-Lektüre: "Es handelt sich wohl um eine Art von Neugier, wie das Buch auf mich wirken wird, nachdem ich nun einige Jahre der Schmidt-Abstinenz hinter mir habe." Was nach bekennender Geheimwissenschaft klingt, macht als öffentliches Lektürekonversationsblog eigentlich erst so richtig Sinn: Hatten sich Jörg Drews, Wolfram Schütte und andere Sachverständige nicht schon vor 40 Jahren zum "Arno-Schmidt-Dechiffrier-Syndikat" zusammengeschlossen? Die jetzige Version 2.0 könnte ein echtes Forum der Arno-Schmidt-Experten- und Laienbegegnung werden, zumindest wenn man Fränzels Ansage ernst nimmt, wonach die Schmidt-Lektüre ganz "wesentlich vom Wissen und den Assoziationen des Leser geprägt ist". Die kommentieren denn auch beflissen mit und erfreuen sich an "Anna Muh- Muh!" und dergleichen mehr. Noch steht die geführte Text-Tour ganz am Anfang, doch schon jetzt hat man den Eindruck, beim Verfertigen eines Stellenkommentars in immer neuen Episoden live dabei zu sein. Allein schon das wiederholte Drücken der F5-Taste macht großen Spaß, eröffnet es unter dem Rubrum "Zettel's Traum?" doch einen ganzen Reigen an wechselnden, wunderbar selbstironischen Motti. Die kann man auch gebrauchen für die Rezeption eines Buches, das aus 1513 Seiten mit drei nebeneinander gesetzten Textsträngen besteht. Dass man ein solches Lese(an)gebot nur als paratextuellen Sport annehmen kann, zeigt ein Posting der Arno-Schmidt-Mailingliste (www.asml.de). Dort hat Giesbert Damaschke eine aktuelle Schlagzeile der Süddeuschen Zeitung abfotografiert. Sie bezieht sich auf den frischgebackenen Formel-1-Weltmeister und lautet: Vettels Traum.
Aus dem Off
Paul Lendvai - bedroht vom rechten Mob
Schon seit einigen Jahren blicken Beobachter mit Sorge nach Ungarn, wo sich die Gesellschaft auf eine Weise polarisiert, wie es für Europa im Zeitalter der Europäischen Union ungewöhnlich ist (um es vornehm auszudrücken). Auffällig ist vor allem: Es gibt kaum Ungarn, die die politische Entwicklung ihres Landes mit kühler Gelassenheit beschreiben. Die einen sehen Ungarn am Rande einer Diktatur, die anderen als ein Land, in dem zersetzende Volksverräter die Würde der Nation beschmutzen. Wer von beiden Recht hat, soll hier nicht erörtert werden. Eines aber fällt auf: Diejenigen, welche vor einem aufflammenden Radikalismus warnen, zeichneten sich bisher durch kluge Analysen und eine freiheitliche Gesinnung aus. Kein einziger von ihnen ist jemals durch Fanatismus aufgefallen - sei es nun der Nobelpreisträger Imre Kertész oder der Schriftsteller Rudolf Ungváry. Und noch etwas spricht für ihre Warnungen: die Art, wie ungarische Politiker und Publizisten mit ihrer Kritik umgehen. Keiner ihrer Gegner setzt sich mit ihren Argumenten auseinander. Dafür werden sie in schlimmer Pfeilkreuzlerart als "wurzellose" Juden beschimpft, als Vaterlandsverräter bedroht und als Linke verfolgt.
Diese Erfahrung muss gegenwärtig Paul Lendvai machen. Lendvai ist einer der bedeutendsten Osteuropaexperten der westlichen Welt. Auch dem österreichischen Publizisten mit ungarischen Wurzeln ist es zu verdanken, dass der Westen den Osten im Zeitalter des Kalten Krieges nicht vergaß. Zudem streitet Lendvai, der 1956 aus Budapest fliehen musste, seit Jahren für einen ehrlichen Umgang der Ungarn mit ihrer Vergangenheit.
