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Kultur (Print Welt)

Wollt ihr das totale Design?

Die Herrschaft der Gestalter droht zur Diktatur zu werden: Neben Kleidern, Autos und Möbeln entwerfen sie längst unser Leben von morgen. Plädoyer für eine neue, kritische Designtheorie

Die Mailänder Möbelmesse, die heute eröffnet, ist schon seit Langem das zentrale Ereignis im Jahreskalender der Designszene. Doch in den letzten Jahren ist sie förmlich explodiert. Der Salone, wie Stammgäste die Messe gerne nennen, spiegelt jenen rasanten Aufstieg, den Design in den letzten Jahrzehnten erlebt hat. Design scheint zu einer Art Meta-Ideologie unserer Zeit geworden zu sein, der Wille zum richtigen Lifestyle ihr größter gemeinsamer Nenner. Vor Gucci-Mustern und Designerbrillen können wir uns heute kaum noch retten, ob im Trash-TV, im Shoppingcenter oder in der Boulevardpresse. Business Design, Nail Design, Body Design, Green Design, Social Design - die Liste der Felder, auf denen man Design antrifft, wird täglich länger.

Glaubt man den Theorien der früheren Avantgarden, so müsste unser Leben dadurch eigentlich besser, schöner und funktionaler werden. Schließlich sah man Design im 20. Jahrhundert als eine Art Allheilmittel für die Probleme der Moderne, ob es um einen funktional ausgestatteten Alltag, um menschenwürdige Arbeit oder um Distinktion durch Konsum ging.

Doch das Gegenteil ist eingetreten: Design, ursprünglich einmal mit dem Slogan "less is more" angetreten, ist zu einer Triebfeder der Überflussproduktion geworden, während es zur Lösung der drängenden Probleme - von ökologischen Herausforderungen bis hin zu existenziellen Problemen in Entwicklungsländern - in den letzten zehn Jahren kaum etwas beigetragen hat. Noch nie waren wir von so viel überflüssigen Dingen umgeben wie heute. Und wenn Designer Dinge gestalten, die wir wirklich brauchen, dann sind sie oft so unpraktisch wie eine Zitronenpresse von Philippe Starck.

Wie konnte das passieren? Und wie könnte man es ändern?

Die Inflation von Design, die wir heute beobachten können, begann mit jenem rasanten Aufstieg, den die relativ junge Disziplin seit ihrer Erfindung im 19. Jahrhundert genommen hat. Zu Beginn ihrer Karriere war sie noch ein Anliegen weniger Industrie-Idealisten, doch im 20. Jahrhundert erweiterte sie ihren Einflussbereich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Den Durchbruch zu einer echten Massendisziplin erlebte Design in den Achtzigerjahren, als jene Generation ihr ästhetisches Selbstverständnis entwickelte, die wir aus heutiger Sicht durchaus als "Generation Design" bezeichnen können.

Auch ich gehöre zu ihr. Meine Kindheit in den Siebzigern war, wie die der meisten meiner Altersgenossen, noch mit Fichtenholzvertäfelungen und Cordsofas ausgestattet, doch dann kamen die materialistischen Achtziger. Helmut Kohl setzte den Neoliberalismus durch, Michael Douglas spielte den Helden in einem Film namens "Wall Street" und André Agassi warb für Canon mit einem Slogan, der das Motto unserer gesamten Generation zu sein schien: "Image is everything".

Als wir dann einige Jahre später in unsere erste eigene Wohnung zogen, zeigte uns ein anderer Slogan die Bedeutung von Design, dieses Mal von Ikea: "Wohnst du noch oder lebst du schon?" Wohnen, das war jetzt das, was unsere Eltern sich aufgebaut hatten, aber es war altmodisch und spielte sich meist in zu kleinen Räumen ab. Leben hingegen war moderner. Es bestand aus offenen Wohnküchen mit Alessi-Kesseln, Retromöbeln, Badezimmern mit frei stehender Badewanne und Plastikschüsseln, die so bunt waren wie die Gehäuse der ersten iMac-Computer. Design entdeckten wir gerade deshalb als sinnstiftende Leitideologie, weil es so wunderbar anders als jene korrekte Wertewelt war, die uns unsere Eltern nach 1968 vermitteln wollten.

