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Vermischtes Buch der Woche

Benjamin Stein und die göttliche Komödie

| Lesedauer: 7 Minuten
Der Münchener Schriftsteller erhält am Sonntag den Tukan-Preis.

Seit einiger Zeit macht ein Buch von sich reden - der Roman Die Leinwand von Benjamin Stein. Er hat schon die ersten literarischen Auszeichnungen erhalten, liegt in der dritten Auflage vor und wird nicht nur von einer wachsenden Leserschaft, sondern auch von einer aufmerksamen Kritik wahrgenommen.

Benjamin Stein ist der Künstlername eines Mannes, der 1970 in Ostberlin zur Welt kam und in jungen Jahren als Ruderer fast zur Olympiamannschaft der DDR gehört hätte. Heute ist er in München als IT-Fachmann in der Unternehmungsberatung tätig, er betreibt den literarischen Blog Turmsegler und leitet den Kleinverlag Edition Neue Moderne, in der orthodoxen Synagoge seiner Stadt dient er als Vorbeter: eine Vielzahl heterogener Lebensentwürfe, die sich selbst auf den zweiten Blick nur schwer auf eine Reihe bringen lassen.

Stein wuchs in der Zeit der Wende auf, und das hat für ihn eine ganz persönliche Bedeutung. Seine Eltern verstanden sich als Kommunisten, das orthodoxe Judentum war ihm nicht in die Wiege gelegt - so etwas gab es in der DDR nicht -, und als er seit Mitte der achtziger Jahre die Synagoge in der Rykestraße zu besuchen begann, glaubten ihm die alten Beter seine existenzielle Suche nicht. Sie vermuteten eher, der Junge arbeite für die Stasi.

Als die Mauer fiel, nahm er an den beiden großen Universitäten Berlins das Studium der Judaistik und Hebraistik auf. Aber sein Lebensweg führte ihn weit über alles Akademische hinaus, und worum es in Wirklichkeit ging, zeigt Steins erster Roman, den er während des Studiums schrieb. Das Alphabet des Juda Liva erzählt, wie Alex Rottenstein - zwanzigjährig und in vielem das Abbild seines gleichaltrigen Erfinders - das Gelübde ablegt, orthodox zu werden, falls ihm in Prag der Golem begegnen sollte, der berühmte Homunculus aus der jüdischen Mystik. So geschieht es dann auch: am Ende einer verwirrenden, weit ausufernden Familiengeschichte zieht Rottenstein als frommer Jude nach Jerusalem.

Steins Romandebut zeigte bereits sein erzählerisches Talent, doch in Alex Rottensteins suchendem Verhalten spiegelte sich noch die Unentschiedenheit des Autors selbst. Benjamin Stein wußte damals noch nicht, worauf es mit ihm hinauswollte, und den letzten Schritt - seinen Eintritt in die Lebensregeln der Orthodoxie - vollzog er erst im Jahr 2000.

Jetzt, zehn Jahre später, legt er Die Leinwand vor, ein literarisches Meisterwerk, das seine formale und inhaltliche Geschlossenheit unter anderem einer tiefen Gewißheit verdankt. Vornehmlich geht es in ihm um Fragen der Identität, aber Steins religiöse Lebensweise legt ihm dabei keine dogmatischen Positionen auf, ganz im Gegenteil. Alles, so weiß er, liegt in der Hand einer höheren Macht, doch ihre Wege sind uns unzugänglich. Wir kennen die Wahrheit nicht, und oft ist das Leben ein Vexierspiel der Irrtümer, das uns als Tragödie erscheinen mag. Oder als Komödie.

Er läßt uns die Wahl, und das beginnt schon am Anfang. Sein Buch hat nämlich keinen Rücken. Wendet man es um, so findet man dort nicht, wie es üblich ist, einen Hinweis auf den Inhalt, sondern einen zweiten Buchdeckel, auf dem abermals Die Leinwand steht. Man kann den Roman von beiden Seiten beginnen, und erst der zweite Blick gibt kleine Unterschiede preis: der eine Buchdeckel ist blau, der andere rot; der eine zeigt ein Paar weißer Handschuhe, der andere einen kleinen, schwarzen Reisekoffer; und vor allem - der eine trägt unter dem Titel den Namen Amnon Zichroni, der andere den Namen Jan Wechsler.

Stein hat ein doppeltes Buch mit zwei verschiedenen Icherzählern geschrieben. In seinem Romandebut hatte er noch den Fehler aller Anfänger gemacht - er hatte zu viel hineingepackt -, jetzt aber hält er seine Phantasie im Zaum und läßt sie gerade dadurch plastisch hervortreten. Kontrapunktisch reduziert er seine Welt auf zwei Pole, die sich diametral gegenüber stehen und dennoch auf merkwürdige Weise berühren.

Die beiden Erzähler tragen symbolische Namen. Jan Wechsler hat sein Gedächtnis verloren, ganz wörtlich verwechselt er sich mit einem anderen, aber die israelische Fluggesellschaft El Al stellt ihm einen abhanden gekommenen Reisekoffer wieder zu, und schrittweise erinnert sein Inhalt ihn an das Vergessene. Amnon Zichroni dagegen erzählt sein Leben linear - von der Kindheit in Jerusalem über diverse Orte in Europa und Amerika bis zur Rückkehr nach Israel -, und manche Leser glauben in Wechsler daher die interessantere Figur zu sehen, die schillernder und tiefer sei.

