6.1., Anjuna, Flohmarkt und Vagator
Bis 1961 war Goa portugiesische Kolonie. Mitte der Sechziger erreichten die ersten Hippies diesen Landstreifen. Weltenreisende waren sie. Auf der Suche nach neuen Entwürfen. Das Rauschgift sollte die Perspektiven erweitern. Sie zogen über Kabul und Kathmandu nach Indien. An den Stränden von Anjuna und Vagator blieben viele hängen.
Ganz anders jene, die in den Achtzigern sich aufmachten, die durchaus an die Ideale der Achtundsechziger anknüpften, aber nicht um eine neue Welt zu entdecken, sondern um sich zu verlieren und zu finden. Ihnen ging es in der Regel nicht um Visionäres. Ihr Experiment galt dem Selbst. Sie entdeckten die synthetischen Drogen. Ihr Rausch sollte Partystimmung erzeugen, um die ganze Nacht durchmachen zu können. Sie tanzten zu Goa-Rave, elektronischer Musik psychedelischen Charakters mit Einschlüssen von Ethno, von vorgeblich orientalischen Motiven.
Israelis, die ihren Reservedienst abgeschlossen hatten, kamen erst ab Ende der Achtziger und Anfang der Neunziger nach Indien, da vorher Jerusalem und Delhi keine diplomatischen Beziehungen unterhielten. Nach den drei Jahren im Militär, nach dem strengen Regime der Armee und nach ihrem Einsatz in den besetzten Gebieten und dem Kampf gegen die Intifada, trieb es sie in die Ferne, fort vom Nahen Osten und seinen Konflikten, hin zur Freizügigkeit und Ekstase, zu Rave und Rausch. Sie wollten – mit allen Mitteln – herunterschlucken, was sie im Krieg und in der Besetzung erlebt hatten. Sie hatten nicht viel Geld. Sie mußten billige Unterkünfte suchen. Sie konnten nicht soviel auszugeben wie Pauschaltouristen, und sie waren auch nicht selten ärmer als manche Rucksackreisende aus Kanada, aus Skandinavien oder aus der Schweiz. Sie wollten sich eine lange Auszeit gönnen, denn wem jahrelang wegen des Präsenzdienstes kein Auslandsurlaub erlaubt gewesen war, sehnte sich nun nach der Ferne.
In die Nachbarländer Israels konnten sie nicht. Die meisten arabischen Länder waren ihnen versperrt, aber auch muslimische und islamische Staaten wie Pakistan und der Iran standen ihnen nicht offen. Europa war vielen zu teuer. Manche, die das Abenteuer interessierte, trieb es zwar nach Südamerika. Aber Indien war das Hauptziel. Es war die naheliegende und geheimnisvolle Destination.
Rischikes, Pune, Dharamsala und Goa. An solchen Punkten versammelten sich die Gleichgesinnten. Im Norden Indiens verbrachten sie den Sommer. Im Winter strömten sie an die Strände von Anjuna. Durch den Subkontinent zieht sich der “shvil ha chumus”, der “Pfad des Humus”, dem die Israelis folgen.
Es ist trotzdem lächerlich, wenn von einer israelischen Invasion in Indien die Rede ist. Verglichen mit den anderen Nationalitäten unter den Jugendlichen sind es nur wenige, die aus dem Judenstaat stammen.
Es sind auch nicht so viele, die aufgrund der Drogen durchdrehen und heimgeholt werden müssen, aber dennoch beschäftigt das Massenphänomen die israelische Gesellschaft. Was sich hier offenbart, rührt an das Selbstverständnis des Staates. Was geschieht mit den Soldaten in der Armee? Weshalb entfliehen sie dem zionistischen Traum und seiner Realität? Wohin geriet die einstige Pioniergesellschaft? Was wurde aus dem jüdischen Experiment?
Hinzu kommt, was die Inder von den Israelis denken? Nicht selten werden sie zum Negativbeispiel des Rucksacktourismus schlechthin stilisiert. Die Mehrheit der Bevölkerung in Goa ist zudem katholisch, und vor kurzem veröffentlichte die Kirche hier ein Machwerk, das gegen israelische Reisende pauschal hetzte.
Janet, die mir vor einigen Tagen erzählt hatte, sie sei auch nach Goa gezogen, um dem Jüdischen und den ganzen einschlägigen Problemen zu entkommen, sagt mir, als ich ihr von diesem Buch berichte: “Ich weiß. So weit kann ich gar nicht gehen, daß ich dem entfliehe. Das holt einen überall ein.”
Ich suche den Flohmarkt von Anjuna auf. Er wurde von einem frühen Hippie, von Joe Banana, höre ich, begründet. Unglaublich, wie groß der Verkaufsplatz geworden ist. Eine eigene Stadt. Nein: Es ist ein Bazar einer riesigen Metropole – aber ohne Metropole. Ein Marktfeld am Rande des Dorfes. Aus ganz Indien strömen Händler her. An einer Seite haben die Tibetaner ihre Stände aufgebaut. Anderswo die Kaschmiris. Die Europäer sind wiederum in Umhängetaschen, Buddhaskulpturen, Ghaneshfiguren, Shivastatuen, Holzschnitzereien, Schuhe, Lederwaren, Pluderhosen, Hängematten, Lampen, Edelsteine, Gewürze, Zauberspiele, Haschpfeifen, Schillums, aber auch Taschen, Pizzas, Kokosnüsse, Papayas und gegrillte Fische in Curry.