Nun hat Lendvai ein Buch über sein "verspieltes Land" geschrieben. Darin klagt er leidenschaftlich über die schleichende Machtergreifung Viktor Orbáns - ohne die Schwächen der früheren sozialistischen Regierung zu verschweigen. Doch den Orbán-Anhängern fehlt der Sinn für Zwischentöne. So wird Lendvai in verschiedenen ungarischen Internet-Blogs wüst beschimpft. Schlimmer noch: Durch ein Gemisch aus Halbwahrheiten und Lügen versucht man Lendvais Ruf als Journalist zu zerstören. Wo Lendvai auch hinfährt, stets scheint die Gemeinde der Hasser schon vor ihm da zu sein. Während in Zürich ungarische Rechtsradikale gegen den angeblichen Nestbeschmutzer protestierten, musste in Frankfurt eine Lesung des Autors abgesagt werden. Die Veranstalter konnten nicht für die Sicherheit des 81-Jährigen sorgen. Bedauerlich ist, dass auch die österreichische Regierung dem ungarischen Druck nachgab und die Vorstellung seines Buches in der Botschaft in Berlin absagte. Ein beherzteres Auftreten hätte der Alpenrepublik gut angestanden. Schließlich hat das kleine, zu Provinzialismus neigende Land dem international vernetzten Publizisten einiges zu verdanken. Lendvai selbst sieht die Lage gelassen. Nicht er als Person sei wichtig, sondern das, was in Ungarn geschieht.
Wir wollen es ihm nachtun: In wenigen Wochen übernimmt die rechtskonservative ungarische Regierung den Vorsitz in der EU. So heißt es, darauf zu achten, ob Orbán die Regeln der Gewaltenteilung bei sich zuhause weiterhin missachtet. Auch bleibt es spannend zu sehen, ob er die rechtsextremen Geister, die er vor den Wahlen rief, nun als Regierungschef tatsächlich zurückdrängt. Bisher spricht nicht viel dafür.
Aus den Bilanzen
72 Millionen Kinderbücher für die "Happy Few"
Sorry", sagte Max Kruse neulich, "natürlich werden Kinderbücher ganz generell zu wenig ernst genommen." Der Erfinder des Urmel sprach aus sechzigjähriger Erfahrung - die Literaturkritik lernt halt nur mühsam dazu und behandelt das Kinderbuch immer noch stiefmütterlich.
Vielleicht jedoch hilft ausgerechnet die ungeliebte Ökonomie den Kritikern auf die Sprünge. Denn waren es bisher in allererster Linie die Frauen, die den Buchmarkt trugen (als Leserinnen, Käuferinnen und Begeisterte), entwickelt sich der Kinderbuchmarkt zunehmend zur Stütze der Branche. In den Städten gibt es immer öfter reine Kinderbuchhandlungen, manche von ihnen haben sich sogar schon auf fremdsprachige Kinderbücher spezialisiert und bieten den modernen Wunderkindern "Pippi Longstocking" und "The Robber Hotzenplotz" an.
Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, die Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen (avj) und die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) haben die Entwicklung jetzt in Zahlen gefasst - in einer 113 Seiten starken, schlicht "Kinder- und Jugendbücher 2010" betitelten Studie, die sich vor allem auf das repräsentative GfK Buchmarktpanel stützt, das allmonatlich 20000 Leser nach ihren Bucheinkäufen befragt.
Und die Zahlen haben es - selbst im Vergleich mit der erst drei Jahre alten Vorgängerstudie - in sich: 72,3 Millionen Kinderbücher wurden im vergangenen Jahr verkauft, knapp acht Millionen mehr als 2006. Zugleich ist nicht nur die Zahl der Buchverkäufe, sondern auch die der Buchkäufer gestiegen: von 13 auf 14,1 Millionen. 5,1 Kinderbücher erwarben diese Käufer im Durchschnitt pro Jahr, insgesamt 42 Euro gaben sie durchschnittlich dafür aus (im Vergleichszeitraum waren es nur 36 Euro). Die Umsatzentwicklung ist entsprechend positiv: 2006 schlugen 475 Millionen Euro zu Buche, 2009 waren es 586 Millionen.
Allerdings kommen die 72,3 Millionen verkauften Kinderbücher nicht bei allen gut zehn Millionen Kindern unter 14 Jahren an, die in Deutschland leben: Stattdessen wird das Lesen nach wie vor vererbt. Die Studie von Börsenverein, avj und GfK bedient sich, um das deutlich zu machen, der sogenannten Sinus-Milieus, die die Gesellschaft nach Maßgabe des Marketings, aber auf Grundlage soziologischer Forschung, in Käufergruppen einteilen. Leider sind nur wenige dieser Milieus verlässlich buchaffin: Vor allem "Konservative", "Traditionsverwurzelte" und "Postmaterielle" kaufen Kinderbücher - mehr als 80 Prozent der Befragten aus diesen Milieus haben in den letzten zwölf Monaten zumindest ein Kinderbuch erworben. In anderen Milieus hingegen herrscht nach wie vor oft bittere Bücherarmut. Den schönen Zahlen zum Trotz also gilt: Wenige von ohnehin wenigen Kindern lesen immer mehr Bücher; viele der wenigen Kinder jedoch lesen selten bis nie. Vermutlich wird nicht einmal das E-Book daran etwas ändern.