Ob Zichroni freilich ein simpler Erzähler ist, muß dahingestellt bleiben. Sein Name ist hebräisch, und wörtlich übersetzt heißt er 'mein Gedächtnis'. Er ist jedoch mit einer Begabung ausgestattet, die seinen Namen auf ironische Weise unterläuft. "Ich glaubte lange Zeit", heißt es zu Beginn seines Lebensberichtes, "ich hätte so etwas wie einen sechsten Sinn. Unser Gedächtnis ist der wahre Sitz unseres Ich. Und was jenen sechsten Sinn angeht, auf dem mein Erfolg als Psychoanalytiker beruhte und auf den ich mich immer verlassen konnte: Es war - ein Erinnerungssinn. Ich roch, schmeckte, fühlte, hörte und sah Erinnerungen anderer Menschen."

Amnon Zichroni ist ein Psychoanalytiker, und seine Begabung, das eigene Gedächtnis gegen die Erinnerung anderer Menschen einzutauschen, ist nicht nur eine satirische Aussage über seinen Beruf; sie stellt auch in Frage, wieweit sich Zichroni von seinem Gegenpol Jan Wechsler wirklich unterscheidet. Beide schlüpfen in die Haut von Fremden und führen ein 'falsches' Leben: Zichroni, im Jerusalemer Orthodoxenviertel Meah Schearim geboren, entfernt sich schrittweise von diesem Ghetto, vollzieht eine Gratwanderung zwischen religiöser und profaner Existenz; seine oft nicht einmal jüdischen Patienten berührt er nur noch mit Handschuhen, um sich vor ihren Erinnerungen zu schützen. Jan Wechsler dagegen ist ein jüdischer Journalist, dessen ursprünglich wenig fromme Lebensweise immer orthodoxer wird; auch er flieht in ein fremdes Leben, und zu den Ironien des Romans gehört es, dass Benjamin Stein ihm für seine imaginierten Erinnerungen Teile der eigenen Kindheit und Jugend in der DDR geliehen hat.

Aus verschiedenen Richtungen bewegen sich die beiden Protagonisten aufeinander zu. "Viele Patienten", erzäht Zichroni aus seiner Erfahrung, "litten unter dem Gefühl, dem Vergangenen hilflos ausgesetzt zu sein. In der Analyse konnte man ihnen die Zügel wieder in die Hand geben - oder vielmehr die Palette und den Pinsel, mit dem sie auf der Leinwand ihrer Erinnerungen neue Akzente setzten." Das Titelwort des Romans, die Leinwand, wird zur Projektionsfläche der Selbstinszenierung, und Wechsler sagt es ganz ähnlich. "Die erzählte Geschichte ist, was am Ende zählt": Unser Leben ist eine Erfindung.

Der Punkt, an dem die beiden Erzähler aufeinandertreffen, ist sorgfältig vorbereitet. In Zürich, wo er seine Praxis führt, lernt Zichroni den Geigenbauer Minsky kennen, und sein sechster Sinn erspürt die grausamen Erinnerungen, die er an seine Kindheit im Holocaust hat. Er ermutigt ihn, sie aufzuschreiben, sein Buch wird zu einem großen Erfolg - dann aber weist der Journalist Jan Wechsler es als eine Fiktion aus, Zichroni sieht sich gezwungen, seine Praxis aufzugeben und kehrt nach Israel zurück.

Einen Fall dieser Art hat es tatsächlich gegeben. 1998 überführte der Journalist Daniel Ganzfried den Autor Binjamin Wilkomirski der Fälschung von Holocausterinnerungen und kompromittierte zugleich seinen israelischen Psychologen Elitsur Bernstein. Der Skandal erregte großes Aufsehen, er schuf einen neuen medizinischen Begriff, das Wilkomirski-Syndrom, und Stein nimmt es kunstvoll auf. Mit der Illusion eines Schlüsselromans zwingt er die Leser, den ausgelegten Spuren zu folgen und verdoppelt damit den Effekt seines Doppelbuches - schon die 'Wirklichkeit', aus der seine Handlung zu erwachsen scheint, war eine Täuschung.

Der Fall Wilkomirski grundiert die Leinwand, auf der Stein seine Figuren verteilt, und er führt zur Biographie des Autors zurück. In den neunziger Jahren machte er sich auf die Suche nach seinem Judentum, mit seinem Romandebut erschrieb er es sich teilweise, fand schließlich den Weg in die Religion. Gleichzeitig aber eignete sich ein anderer Autor auf pathologische Weise ein falsches Judentum an, und ausgerechnet ihn hält Stein jetzt seinen Protagonisten als Spiegel vor.

Während er in der Synagoge seine Wahrheit entdeckt, scheut er sich nicht, den schlüpfrigen Boden der Illusion zu betreten. Stein ist eine seltene Ausnahme: Nie zuvor lebte ein bedeutender Autor der deutsch-jüdischen Literatur orthodox, und er ist nicht nur strenggläubig, sondern auch postmodern - eine seltene Mischung aus Sicherheit und Wagemut, die uns gespannt macht auf die Fortsetzung seines Werkes.