Fast alle heute wichtigen Gestalter vom Apple-Chefdesigner Jonathan Yve über Hedi Slimane bis zu Tom Ford oder Konstantin Grcic, gehören zur Generation Design. Als sie in den späten Achtziger und in den Neunzigerjahren ins Berufsleben trat, formte sie in dem Bewusstsein, ästhetisch auf der richtigen Seite zu stehen, die Welt nach ihren Wünschen. Heute sitzen die 30- bis 50-jährigen in den Werbeagenturen, Redaktionen und Designbüros und steuern von dort aus jene gewaltige Maschinerie der Lifestyle-Industrien, die zum ideologischen Kraftzentrum einer ganzen Gesellschaft geworden ist - und zu einem riesigen Geschäft.

Seit den Neunzigerjahren haben sie uns jenen Designboom beschert, bei dem Möbel Auktionsrekorde brachen, Designfestivals aus dem Boden schossen und Designer zu Popstars wurden. Mit immer größerem Geschick bewarben sie immer spezialisiertere Produkte für immer differenziertere Zielgruppen, erfanden das virale Marketing und das Guerilla Marketing, erklärten die Trennung von Kunst, Mode, Architektur und Design für überholt und sorgten dafür, dass alles in jener übergeordneten Lifestyle-Disziplin Design aufging, die uns durch das ganze erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends getragen hat.

Der eigentliche Paradigmenwechsel vollzog sich in dieser Zeit jedoch viel unauffälliger als im Rampenlicht der Modeschauen und Designauktionen. Design hat sich mittlerweile auf Wirkungsbereiche ausgebreitet, in denen es unser Leben völlig unbemerkt verändert. Kosmetika sind heute vollgestopft mit hochwirksamen "Funktionskomplexen", plastische Chirurgie ist gesellschaftlich völlig akzeptiert, die Gentechnik befindet sich an der Schwelle zu Vermarktung als Produkt und Nahrungsmittel werden immer stärker aus rein artifiziellen Geschmacksstoffen "designt" - gleich ob in der Molekularküche oder beim Functional Food. Im Sport führen wir einen vergeblichen Kampf gegen das Doping, das aus dem Wettkampf eine Frage des richtigen Drogendesigns macht, während immer mehr Normalbürger zu konventionellen Designerdrogen greifen.

Seitdem sich das Emirat Dubai mit den Inseln The Palm oder The Earth seine eigenen Logos im Mega-Format gebaut hat, scheint selbst das Weichbild der Erde zu einem Designobjekt geworden zu sein. Auch die Politik agiert zunehmend unter ästhetischen Prämissen. Wurde bei Gerhard Schröder nach seinem Wahlsieg wochenlang über seine Haarfarbe diskutiert, konnte Angela Merkel überhaupt erst an die Macht kommen, weil ihr ein komplettes Redesign verordnet wurde, das aus dem Mädchen an Kohls Seite unter Mitwirkung des Star-Friseurs Udo Walz eine Staatsfrau von Format machte.

Parallel dazu ist auch unser Alltags- und Berufsleben immer stärker zu einer Designfrage geworden. Managern wird "design thinking" gepredigt, Hausfrauen besuchen Kreativ-Seminare und Unternehmen suchen heute nach Mitarbeitern, die vor allem eines sein müssen: kreativ.

Seitdem wir unsere Biografien öffentlich auf Facebook oder Twitter inszenieren und dabei immer auf das richtige Bild achten müssen, sind wir zu Designern unserer eigenen Biografien geworden. Die rituelle Verarbeitung dieser neuen Realitäten findet in Castingshows statt, in denen Kandidaten live vor Augen des Betrachters modelliert werden. Dass der Sender BBC im letzten Herbst mit einer Castingshow auch nach dem besten Nachwuchsdesigner suchte und der Stardesigner Philippe Starck diese souverän moderierte, war da nur folgerichtig.

Die Designtheorie hat den Zustand ästhetischer Dauererregung, in den wir in den letzten Jahrzehnten versetzt wurden, begeistert begrüßt. So erklärte der Soziologe Richard Florida die "kreative Klasse" zur neuen Elite unserer Gesellschaft, sie verkörpere deren neue Primärtugend der Kreativität par excellence. Unterstützt wurde er dabei von dem Philosophen Peter Sloterdijk, der seine Deutung der neuen Machtverhältnisse in der ihm eigenen Kreativ-Sprache beisteuerte: "Souverän ist, wer in Formfragen über den Ausnahmezustand entscheidet". Dass Sloterdijk den Designer zugleich als "modernen Scharlatan" bezeichnete, dessen primäre Aufgabe es sei, "Souveränität zu simulieren", verlieh seinen Thesen eine sarkastische Note, doch das war nicht so schlimm. Die Thesen zur kreativen Elite wurden von den Meinungsführern unserer Gesellschaft trotzdem gern gehört, schließlich zählten sich die meisten von ihnen gerne selbst dazu.

