Unübersehbar steht er da, der Dichter Les Murray. Umgeben von seinem Gepäck. Larger than life. Von Friedrichshafens Uferpromenade schaut er auf den Bodensee. Und auf ein Zeppelin-Schild. Wurde es ihm zu Ehren aufgestellt? Schließlich verdankt die vom Zweiten Weltkrieg schwer gebeutelte Industrie- und Zeppelinstadt Friedrichshafen dem Australier aus Bunyah 250 Kilometer nördlich von Sydney Entscheidendes. Die Aufnahme in die Weltliteratur nämlich. Denn in Murrays Jahrhundert-Epos "Fredy Neptune" um einen modernen Fliegenden Holländer, den deutsch-australischen Matrosen Friedrich Boetticher alias Fredy Neptune, den Les Murray kumpelhaft "Fred" nennt, macht der beschädigte Held, dem das Tastgefühl abhanden kam, Station in Friedrichshafen. Was den Ammann Verlag dazu bewog, auf dem Schutzumschlag der deutschen "Fredy"-Ausgabe eine Luftzigarre aus der Friedrichshafener Aeromanufaktur abzubilden.
Unübersehbar ist Murray. Und etwas erschöpft. Die Entfernung vom Bahnhof zum Hotel hat seine Übersetzerin und Verlegerin Margit Lehbert zu gering eingeschätzt, so dass auf halber Strecke Halt ist, Lehbert Träger im Hotel requiriert und diese zu Murray dirigiert. Verfehlen kann man ihn nicht. Wegen des von seiner Frau gestrickten quer gestreiften signalfarbenen Pullovers. Und wegen der Baseballmütze auf dem Schädel. Und doch ist er wenig später, vor einer Kanne English-Breakfast-Tee sitzend, wieder glänzend aufgelegt. Er lacht in sich hinein. Er ist freundlich, umgänglich und heiter.
Kaum zu glauben, dass Lyriker in Australien, noch häufiger Kritiker, rot vor Wut werden, wenn der Name Les Murray fällt. Hat er sich doch dort als scharfzüngiger Rezensent, Poesielektor und Redakteur eine Unmenge an Feinden erarbeitet. Kaum zu glauben auch, dass die englische Presse vor elf Jahren schäumte, als ihm, dem Bauernsohn, der in der tiefsten australischen Provinz aufwuchs, der erst mit neun Jahren einen Fuß in ein Schulhaus setzte, der sein Literaturstudium in Sydney damit verbrachte, sich einmal quer durch die Weltliteratur zu lesen und alles andere links liegen ließ (Murray: "Wenn ich heute gefragt werde: 'Welcher Autor war literarisch gesehen am prägendsten für Sie?', sage ich immer: 'Der Anthologist'. Der, der Anthologien zusammenstellt. The Penguin Book of Spanish Verse. So was in der Art"). Der Daily Telegraph textete ob Murrays Ottfried-Fischer-Figur reichlich indezent: "Aussie poet waltzes off with Eliot prize." Ein Murray wohlgesonnener Journalist beschrieb ihn als skurrilen Nebendarsteller, der der australischen 1960er-Jahre Kindersendung "Skippy, das Busch-Känguruh" entsprungen zu sein schien. Ein anderer echauffierte sich, dass dieser Hinterwäldler aus Antipodien, "this Aussie moron", dieser australische Trottel also, der mit vollem Mund wider Liberalismus, Multikulturalismus, Feminismus, Eliten, Kritiker, die australische Literaturförderung im Besonderen und die Aufklärung im Allgemeinen vom Leder zog und dabei das Essen übers Tischtuch verteilte, mit diesem Preis ausgezeichnet werde. Für den Gedichtband "Subhuman Redneck Poems", zu Deutsch: "Untermenschen-Landarbeiter-Gedichte".
War das nicht fürchterlich ironisch für Murray? Er und der aristokratische Amerikaner, den es mächtig in die höheren englischen Kreise zog, den Murray in einem Essay als "Snob" beschimpft hatte. "Oh ja", so Murray. "Er war ein grauenhafter Snob. Und ein Bastard. Und ein Antisemit. Bis er herausfand, dass sich das nicht auszahlte." Aber er habe sich mittlerweile mit ihm versöhnt. "Ich glaube, das war, als ich in der Westminster Abbey an seinem Grab stand. In Ordnung, habe ich gesagt, ich mache meinen Frieden mit dir."
