Die erste Seite (2)
Der hier versuchte Einzelstellenkommentar zur ersten Seite erhebt – genau wie der Rest der Texte hier – keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder Verbindlichkeit. Zum Wesen der Lektüre von ZT (wie auch der meisten anderen Bücher) gehört es, dass sie wesentlich vom Wissen und den Assoziationen des Leser geprägt ist. Dieser Versuch darf und soll also gerne in den Kommentaren ergänzt werden.
ZT beginnt in der mittleren Kolumne mit zwei Reihen von Xen, die den Stacheldrahtzaun zu Anfang des Schauerfelds darstellen. In der Mitte wird der Zaun auseinandergehalten, um – wie wir kurz darauf erschließen können – Wilma (W) das Durchschlüpfen zu ermöglichen.
Das erste Wort des Buches spricht Paul (P):
: »– : king !« –
Dazu findet sich am rechten Rand eine Assoziation Daniel Pagenstechers (DP):
(? : NOAH POKE ? (oder fu=))
Das Fragezeichen signalisiert, dass sich DP fragt, ob das »King!« Ps ein Zitat aus James Fenimore Coopers Roman »The Monikins« sei, in dem Kapitän Noah Poke seinem Erstaunen des öfteren mit diesem Ausruf Ausdruck verleiht, oder ob es sich um ein verkürztes »fucking!« handelt. Bei »The Monikins« handelt es sich um eine der anregenden Quellen für Edgar Allan Poes »Arthur Gordon Pym«. Darüber hinaus ist vielleicht erwähnenswert, dass king im Chinesischen Buch bedeutet; ASs chinesische Motive kommen allerdings erst in »Die Schule der Atheisten« so recht zum Tragen.
Am linken Rand steht dem gegenüber:
: ›Anna Muh=Muh !‹ –
Hierbei handelt es sich um eine eingedeutschte Schreibung eines der Wörter aus der Sprache von Tsalal, das sich gleich darunter auch in der Schreibung des Originals wiederfindet: »: ›Ana Moo=moo !‹« Tsalal ist die Insel, die in Poes »Arthur Gordon Pym« in der Nähe des Südpols entdeckt wird. Zugleich ist »Muh=Muh« natürlich auch eine onomatopoetische Wiedergabe des »Gestiers von JungStieren«, wie es gleich darauf in der mittleren Kolumne heißt.
Nach diesem Auftakt beginnt der erzählende Text:
Nebel schelmenzünftig.
ist ein Spiel mit dem Titel von Thomas Murners »Der schelmen zunfft«, dessen lateinische Übersetzung »Nebulo nebulonum«, also »Der Schelm der Schelme« lautet. Dies ist also nicht nur eine wortspielerische Beschreibung der Wetterlage, sondern auch eine Wiederaufnahme der bereits im Motto enthaltenen Warnung, alles folgende nicht zu ernst zu nehmen.
1 erster Dianenschlag; (LerchenPrikkel).
Dazu gibt der Pierer (Pierer’s Universal-Lexikon, 4. Auflage, 1857–1865):
Diana, […] 2) (Seew.), Tagwache von 4 Uhr bis 8 Uhr Morgens. Daher Dianaschuß, der Morgenschuß vom Admiralschiff; Dianaschlagen, Trommeln u. Pfeifen, welches die Schiffsmannschaft zur Morgenwache ruft. (Bd. 5, S. 108)
Statt der Trommeln muss auf dem Schauerfeld eine Lerche den Beginn der ersten Wache ankündigen.
Gestier von JungStieren. Und Dizzyköpfigstes schüttelt den Morgen aus. /
Beschreibung des Jungviehs, das sich auf der oder den Weiden rechts und links des Schauerfelds aufhält. Was AS mit «dizzyköpfig», also soviel wie »schwindelköpfig« meint, ist mir unklar. Vielleicht schütteln sich die Kälber selbst den Kopf schwindelig? Der Schrägstrich zeigt in ZT in der Regel an, dass nun eine andere Person spricht, oder auch, dass DP seine Rolle als Erzähler mit der als Protagonist bzw. vice versa vertauscht.
Am rechten Rand dazu der biografische Gedankensplitter DPs:
(Als Kind hab’Ich ›Euter‹ essn müssn : Meine Mutter usw. – (tz, Wahnsinn; &=Brrr…)
Es folgt die erste wörtliche Rede DPs:
: »Sie diesen Galathau, Wilma. Und wie Herr Teat’on mit Auroren dahlt :
Ob sich der Tippfehler »Sie« statt »Sieh« fruchtbar machen lässt, ist mir unklar. Das Wort »Galathau« ist ein Portmanteau-Wort aus »Tau« und »Galathea«. Tau wird offensichtlich zu dieser frühen Stunde einen der wesentlichen Eindrücke beim Betreten des Schauerfelds bilden; er wird außerdem wenige Zeilen später gebraucht, um eine »(sündije) Vision« DPs auszulösen.
Das Wort »Galathea« dagegen kann zur ersten Falltüre für den interpretatorischen Zugriff werden. In der Variante Galateia – eingedeutscht: die Milchweiße (was im Zusammenhang mit Poes »Arthur Gordon Pym« relevant ist, dessen Eingeborene auf Tsalal ja die weiße Farbe fürchten); in ASs Schreibung auch: die Milchgöttin – bezeichnet das Wort zuerst einmal eine Nymphe der griechischen Mythologie. Sie ist die Geliebte des Polyphem, also eines einäugigen Riesen. Der Hirte Akis, der sich in sie verliebt hatte, wurde von Polyphem aus Eifersucht getötet, und Galateia verwandelte den Blutstrom des Erschlagenen in einen Fluss. Dies kann als Vorverweis auf die am Fuß der Seite erfolgende Messung der Strömungsgeschwindigkeit des kleinen Bachs am Anfang des Schauerfelds gelesen werden. Auch das Motiv des Totschlags wird im ersten Buch von ZT noch einmal ausdrücklich aufgenommen werden.
