JFK, 8. Februar 2010
Die Sonne scheint durch die Glasfront, am Gate 39 ist es ruhig, das Flugzeug der American Airlines wird gerade getankt, ich habe zum ersten Mal in meinem Leben einen Flug versäumt.
Dreißig Minuten vor Abflug hielt ich keuchend vor dem Schalter der Delta Airlines, die um 8:30 mit mir an Bord nach San Juan hätte fliegen sollen. I have to get on this plane, is there any way to get on this plane? Die Dame hinter dem Schalter ist sehr freundlich, ich flunkere auch ein wenig, wie wichtig und warum es derart wichtig sei, in dieses Flugzeug zu kommen. Ich hätte noch mitfliegen dürfen – allerdings ohne Koffer. Die Dame hinter dem Schalter fühlt mit mir. Ich solle mich beeilen, schnell in den Air Train steigen, der rund um den Flughafen fährt, bei Terminal 3 aussteigen, um 9:05 fliege Jet Blue nach San Juan. Ich komme keuchend im Jet Blue Terminal an, endlose Schlangen vor allen Schaltern, irgendwie gelingt es mir, jemanden auf meine Seite zu ziehen, ich habe mich nicht eben beliebt gemacht. Der Mann beratschlagt sich hinter einem Schalter. Ich könne mitfliegen – allerdings ohne Koffer.
Ich bin seit 5:30 wach, habe mich einmal mit der Metro verfahren und dann, um eine Station einzusparen, die falsche Linie nach Queens und Richtung JFK genommen. Als ich in Jamaica aussteige, weiß ich, dass ich falsch bin. Da ist nicht der Air Train, da ist der Q3-Bus. Und: Keine Taxis, nirgendwo! In NY! Outskirt as outskirt can be. Black neighbourhood. Kleine Holzhäuser, Kirchen, Psalmen. Würde ich mich nicht verfluchen, ich müsste lachen: Der Bus hält alle paar Schritte, Schulkinder steigen ein, Schulkinder steigen aus; indem sie an einer Leine ziehen, weiß der Chauffeur, dass sie aussteigen wollen. Ständig zieht jemand an der Leine. Das gehe sich aus, meint der Chauffeur, keine Sorge.
Es ging sich nicht aus. American Airlines lassen mich nicht online buchen, ich bin kein US-Bürger, ich steige wieder in den Air Train und am Terminal 8 aus. Die Dame hinter dem Schalter fühlt ebenfalls mit mir, ich bekomme den Flug um 15:30. Ich habe viel Zeit und viel Geld verloren. It’s my own studpidity, sage ich. Don’t blame yourself, sagt Miss O’Brien, deren Mann im Management von Air Berlin arbeitet – the only airline that made money last year, thank God. Mein Ticket muss manuell ausgefüllt werden, wegen der europäischen Kreditkarte. That’s how we used to do all the ticketing, sagt sie, I forgot how to do it, I gotta talk to my boss. Problem is to find her.
Sie hat sie gefunden. Ich versuche, positiv zu denken – alles hat bekanntlich zwei Seiten. Ich kann meinen Blog schreiben und mich beruhigen.
Im Austrian Cultural Forum New York treffe ich Emilie Borhi, geborene Dirnbeck. Sie ist 71, eine sehr rüstige Dame, die sich vor einem Jahr einer Operation am offenen Herzen unterziehen musste.
