Der Dichter Martin Beradt

Wie anders hätte man seiner gedacht, wenn er vor zwanzig Jahren gestorben wäre! Die Zeitungen hätten lange Nachrufe für Martin Beradt gebracht und im Ton der Hochachtung von seiner schriftstellerischen Leistung gesprochen, für die eine Reihe von Büchern – bei S. Fischer und Rowohlt erschienen – gültiges Zeugnis ablegten. Die deutschen Schriftsteller hätten den Rechtsberater ihres Schutzverbandes und den Mitbegründer der deutschen Sektion des Pen Klubs in Wort und Schrift geehrt. Die Berliner Juristenschaft hätte in schwungvollen Nekrologen den hochgeachteten Notar und Rechtsanwalt am Kammergericht gefeiert, und an seinem Grabe wäre wahrscheinlich alles erschienen, was damals in der geistigen Welt Berlins Rang und Namen hatte.

Als sein Leben vor einiger Zeit erlosch, still, im Hinterzimmer einer New Yorker Mietskaserne, wo er die letzten Lebensjahre, nur von seiner Frau betreut, als halbblinder Mann verbrachte, nahm nur der „Aufbau“, das deutsch geschriebene New Yorker Emigrantenblatt, von seinem Tode Notiz. In Deutschland gedachte niemand seiner.

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Gewiß, laute posthume Ehrungen wären kaum in seinem Sinne gewesen. Denn Martin Beradt war zeitlebens ein stiller, im tiefsten Sinne bescheidener Mensch. Die leise, hintergründige Ironie seiner Romane „Go“ und stärker noch „Leidenschaft und List“ erreichte nur wenige, und seine Diktion, aller Effekthascherei abhold und in ihrer zartgetönten liebevollen Detailmalerei an die schwermütig lächelnde Erzählerweisheit des alten Fontane gemahnend, konnte sich auch damals neben den robusteren Stimmen der Zeit nur schwer durchsetzen. Selbst sein äußerlich erfolgreichstes Buch „Schipper an der Front“, ein Erlebnisbericht aus dem ersten Weltkriege, der 1919 bei S. Fischer herauskam, brachte es erst spät und nur im Kielwasser des Remarqueschen Erfolges zu Ansehen und Auflagen. Zu Unrecht! Denn im Gegensatz zu Remarques brillant geschriebenem Reißer, der eine Typisierung dies eigenen Erlebens anstrebte und deshalb von einer unbedenklichen Propaganda als „das Buch des deutschen Frontsoldaten“ herausgestellt wurde, wird hinter Beradts anspruchsloserer Schilderung die Menschlichkeit des Autors sichtbar. Es ist die Figur des aus tiefstem Instinkt unsoldatischen Menschen, der gleichsam mit zwei linken Füßen in die Front tritt, und in allen, die den Krieg und den Zwang des Soldatseins in gleicher Weise erlebt und erlitten haben, wird Beradts Buch verwandte Seiten zum Klingen bringen.

Und doch: es ist zuviel inzwischen über uns dahingegangen, und die Erinnerung an Beradts literarische Leistung allein würde ein öffentliches Eingehen auf sein Leben und Wirken heute wohl nur vor dem sehr klein gewordenen Kreis seiner Leser rechtfertigen. Denn seine Bücher sind in Deutschland vergriffen, aus den öffentlichen Bibliotheken wurden sie schon 1933 verbannt, und in den zwölf langen Jahren seit seiner Emigration hat er, von wenigen, in Zeitungen und Zeitschriften verstreuten kleinen Aufsätzen abgesehen, geschwiegen, durch Krankheit gehemmt, vor allem durch sein Augenleiden, das schließlich in der Dämmerung fast völliger Blindheit endete. Aber in diesen zwölf Leidensjahren ist der stille Mann über sich selbst hinausgewachsen zu einer menschlichen Größe, die gerade in unserer Zeit, die, wortmüde geworden, nur noch das lebendige Beispiel gelten läßt, exemplarische Bedeutung hat. kein Wort der Klage, kein Wort der Verbitterung über all das, was ihm zuletzt als Juden in Deutschland widerfahren war, nur Sehnsucht und Liebe zu jenem „anderen Deutschland“, das er, halb blind und dennoch hellsichtiger als viele vom Haß verblendete, in seinem Herzen lebendig erhielt.

Es gibt einen Aufsatz von ihm aus dem Jahre 1943 – unter normalen Umständen wär’s wohl ein Buch geworden – in dem er die Schicksale des alten Berliner Patrizierhauses, in dem er aufwuchs, und das Leben seiner Bewohner schildert. Ein grotesker Zufall wollte es, daß ein Held des Nationalsozialismus im gleichen Hause seine Jugend verlebte. Beradt schreibt darüber, zunächst ohne den Namen zu nennen: „... Sein Vater war Pfarrer an Sankt Nikolai und bezog den zweiten Stock des Hauses. Er selbst schloß sich als Student der neuen politischen Bewegung an, die damals aufkam und Deutschland umgestalten wollte. Früh führte er einen Sturmtrupp im Osten der Stadt und trat der Linken entgegen, die dort herrschte. Es gab Kämpfe mit der Waffe, in einem Kampf oder Handel wurde er erschossen. Die Partei umgab seinen Tod bald mit einer legendenhaften Glorie, und ein von ihm gedichtetes Lied, das seinen Namen Horst Vessel trägt, wird als zweite Nationalhymne bei jeder patriotischen, ja, bei jeder festlichen Veranstaltung gesungen. Außen an der Hausfront erinnert eine riesenhafte Aufschrift die Vorübergehenden an den jungen Menschen, der hier gelebt hat Die Tafeln für E. T. A. Hoffmann oder Schleiermacher an den Häusern, in denen sie geleb: und gearbeitet haben, verschwinden neben dieser Aufschrift ...“

Am Schluß des Artikels verklärt sich der Humanismus Beradts zu einer Weisheit, die ähnlich erschütternd wirkt, wie das schon jenseitige Lächeln auf dem Gesicht manches Sterbenden. Er beschreibt da, wie er einem früheren, gleichfalls jüdischen Mieter seines Berliner Elternhauses in London begegnet. Und der andere erzählt ihm, daß sein Sohn zum Judentum zurückgekehrt sei und verzückt gerufen habe: Vater, ich bin so glücklich, in den Bund Abrahams aufgenommen zu sein ... Und Beradt schließt: „Das Haus hatte doch etwas gemeinsames durch die Generationen behalten: es war ein Haus, in dem Eiferer und die Väter von Eiferern erzogen wurden.“

Der Aufsatz ist betitelt: „Söhne aus einem Hause“, und erschien im Kriegsjahr 1943 in einer New Yorker Zeitung.

Gerade kürzlich hat die deutsche Presse das Ergebnis einer Umfrage über den gegenwärtigen Stand des Antisemitismus in Deutschland veröffentlicht, und beinahe gleichzeitig sind Pressemeldungen über die Stimmung des Auslandes gegenüber „den Deutschen“ zu uns gelangt. Das Ergebnis war betrüblich, hier wie dort. Der Massenwahn lebt weiter, ob es sich nun um den Antisemitismus in Deutschland oder den unterschiedslosen Deutschenhaß gewisser Auslandskreise handelt. In beiden Fällen gibt es nur ein Mittel gegen die Psychose solcher brutal-dummen Verallgemeinerung: Man muß den einzelnen Menschen wieder in das Blickfeld des einzelnen rücken! Paul Weymar

 
  • Quelle DIE ZEIT, 10.8.1950 Nr. 32
  • Schlagworte Eta | Antisemitismus | Blindheit | Nationalhymne | London
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