Später fahre ich mit meinem Motorroller nach Vagator. Ich schaue mir einen Raveclub an: Das Hilltop.
Nein, es sind nicht nur Israelis, die hier abtanzen. Dennoch werden alle Schlechtigkeiten der Rücksackreisenden von manchen Indern den Israelis und alle Unarten des Pauschaltourismus den Russen angelastet. Die rassistischen Vorurteile dominieren auch hier.
Fragt ein Inder einen Israeli in Goa: “Wie viele Israelis gibt es eigentlich?” – Darauf der Israeli: “Etwa sechs Millionen.” – Sagt der Inder: “Ich meinte: Wie viele gibt es außerhalb von Indien?”
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[...] Voyager : Art Kmer au musée Guimet et à Angkor – Le fleuve improvisé et le damier apprivoisé – Anjuna, Flohmarkt und Vagator. [...]
Hallo,
ich war auch ein halbes Jahr in Indien (übrigens auch ein Jahr in Israel, habe also durchaus Sympathie für die Israelis). Die Israelis verhalten sich in fremden Ländern oft wie der Elefant im Porzellanladen, ähnlich wie Einwohner von sehr großen Ländern wie U.S.A oder Russland. Sie haben einfach nie gelernt, wie man sich in einer fremden Kultur benimmt, nämlich leise, beobachtend, abwartend – weil sie in ihrem Leben nie irgendwo zu Gast waren. Wenn sie ein wenig mehr Gespür dafür hätten, wie man sich in Indien verhält und nicht auftreten würden wie Kolonialherren, würden sie auch nicht überall auf Abwehr stoßen.
Nichts für Ungut.
Nicole Timm
Ja, da hat Nicole Timm durchaus recht: “Wenn sie ein wenig mehr Gespür dafür hätten, wie man sich in Indien verhält und nicht auftreten würden wie Kolonialherren, würden sie auch nicht überall auf Abwehr stoßen.”
Hier bei uns in Südamerika haben wir das gleiche Problem, von dem ich nicht weiß, wie offen es in Israel diskutiert wird: Junge Israelis brauchen gar keine Pauschalreise, sie reisen eh im Pulk, nur teilweise sind sie bereit, mit anderen Reisenden zu kommunizieren, einen besonderen Charme haben die meisten nicht, die Einheimischen behandeln sie als wären es Palästinenser, viele Hostels wollen sie gar nicht erst aufnehmen und das Problem hat wirklich nichts mit Antizionismus, Antijudaismus, Antisemistismus oder weiß der Geier was zu tun. Wenn es Geld gibt, dann ist den Menschen die Herkunft und die Blutgruppe des Zahlenden ziemlich schnuppe. Früher habe ich mich unterwegs oft für das Verhalten mancher Deutscher geschämt, wäre ich Israel, ich würde mich heute für das Verhalten der gerade ausrangierten Soldaten schämen. Es sind die unangenehmsten Backpackers, laut, unzugänglich, nur auf die eigene Gruppe konzentriert. denen hat niemand beigebracht, wie man sich unterwegs mit einem winzigen Respekt vor der einheimischen Bevölkerung benimmt.
Und bitte erzählt mir nichts von Anti-bla-bla-bla meinerseits. Hatte zwei jüdische Großmütter, meine Eltern haben sich im Krieg in Deutschland versteckt und nach Israel bin ich auch brav gepilgert …. Seit fünf Jahren leben und reisen wir in Südamerika, waren oft in Indien und vor zwanzig Jahren trafen wir die “shaloms” auch in Afrika. Trotzdem habe ich eine Hoffnung: dass sie langsam zugänglicher werden und sich weniger einigeln unterwegs.
Noch ne Frage; was ist denn literarisch an mitSprache?
Ich traf ganz unterschiedliche Israelis in Goa. Auch durchaus solche, die abwarten und beobachten, liebe Nicole Timm. Nur treten die wohl nicht im Rudel als Israelis auf, sondern bleiben still und im Hintergrund. Das fällt eben nicht so auf. Hinzu kommt, dass ich nicht das Gefühl hatte, die anderen Gruppen seien so abwartend und ruhig. Wenn Deutsche, Italiener, Australier oder Franzosen in der Gemeinschaft daherkommen, sind sie auch laut und großspurig. Nein, ich will die israelischen Backpackers keineswegs pauschal verteidigen, aber Verallgemeinerungen sind einfach falsch.
Und wer übrigens von den “shaloms” redet, ist auch nicht gerade der Feinsinnigen und der Leisen einer.
Das Buch der katholischen Kirche in Goa, das ich im Blog erwähne, hetzt zudem nicht nur gegen Israelis, sondern phantasiert auch von den Juden schlechthin als eigene Macht. Da spricht nur das alte Vorurteil.
Zum Thema & Projekt der Reise | Reportagestipendien “mitSprache” unterwegs wollen Sie , werter Christoph Kehr , bitte diesem Link folgen .