Sie zeigt mir Familienfotos und ihre Mitgliedskarte im New York Sports Club. Sie und ihr Mann Lászlo, der wenige Kilometer jenseits der burgenländischen Grenze geboren wurde, gehen dreimal wöchentlich ins Fitnessstudio: Laufband, Crosstrainer. Am liebsten gehe sie allerdings tanzen. Emilie emigrierte 1959 mit Bruder und Schwester in die USA – geboren wurde sie 1938 in Harmisch. Ich weiß nicht, wo Harmisch liegt. Sie zählt mir Namen von Ortschaften auf, die ich noch nie gehört habe. Sie will Deutsch sprechen. Sie erzählt, wie schwer es anfangs war, in Manhatten anzukommen, ohne Englisch zu sprechen. Aber dann bekam sie doch einen Job in einer Fleischerei in Manhatten, später in einer Fleischerei in Brooklyn, ihr Mann war Bauarbeiter. Als ihre Tochter Linda geboren wurde, blieb sie zuhause. Linda wurde 1984 Miss Burgenland – die elegante Dame und ihr Sohn brachten Emilie ins Kulturforum, wo wir uns im Konferenzraum unterhalten. Emilie erzählt, sie sei in die Baumschule (Bahmschui) gegangen – jetzt verstehe ich das Wort, das ich immer wieder zu hören bekam. Du bist sogar für die Baumschule zu blöd. Die Baumschule war das Arbeiten im Wald. Es habe keine vernünftige Arbeit, keine Aussichten gegeben – darum sei sie weg. Früher seien die Ausflüge in die große Stadt nach Güssing und Oberwart gewesen. Emilie erzählt mir vom Oberwarter Mittwochsmarkt, wo es die besten Würstel gebe – mit, what’s that, Kren! Sie erzählt mir, wie sie 9/11 erlebte, von ihrem Wochenendhaus in Pennsylvania, im Lehigh Valley, ihr Bruder lebt vier Häuser entfernt, von den Tänzen, also Festen, an denen früher Hunderte von Emigranten teilnahmen. Bei einem dance, wo die Burgenländer zusammenkamen, lernte sie ihren Mann kennen. Wenn ihre Bekannten heute Österreich und das Burgenland verklärten, sage sie ihnen: You haven’t been there in a long time, it has changed a lot!
Als ich wenige Minuten vor Zwölf an der südöstlichen Ecke East 42nd Street/Madison Avenue ankomme, erkenne ich Frank und Elsie Paukowits sofort – auch wenn Frank kein Schild mit meinem Namen trägt. Ein herzlicher Empfang, wir gehen in die Grand Central Station. Bevor wir uns setzen, schickt mich Frank in dem viereckigen Gewölbe, von dem man zum Dining Councourt gelangt, in eine Ecke. Ich solle mich mit dem Gesicht zur Wand stellen. Er stellt sich diagonal gegenüber vor die Wand. Menschen über Menschen, es ist sehr laut. Ich höre Franks Stimme über mir: Welcome to New York, Clemens! Aren’t the acoustics amazing? Ja, sage ich, ich verstünde ihn besser als am Hoteltelefon.
Frank und Elsie sind ein Team, das spürt man. Sie erzählen ihre jeweilige Geschichten gemeinsam, einander korrigierend, ergänzend. Sie haben auch vieles gemeinsam: beider Väter waren Bäcker, beider Mütter Hausmädchen, die bei den Familien, deren Haushalt sie führten, lebten. Sie lernten einander at a dance kennen, so wie ihre Eltern einander jeweils at a dance kennenlernten. Die dances waren die Orte, an denen sich die burgenländischen Emigranten trafen. Beim Abschied meint Frank, mal sehen, wie wir einander wiedersähen – sollte ich in Chicago den fasching dance besuchen. Franks Vater und Elsies Mutter sind in Glasing geboren. Der Vater hat sich später erinnert, dass man ihm ein kleines Mädchen gezeigt habe, als er acht war – das könne einmal seine Frau werden, habe man ihm gesagt. Es war die zukünftige Mutter seiner zukünftigen Schwiegertochter – in New York.
Frank und Elsie erzählen mir so viele Geschichten, über die ich mich nur wundern kann. Die man nicht erfinden könnte, ohne schamloser Konstruktionen beschuldigt zu werden. Elsie und Frank sind in New York geboren, sie war Lehrerin, er Buchhalter. Die Eltern arbeiteten hart, damit es die Kinder einmal besser hätten – Erziehung, Bildung, darum sei es ihnen gegangen. Wir sprechen über Obamas Gesundheitsreform und hoffen, dass er irgendwie durchkommt. Aber der Hass auf ihn ist riesig, wie ich selbst in New York immer wieder mitbekomme. (Ich habe einen politischen Schnelltest erfunden: Ich erwähne entweder beiläufig CNN oder Obama. Wenn ich höre We don’t like CNN, weiß ich schon, woran ich bin; bei Obama ist es ohnehin klar.)
