Sabine Scholl: 21.12. Puerto de Santiago | Wechsel der Temperatur, des Ortes, des Regimes

| mitSprache unterwegs |

21. 12.  2009

Absurdität: Temperaturwechsel um 30 Grad innerhalb von 12 Stunden. Abflug aus dem minuszwölfgradigen Berlin, Ankunft in einer Industrieanlage für Sonnensucher.
Absurdität: Ortswechsel. Oft wähle ich einen anderen Ort als die Homebase Berlin um über einen noch anderen Ort zu schreiben. Um alles hinter mir zu lassen. Mit meinen Schrift-, Wahrnehmungs-, Denkerzeugnissen allein.

Absurdität: Kontemplation: Frühmorgens folge ich dem Toben des Meeres, trete auf den Balkon, – wegen dieser Bewegung war ich schließlich gekommen -, erkunde mein Blickfeld. Schräg über meinem Balkon die Ecke eine männlichen Brillengestells, dessen Träger ebenfalls mit Beschaulichkeit beschäftigt ist. Man ertappt sich gegenseitig beim Kontemplieren.

Beim Abendessen habe ich gelernt, dass man die Landessprache besser nicht spricht, dass man Alien bleiben soll. So funktioniert die Abfertigung reibungsloser. Und wie immer und anderswo, das Justieren des Einzelgefühls. Sogar wenn es sich um einen kurzen Aufenthalt handelt, entsteht mein Bild aus den Einschätzungen der anderen und ich versuche eine diesen Reaktionen entsprechende Rolle zu finden, mit der beide Seiten leben können. Bin noch nicht ganz fertig mit dem Einpassen, habe mich aber damit abgefunden, dass hier alles nur als ob geboten wird. Man tut so, also ob man in diesem Land wäre, obwohl es nur in der Erfindung der Ferienanlagenkonzepteure vorhanden ist. Die das Essen begleitenden Musiker sind instruiert, Gäste dazu aufzufordern, sich zwischen sie zu stellen und Fotos schießen zu lassen vom lustigen Zusammensein. Ich ziehe den Kopf ein, mache mich unsichtbar.

Das Traurige am Urlaubswünscheerfüllen ist, dass keiner offen bleibt und die Neugierde nicht befriedigt wird. Aber egal. Ich reise sowieso ins Innere, lasse mich als Vorbereitung des Schreibens in die Vergangenheit treiben, profitiere von Meeresluft und hoffe, dass mir beständiges Rauschen den Zweifel austreibt.

Das Herangehen. Zufälligerweise ist der Landstrich, den ich im März bereisen will, mit einem Mal ins Blickfeld Europas und fast der ganzen Welt geraten. Durch den Nobelpreis Herta Müllers wissen nun einige mehr vom Dasein und der Geschichte der Minderheiten Siebenbürgens. Und es ist Jubiläumsjahr. Am heutigen Tag sind es 20 Jahre, dass die Menschen gegen eine Rede Ceausescus öffentlich protestierten, ihn ausbuhten. Daher finden sich vermehrt Artikel über das Ende der Diktatur in den Zeitungen. Und ehemalige Verwicklungen werden aufgedeckt. Hauptthema: Autoren, Dichter als Geheimdienstzuträger entlarvt.

Der erste Eindruck von Siebenbürgen war hochpersönlich, entstand in meiner Übergangsphase von Land zu Stadt. Als ob man die Sommerwiesen und Winterwälder, die mir in der Großstadt plötzlich abgingen, einfach so wiederherholen könnte, ohne die in ihnen aufgehobenen Eltern und Familienmitglieder. Ich vermeinte, den Ruf der Natur zu spüren und zwar wortwörtlich. Es ist peinlich, aber ich habe mit den Bäumen geredet, Unterhaltungen mit dem Gebüsch geführt, konnte Hunderte von Grünschattierungen mit freiem Auge unterscheiden, die Pflanzen hatten Pflanzengesichter und ich erkannte ihren Ausdruck. Sie strahlten mich an.

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