Les Murray - der Ungehobelte, der in seinem kleinen Haus in Bunyah Reporter gerne barfuß empfängt, der sich annähernd 20 Sprachen allein durch Hören angeeignet hat, der neun Jahre lang an schweren Depressionen litt, bis er 1998 zusammenbrach, nach einer Notoperation in ein dreiwöchiges Koma fiel, aus dem er depressionsfrei aufwachte. Les Murray - der zarte virtuose Lyriker, der, so sein Biograf Peter F. Alexander, einmal bei einem Umzug merkte, dass ein großer Kühlschrank vergessen worden war, ihn kurzerhand schulterte und fünfzig Meter weit bis zum Möbelwagen trug. Les Murray - seit Jahren Australiens einziger Kandidat für den Literaturnobelpreis.
"Der Nobelpreis? Über den mache ich mir eigentlich nie Gedanken", tut er, der seit Anfang der 1990er Jahre alle seine Gedichtbände Gott widmet, das Spekulieren über die schwedische Auszeichnung lässig ab. Und auch das Nachhaken, dass ihm doch 2004 der Premio Mondello verliehen worden sei, den vor ihm V. S. Naipaul, Seamus Heaney und J. M. Coetzee erhielten, die später dann den Nobelpreis ... "Ich glaube", sagt Les Murray, "ich bin bekannter für das Gegenteil eines Anrufs aus Stockholm. Es würde meinen Rekord zerstören, wenn ich ihn bekäme." Und wieder schüttet er sich vor Lachen aus.
Er wird in einem Atemzug genannt mit den wichtigsten lebenden englischsprachigen Lyrikern, mit (den Nobelpreisträgern) Seamus Heaney und Derek Walcott. Mit beiden ist er befreundet. Murray, dessen Mutter starb, als er zwölf Jahre alt war, wuchs auf einer Milchfarm auf. Sein Vater verließ die Schule mit 14, konnte lesen, sein Sohn erinnert sich aber, dass er selten Bücher las, und wenn, dann nie bis zur letzten Seite. Seinem Vater, einem bärenstarken Holzfäller, widmete er auch eines seiner schönsten frühen Gedichte, 'Noonday Axeman': "Zwischen den Bäumen berührt mich hohes Licht. / Die Dinge sind, was sie sind, und das macht Angst: / Sie fordern Gehorsam, wenn man sie meistern will - / Und so viele haben versucht, ihre Träume diesem Planeten aufzudrücken."
Nachdem Les Murray als Kind einmal von der Veranda gefallen war, wovon noch eine kleine Narbe im Gesicht zeugt, wurde er oft auf Stühlen festgeschnallt. Was zur Folge hat, dass er sich bis heute weigert, sich im Auto anzugurten. Renitenz und Rage prägten lange Les Murrays Leben. Auch weil sein Vater lebenslang von dessen Vater abhängig war. Und er einer Schicht entstammt, die sich ignoriert fühlte. "Ich stamme von Menschen ab, die sich zusammenreimten, dass sie von vielem ausgesperrt wurden. Wir vom Lande mussten ohne Büchereien und Theater auskommen. Deshalb dachten wir, wir seien unkultiviert. Und da wir keine Kultur hatten, bekamen wir auch keine." Und wieder lacht Murray laut. "Ich habe mal einen kleinen Film in der Fisher Library der Universität von Sydney gedreht, einem wunderschönen alten Bau. Da habe ich gesagt: Das ist die Box, in der sie die Kultur lagerten, die sie uns country folks vorenthielten." Und doch kann er, der produktive Dichter, sich heute über sich und seinen Aufstieg auch lustig machen. So saßen einmal Derek Walcott aus St. Lucia und Murray, "the bard of the Australian bush", vor zehn Jahren während eines Schriftstellertreffens in Rotterdam in einem Café. Walcott habe ihn damals gefragt: "Als du dir als Junge auf deiner Farm einen von der Palme geholt hast, hättest du da jemals gedacht, dass du bis nach Europa kommen würdest und mit jemandem wie Susan fucking Sontag abhängen würdest?" Und Murray bekommt sich vor Lachen kaum mehr ein. "Das war wunderbar. Einfach herrlich." Sagt aber gleich danach: "Ich habe Susan ziemlich gemocht. Sie war eine hingebungsvolle Intellektuelle, wie es sie heute nicht mehr gibt. Ich glaube, ich habe sie durch Joseph Brodsky kennen gelernt. Er hat pausenlos geredet und geraucht, ein Dichter, ein Liebhaber der Frauen. Er war faszinierend." Und erzählt noch eine Anekdote, diesmal über Joseph Brodsky, den verstorbenen Freund. Der sollte auf Venedigs Friedhofsinsel San Michele begraben werden, ausgerechnet zu Füßen Ezra Pounds. Obwohl er den hasste, so Murray. "Er konnte Pound nicht ausstehen. Er hat gesagt: Ich möchte nie in der Nähe dieses verrückten Antisemiten begraben werden, niemals!" Als die Grube für Brodsky ausgehoben wurde, tauchten darin Knochen auf. Und man verlegte das Grab des Exilrussen unter einen Baum. "Die Russen schickten einen riesigen Kranz dunkelroter Blumen, das allerletzte, was Joseph gemocht hätte. Der Kranz wurde auch noch auf alle anderen Blumen auf dem Grab gelegt. Am nächsten Morgen hatte sich der Kranz bewegt. Er lag auf Pounds Grab. Wie jeder echte Dichter besaß Joseph Zauberkräfte. Vermutlich hat er selber die Knochen hin- und den Kranz weggezaubert."
Welche Rolle spielt denn für Murray, der in seiner Kindheitslandschaft lebt, die Natur? Fühlt er sich als ökologischer Dichter? "Mhmm. Das hat ein Engländer über mich gesagt. Ich habe keine Ahnung, ob das stimmt oder zutrifft. Ich weiß eine Menge über Pflanzen und Tiere. Weil meine ersten besten Freunde Tiere waren. Als ich dieses Buch schrieb, Übersetzungen aus der Natur, dachte ich: bloß keine Urteile, das machen Tiere nicht, beschreibe sie ohne jeden Bezug zu Menschen. Gut, gelegentlich gibt es den einen oder anderen Verweis auf diese Kreatur, den Menschen. Ich neige dazu, intelligente Gedichte zu schreiben. Aber ohne auf die Leser herabzuschauen. Ich kann nur in Gedichten denken. Daran glaube ich wirklich. Wenn ich etwas in Versen schreiben kann, ist es wahrscheinlich wahr. Wenn ich es nur in Prosa ausdrücken kann, dann ist vermutlich etwas Falsches darin. Prosa dient dazu zu ermahnen." Und lacht. "Ich glaube nicht an Prosa. Deshalb, weil ich als Einzelkind nicht genug über die Menschen wusste. Dichtung war für mich genauso wichtig wie die Tiere. Und weil sich Prosa um Konflikte dreht. Ich mag im Grunde keine Konflikte. Ich will mich nicht jedes Mal beim Schreiben mit Konflikten herumschlagen. Andere Menschen nehmen einem die Konflikte ab." Und wieder lacht Les Murray, der vor kurzem siebzig Jahre alt wurde und 20 Gedichtbände veröffentlichte, sein kicherndes Lachen. Und bekennt: "Ich habe noch immer nicht herausgefunden, was man alles mit Gedichten machen kann."
Les Murray:
Übersetzungen aus der Natur.
Ausgewählt und a. d. Engl. v. Margit Lehbert. Edition Rugerup, Hörby. 96 S., 17,90 Euro.
Gedichte, groß wie Photos.
A. d. Engl. v. Margit Lehbert. Edition Rugerup. 192 S., 19,90 Euro.
Fredy Neptune.
A. d. Engl. v. Thomas Eichhorn. Ammann, Zürich. 528 S. 29,90 Euro.