Elsie und Frank wuchsen mit den Geschichten ihrer Eltern auf, die von der Heimat schwärmten, die sie verlassen mussten, um ein besseres Leben zu finden. Was ihre Bilder vom verheißenen Burgenland gewesen seien? Kleine, primitive Häuser, Öfen, Tuchenten (wie lange ich dieses Wort schon nicht mehr gehört habe), in die man sich wickeln muss, um sich vor der Kälte zu schützen, Kartenspiele, Feste, zu Fuß über Felder in die nächste Kirche gehen, Tiere – und mud, vor allem das, viel Gatsch. Dritte Welt? Frank und Elsie lachen. Ja, so in etwa. Wir lachen auch darüber, dass ich mir schwer tue, Frank zu verstehen, wenn er Deutsch spricht – der Dialekt und der amerikanische Akzent sind eine starke Mischung. Nach zwei Stunden sind wir müde und essen Pizzastücke. Ich schwöre mir wieder, aufzupassen – ich will nicht um zehn Kilogramm schwerer nach Wien zurückkommen. Ich verspreche, mich zu melden, wenn ich rechtzeitig nach New York zurückkomme. In der Zwischenzeit versucht Frank, Joe Baumann für ein Gespräch mit mir zu gewinnen. Er ist über achtzig und hatte ein Reisebüro: USA-Burgenland-USA.
Die Fähre nach Ellis Island nehme ich am kältesten Tag, ich hatte keine andere Möglichkeit. Frieren auf dem Deck. Hier kamen zwölf Millionen Emigranten an, von überall her. Zwei Prozent wurde die Einreise verweigert – aus gesundheitlichen, psychischen oder politischen Gründen. (Damals fragte man, ob jemand Polygamist oder Anarchist sei.) Das sei nicht viel, erzählt mir der Audioguide, nun solle ich mir aber vorstellen, ich sei unter den zwei Prozent, oder meine Mutter, oder mein Vater.
Die Sonne scheint noch immer, das Flugzeug der American Airlines ist beladen, den Flug in einer Stunde werde ich nicht versäumen. Als ich den Blog noch einmal durchlese, wird zum Boarding aufgerufen. Der Flug geht um 14:30.
P.S. Im Flugzeug, als ich endlich die Augen schließen kann, werde ich von New-York-Bildern überschwemmt. Auf einmal muss ich lachen. Tags zuvor war ein Taxi nahe an den Gehsteig gefahren, der Lenker hatte die Scheibe heruntergekurbelt. Buddy, remember me? Natürlich! Tags zuvor hatte mich der Ägypter in die Lower East Side gefahren, wir hatten über New York und Europa, wo sein Bruder lebt, und den Koran gesprochen. Und dann fällt mir ein, wie mir eines Abends auf dem Times Square das Mädchen aus dem Flugzeug begegnete, dessen remote control mit meiner übers Kreuz programmiert gewesen war. Und die New Yorkerin, die mit mir und sechs anderen Menschen im Tenement Museum war, ging zwei Tage später zwischen World Trade Center und Wall Street an mir vorbei.
Ground Zero: ein Arbeiter erzählt mir vom Wiederaufbau, der Freedom Tower ist gerade am Entstehen, das Fundament wird aufgezogen, WTC 7, ein riesiger Wolkenkratzer, wurde in etwas mehr als einem halben Jahr fertig gestellt. Und da drüben, sagt er und zeigt auf ein blau eingeschaltes Gebäude, das sei die Deutsche Bank. Die sei so vom Anschlag so beschädigt worden, dass man sie nun Stockwerk für Stockwerk abtragen müsse – zwei, drei pro Monat.
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