Einige Jahre bevor er selbst mit Father Brown einen der berühmtesten Ermittler der Kriminalliteratur erfinden sollte, verfasste G.K. Chesterton eine "Verteidigung der Detektivgeschichte". Er lobte das damals noch blutjunge Genre als die "bis jetzt einzige Form volkstümlicher Literatur", in der sich ein "gewisser Sinn für den poetischen Gehalt des modernen Lebens" ausdrücke. Nur der Detektivgeschichte gelinge es, die "romantischen Möglichkeiten" der Großstadt zu erfassen.
Glaubt man Chestertons nicht ohne Ironie formulierten Thesen, verwundert es kaum, dass sich eine eigenständige Kriminalliteratur hierzulande nur zaghaft entwickelte. Eine Metropole vom Range Londons hatte das provinziell geprägte Deutschland eben nicht zu bieten. Wer Großstadtkrimis lesen wollte, griff seit den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts zu den massenhaft übersetzten Reißern des englischen Vielschreibers Edgar Wallace und später vielleicht zu Raymond Chandler oder Ed McBain.
Auch der heute gern belächelte Kriminalroman mit vehement vorgetragenem gesellschaftskritischen Anspruch, wie er in den 60er- und 70er-Jahren vor allem von Rowohlts schwarzer Thriller-Reihe gepflegt wurde, ist keine deutsche Erfindung, sondern orientierte sich an den Romanen des schwedischen Autorenpaares Maj Sjöwall und Per Wahlöö. Doch es sollte nicht lange dauern, da mutierte der "Sozio-Krimi" zu einer Spielart des Genres, die in der internationalen Spannungsliteratur einmalig sein dürfte.
Ungefähr ein Vierteljahrhundert ist es her, da erschienen im linken Dortmunder Weltkreis-Verlag einige Kriminalromane, die, ganz im Geist der Zeit, spannende Unterhaltung mit Sozialkritik verbinden wollten. Fremdenfeindlichkeit, neonazistische Umtriebe und politische Korruption waren die Themen, derer sich Romane mit einschlägigen Titeln wie "Nahtlos braun" oder "Dienst nach Vorschuss" annahmen. Sie spielten im Ruhrgebiet, das sich durch die Tatort-Kommissare Haferkamp (Essen) und Schimanski (Duisburg) als Krimischauplatz etabliert hatte.
Auch wenn der Kölner Emons Verlag, wo bereits 1984 Christoph Gottwalds "Tödlicher Klüngel" erschien, das Verdienst, den ersten deutschen Regionalkrimi publiziert zu haben, für sich reklamiert, so waren es doch vor allem Autoren wie Werner Schmitz, Reinhard Junge und Jürgen Pomorin (unter dem Pseudonym Leo P. Ard), die das neue Genre in der deutschen Krimilandschaft etablierten. Böse Zungen behaupten, dass sie sich bis heute nicht von dieser literarischen Invasion erholt habe. Inzwischen wird in fast jedem Provinznest mit Begeisterung gemordet und ermittelt. Je piefiger das Kaff, desto wahnwitziger die fiktiven Morde. Von den exzentrischen Ermittlern gar nicht erst zu reden.
Die örtlichen Buchhandlungen platzieren die Stapelware gerne an der Kasse, direkt neben den Titeln von der Bestsellerliste. Und ein Ende des Booms ist nicht abzusehen Mit dem so genannten Regionalkrimi nämlich scheint die deutsche Kriminalliteratur endlich zu sich selbst gefunden zu haben.
In diesem Frühjahr dürfen wir uns zum Beispiel auf das kriminalistische Talent von Pater Pius freuen, der im Schwäbischen dem Täter auf der Spur ist. Tief im Westen, zwischen Zechensiedlung und stillgelegtem Förderturm, gibt Margareta Sommerfeld, Süßwarenverkäuferin bei Hertie und "glühende Verehrerin von Tatort-Kommissarin Maria Furtwängler", ihr Debüt als Hobbyschnüfflerin. Neu im Geschäft ist ebenfalls Privatdetektiv Erwin Knautschke aus Freiburg, während der Religionslehrer und "Lebenskünstler" Daniel Böhle im oberschwäbischen Saulgau bereits seinen zweiten Fall lösen darf. Zu diesen Amateurermittlern gesellen sich die Profis: Hauptkommissar Reiner Palzki aus Schifferstadt klärt Morde in einer Mannheimer Brauerei, seine Lübecker Kollegen Angermüller und Jansen kümmern sich um eine Leiche auf einem Golfplatz und Kommissar Jan Swensen wähnt sich einem nordfriesischen Serienmörder auf der Spur.
Diese Aufzählung ist noch lange nicht vollständig. Der Katalog des Gmeiner Verlags im badischen Meßkirch bietet die mörderischste Landkarte des deutschen Sprachraums. Von Flensburg im hohen Norden bis hinunter nach Kitzbühel und Zürich erstrecken sich die Tatorte. So wie die Post früher zu besonderen Anlässen Sonderbriefmarken herausbrachte, publiziert Gmeiner Krimis zur Bundesgartenschau, zur Frauen-Fußball-WM und zur Leipziger Buchmesse. Es handelt sich beileibe nicht um einen Einzeltäter. Beim Geschäft mit dem fiktiven Mord vor der Haustür mischen viele Verlage, kleine wie große, mit.
