Es ist noch keine zwei Jahre her, dass Benjamin Stein mit seinem Roman "Die Leinwand" Aufsehen erregte. Kunstvoll hatte er dort die Lebensgeschichten zweier Icherzähler verknüpft. Die metaphorische Leinwand diente ihnen als Projektionsfläche der Selbstdarstellung, und so entstand ein vielschichtiges Werk, das die Identitäten der Erzähler plastisch hervortreten ließ und sie gleichzeitig auflöste.
Steins neuer Roman "Replay" geht einen Schritt weiter. Diesmal spricht nur ein Icherzähler, aber kommt hier ein individuelles oder ein kollektives Gedächtnis zum Ausdruck? Ein Knopfdruck aktiviert das Gedächtnis im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, und der Roman beschreibt Glanz und Elend einer schönen neuen Welt.
Ed Rosen, amerikanischer Experte für Biomedical Informatics , tritt im Silicon Valley in die Firma Juan Matanas ein. Dort versucht man, anorganische Systeme mit dem menschlichen Körper zu verbinden. Rosen wird zum ersten Träger einer neuen Erfindung. Er ist blind auf einem Auge, und Matana pflanzt ihm einen Chip ein, der den abgestorbenen Sehnerv wieder mit Bildern versorgt. Nach der Operation wird er medizinisch und technisch überwacht, er muss sich oft verkabeln lassen und hält das bald nicht mehr aus. Da wird er durch eine weitere Entwicklung des Gerätes erlöst: Sein neuer Sehnerv kann auch durch Fernsteuerung kontrolliert werden. Ed Rosen ist wieder ein freier Mensch.
Rosens Erzählung legt eine tiefe Ironie bloß. Im Namen seiner "Freiheit" gestattet er einem fremden System den Zutritt in sein Inneres und lässt sich mit einer Kontrollstation vernetzen. Wie schwarz der Humor ist, mit dem Stein uns seine neue Welt vor Augen führt, wird erst deutlich, wenn man begreift, zu welchem Zeitpunkt Ed Rosen seine Geschichte erzählt.
Die Implantation des Prototyps liegt nämlich bereits fünfzehn Jahre zurück, und das elektronische Überwachungssystem ist den Kinderschuhen entwachsen. Der Roman heißt nicht zufällig "Replay", und die Lebensgeschichte Ed Rosens, die wir hier zu lesen glauben, ist längst der Datenverarbeitung ausgesetzt. Rosen selbst erzählt uns die Ereignisse der letzten anderthalb Jahrzehnte: Was ein künstliches Auge war, ist zu einem künstlichen Gedächtnis geworden, das Bilder auch zu speichern und mit den Emotionszentren im Gehirn zu verbinden weiß - ein umfassendes Archiv der Erinnerungen und Gefühle, aus dem sich jederzeit ein vergangenes Erlebnis aufrufen lässt. Und Ed Rosen war nur ein erster Testfall für den bio-elektronischen Chip, bald konnten ihn auch andere erwerben und sich mit ihm ein maßgeschneidertes Innenleben gestalten. Aus Matanas Zentrale gespeist, bietet er neben dem eigenen Gedächtnis jetzt auch die Erinnerungen anderer Menschen an, revolutioniert den Kommunikationsmarkt und macht Matanas Firma zum konkurrenzlosen Gatekeeper.
Spätestens in der Mitte des Buches wird deutlich, dass es auch als ironische Umkehrung von George Orwells "1984" zu lesen ist. Als Teilhaber der Firma steinreich geworden, ist Ed Rosen zum "Minister" avanciert, aber was das genau bedeutet, bleibt unklar. Wir wissen weder, ob er in Washington oder in Kalifornien amtiert, noch wie weit sich die amerikanische Gesellschaft unter den inzwischen erlassenen Transparenzgesetzen schon aufgelöst hat. Nur eine kleine Minderheit widersetzt sich noch der elektronischen Kontrolle, und ein satirisches Glanzstück ist das Interview des Oppositionsführers: Julian Assange, ehemals Sprecher von WikiLeaks und Vorkämpfer der Transparenz, steht nun für die Privatsphäre ein, und der Minister ist empört. "Wir unterdrücken nicht", lässt er uns wissen. "Wir sind Dienstleister, informieren, helfen und unterhalten." Immer noch ist Rosen auf einem Auge blind: Winston Smith hat sich auf die Seite von Big Brother geschlagen.
Die Welt ist zum humanen Internet geworden, und das hat erschreckend inhumane Folgen. Nicht nur dem Erzähler gehen seine Kommunikationskanäle durch Mark und Bein, sondern auch dem Leser. Der Roman beginnt und endet mit panischer Angst. "Ich fürchte mich vor Erscheinungen, die ich nicht erfunden habe", sagt Rosen auf der ersten und der letzten Seite. "Und nun dieser Huf ..." Rosen ist aufgewacht, und unter der Bettdecke ragt der Pferdefuß des Pan, hervor - des Gottes der Natur.
Benjamin Stein: Replay. C. H. Beck, München. 176 S., 17,95 Euro.