Leider gingen all diese Analysen an der Realität vorbei. Die simulierte Souveränität der Designer funktionierte nur auf den Finanzmärkten gut, wo die Risiken von Finanzprodukten genau so aus dem Blickfeld geschoben wurden, wie man einem hässlichen Produkt eine schöne Hülle verpasst. Und die beeindruckenden Zahlen der so genannten Kreativwirtschaftsberichte konnten nur schwer überdecken, dass viele jener Menschen, die tatsächlich in der Designbranche arbeiten, oft in einem kreativen Prekariat leben.

Auch mit der Vorbildfunktion der kreativen Elite war es im letzten Jahrzehnt nicht weit her, denn zumeist verstand sie sich als willfährige Zulieferin jener Trendmaschinerie, die die eigentlichen Herausforderungen des Designs unserer Zeit ins Abseits drängten. Ihre Vorreiterrolle wurde aber auch deshalb obsolet, weil ihr mit dem Moment ihrer Ausrufung ohnehin jeder angehören wollte. Aus der kreativen Klasse ist auf diese Weise eine kreative Masse geworden. Fast könnte man erleichtert sein, dass die Wirtschafts- und Finanzkrise auch die Kreativbranchen auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt und gezeigt hat, wie wichtig eine Neuausrichtung ihrer Prioritäten ist.

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Wie also könnte eine solche Neuausrichtung aussehen? Wenn wir wollen, dass uns Design wieder nutzt, und nicht wir ihm, brauchen wir keine Slogans und Patentlösungen, mit denen Design immer schnell bei der Hand war. Vielmehr müssen wir den gesamten Modus ändern, in dem wir mit Design umgehen. Wir müssen uns darüber bewusst werden, dass wir längst in einer Designgesellschaft leben, denn nur wenn wir mit einem solchen Begriff die vielfältigen Verästelungen von Gestaltungsfragen in unserer Gesellschaft anerkennen, werden wir sie auch kritisch analysieren können.

Wir brauchen eine Designausbildung, in der Designtheorie nicht mehr nur künftigen Designern vermittelt wird, sondern auch an den geistwissenschaftlichen Fakultäten - im Sinne jener bewährten Trennung von Theorie und Praxis, die für Kunst und Architektur schon seit Jahrhunderten gilt. Wir brauchen eine breitere Kenntnis über Design, in den Lehrplänen der Schulen kommt Design kaum vor. Wir brauchen eine Designpolitik, die sich nicht nur als Wirtschaftspolitik, sondern genauso als Kulturpolitik und Entwicklungspolitik versteht, und die das einfordert, was Design ebenfalls braucht: eine Ethik. Um all das zu erreichen, brauchen wir eine andere Debatte über Design als die der Stil-Sonderseiten und Coffe-Table-Bücher: Design gehört in eine kritische Medienöffentlichkeit und - viel stärker als bisher! - auch in die Feuilletons.

Wohlgemerkt: Es geht nicht um den asketischen Verzicht auf die Ästhetik, die Innovationen, die komplexe Semantik und die inspirierenden Brückenschläge, die unsere heutige visuelle Kultur ausmachen. Doch wenn wir Design als wichtigen Teil unserer Kultur retten wollen, müssen wir es vor seinem eigenen Erfolg beschützen. Dies wird nur gelingen, wenn wir neben seinen großen Möglichkeiten auch seine Risiken und seine unbemerkten Auswirkungen bis hinein in unser tägliches Privatleben erkennen. Design ist heute einfach zu wichtig geworden, um es allein den Insidern zu überlassen.

Mateo Kries ist Chefkurator des Vitra Design Museums in Weil am Rhein und wird von nun an regelmäßig in der "Welt" zu aktuellen Designfragen Stellung beziehen. Sein Buch "Total Design - Die Inflation moderner Gestaltung" erscheint am 30. April im Nicolai-Verlag.

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