So setzt man bei Piper in München neben international renommierten Spannungsautoren wie Frederic Forsyth oder Arne Dahl gerne mal auf einen "Krefeld-Krimi". Auch der Suhrkamp Verlag, ein Frischling im Crime-Business, lässt eine Kommissarin zwischen "Bankentürmen und Bahnhofsviertel" ermitteln - Frankfurt am Main ist zwar nicht gerade Provinz, doch ein bisschen Lokalkolorit kann nie schaden.
Dabei kommt es naturgemäß zu einem Überangebot. So dürfte die fiktive Mordstatistik im westfälischen Münster, wo schätzungsweise ein halbes Dutzend Ermittler einander auf die Füße treten, inzwischen New Yorker Ausmaße erreicht haben. Neben Jürgen Kehrers Antiquar und Privatdetektiv Wilsberg, der aufgrund der gleichnamigen ZDF-Serie der bekannteste Schnüffler im Schatten von Lambertikirche und Dom sein dürfte, ist ein ganzer Trupp mehr oder weniger origineller Figuren im Kampf gegen das Verbrechen unterwegs.
Eine der interessanteren Gestalten dürfte noch der von Andreas Busch erfundene Kriminalrat Richard von Droste sein, der in einer riesigen Villa am Aasee logiert und einen fahruntüchtigen Jaguar in der Garage stehen hat. Allerdings waren dem verhinderten Landedelmann bislang nur zwei Auftritte vergönnt. Vielleicht war die Konkurrenz zu groß.
Die ehemalige Lehrerin Gisela Pauly gönnt ihrer, ausgerechnet mit einem Kriminalbeamten verheirateten, Privatdetektivin Romy Schell ebenfalls eine Erholungspause und hat sich auf das lohnendere Sujet des Sylt-Krimis verlegt. Doch auch hier ist sie nicht allein. Eine kurze Stichwortsuche im Netz fördert drei weitere Autoren zutage, die das illustre Eiland als Schauplatz ungeahnter Verbrechen entdeckt haben. Überhaupt scheint das berühmte Reizklima auf den Urlaubsinseln in Nord- und Ostsee nicht nur den Kreislauf, sondern auch die Mordlust anzuregen. Auf Rügen liegt eine Tote im Strandkorb, auf Spiekeroog verschwindet ein Geschäftsmann, und auf Amrum wird ein Amateurdichter erschlagen.
Ambitionierte Autoren, die jetzt noch in das Geschäft mit dem Mord vor der Haustür einsteigen wollen, dürften sich schwer tun, einen Flecken auf der Landkarte zu finden, der noch nicht blutrot eingefärbt ist. Selbst das malerische Städtchen Quedlinburg in Sachsen-Anhalt übersteht die Stichprobe nicht. Privatdetektiv Irenäus Moll ist schon vor Ort und fünf Bände im Vorsprung. Doch halt: Görlitz am äußersten östlichen Rand der Republik, dessen Altstadt schon einem Quentin Tarrantino als Kulisse diente und für die Verfilmung von Bernhard Schlinks "Der Vorleser" mit Kate Winslet gleichfalls den geeigneten Rahmen abgab, konnte beim letzten Stand der Ermittlungen noch nicht mit einer eigenen Krimireihe aufwarten. Dabei sollte die Grenzlage zum Nachbarland Polen doch jede Menge Stoff zu bieten haben.
Wer unter all dieser, oft auch sprachlich miserablen, Konfektionsware nach lohnender Lektüre sucht, hat es schwer. Ernsthafte Kritiker machen allein deshalb einen großen Bogen um den regionalen Kriminalroman, auch auf die Gefahr hin, dass ihnen so manches Krimikunststückchen entgeht. Die Polizeiromane des Darmstädters Christian Gude beispielsweise stehen haushoch über den bemühten Räuber-und-Gendarm-Spielchen, mit denen die wackeren Lokalmatadore der heimischen Krimikultur gewöhnlich aufwarten. Aber auch vor jenen Autoren, deren Werke das Hardcover-Segment renommierter Verlage schmücken, muss sich der studierte Geograf, in dessen Büchern sich genaue Recherche und groteske Komik trefflich ergänzen, nicht verstecken. Provinziell geht es nämlich in den dickleibigen Schmökern, die sich an ein durch skandinavische Gewaltepen von einigen tausend Seiten konditioniertes Lesepublikum richten, nicht minder zu. Schlampig formuliert wird ebenfalls.
Allein, was nutzt die Klage? Der Regionalkrimi hat das fiktive Verbrechen zurück in die Heimat geholt. Die legitimen eskapistischen Bedürfnisse alltagsgestresster Menschen finden ihre Befriedigung gleich vor der eigenen Haustür, die aber sicherheitshalber verschlossen bleibt. Man macht es sich gemütlich, so, wie es die leidenschaftliche Krimileser Ernst Bloch beschrieb: "persönlich gut gesichert und ruhevoll in gefährliche Dinge vertieft, die flach sind."