Galatea ist aber auch der (nachantike) Name der Statue, die Pygmalion sich erschuf und der auf seine Bitten hin von den Göttern Leben gegeben wird. Hier kommt ein Motiv ins Spiel, das später in ZT noch ausführlich dargestellt wird: Franziska Jacobis (F) Verliebtheit in DP entspringt ganz wesentlich einem früheren Aufenthalt bei DP, der sie tief beeinflusst haben muss. Würde DP also dieser Verliebtheit Fs nachgeben, so hätte auch er sich seine Geliebte in gewissem Sinne selbst geschaffen.»Pygmalion und Galatea« ist auch der geläufige Titel eines Gemäldes von Bronzino. Es zeigt nicht nur den die lebendige Galatea anbetenden Pygmalion, sondern in der Bildmitte auch ein Stieropfer, was wiederum gut zum »Gestier von JungStieren« passt.
»Galatea« ist auch der Titel einer Schäferdichtung von Cervantes, die – witzigerweise – auf eine »Diana« Jorge de Montemayors zurückgeht. Der Roman ist unvollendet geblieben und spult im Großen und Ganzen das übliche Schema einer unglücklichen Liebe zu einer unerreichbaren Frau ab. Auch dies ist ein guter Resonanzraum für das Verhältnis bzw. Unverhältnis zischen DP und F.
Nicht zuletzt ist Galathea eine der größten Gruppen der Springkrebse, also eines Lebewesen mit einem harten Äußeren und einem weichen Kern, was als erste Charakterisierung DPs nicht schlecht passen dürfte. Ich bin sicher, dass sich weitere Assoziationen und Deutungen zu »Galathea« problemlos finden lassen.
Tithon – dem bei AS übrigens das h fehlt, das seine Galathea zuviel hat – und Aurora sind ein mythologisches Liebespaar: Die Göttin der Morgenröte Eos (Aurora) verliebt sich in den jungen Tithon, den sie entführt, um ihm dann von Zeus das Geschenk des ewigen Lebens zu erbitten. Leider vergisst sie aber, ihm auch ewige Jugend zu verschaffen, so dass er altert, während sie ewig jung bleibt. Thiton endet schließlich in der Metamorphose zu einer Zikade; ebenfalls ein Tier mit Exoskelett, wie auch der oben schon genannte Springkrebs. Auch hier wird das Liebesverhältnis zwischen DP und F angespielt: DP fürchtet sich natürlich davor, wie Thiton einer jugendlichen Geliebten auf Dauer nicht genügen zu können.
Zum Wort »dahlen« gibt Adelung folgende Auskunft:
Dahlen, verb. reg. neutr. welches das Hülfswort haben erfordert, aber nur in der vertraulichen Sprechart der Obersachsen üblich ist, tändeln, kindische Dinge vornehmen, sich albern bezeigen
Viel von dem, was im Verlauf des Buches zwischen DP und F vorgehen wird, hat den klaren Charakter des Spielens und ist wesentlich die Fortsetzung des Verhältnisses zwischen den beiden, als F noch ein Kind war.
: jetzt ist die Zeit, voll itzt zu seyn !«. /
Wurde als Übersetzung des Satzes »Yet’s the time for being now, now, now.« aus Joyces »Finnegans Wake« (FW 250) gedeutet. Das mag so sein; es scheint mir aber auch zu genügen, es als eine schmidtsche Variante des »Carpe diem« zu lesen.
Wird fortgesetzt.
Dienstag, 16. November 2010 13:35
Vortrefflich! „So fort und fürder“.
„Dahlen“ bringt mich darauf, an wen Henscheid bei seinem Titel „Musikplaudertasche“ gedacht haben könnte: Carl Dahlhaus
… fand ich seinerzeit ziemlich naheliegend.
Donnerstag, 18. November 2010 16:52
Un-glaub-lich was Sie hier leisten! Ich bin überwältigt und sehr dankbar. Wenn das hier tatsächlich in dieser Fülle und Klugheit weitergeht, dann ist dieses Blog nicht weniger als eine echte Sensation. Ich drücke die Daumen und freue mich auf weitere Einträge.
Dienstag, 28. Dezember 2010 0:07
Dem schließe ich mich an… toll was sich an Bezügen und Hinweisen auftut.
Samstag, 5. Oktober 2013 10:42
„Teat..“ soll doch sicher auch Zitze konnotieren. Oder schreib‘ ich da zu Offensichtliches?
Samstag, 5. Oktober 2013 15:25
Ach, man kann da kaum „zu Offensichtliches“ schreiben, noch kann man die Fülle aller möglich Konnotationen ausschöpfen. Als Beispiel dafür, wie AS gedacht und gearbeitet hat, fällt mir da immer wieder jene Stelle aus „Caliban über Setebos“ ein, an der das „Hamburger Rundfunkorkester“ (BA I/3, 503) im Text steht, damit es den Leser an den Orkus gemahnen soll. Würde mir im Leben nicht einfallen, die Assoziation; anderen wird das ganz einleuchtend sein. Allein schon aus diesem Grund ist jede Lektüre von ZT höchst individuell und muss es auch sein.