Notizen vom 28. Jänner bis zum 8. Februar 2010
Nachdem ich erfuhr, dass die vom Kronprinzen ermordete Jugendliche Vetsera in einem Grab einsam und verlassen in der Nähe Mödlings ewiglich ruht, fuhr ich zum Flughafen und begab mich zu einem Meeting nach Venedig.
Mit Kollegin Sabine Scholl, einem australischen Germanisten und einem Tanguero aus Montevideo durchstreifte ich die Stadt. Wer kennt Venedig im Jänner? Kaum Touristen und überall Baustelle. Man rüstet sich für den Carneval- sogar der Friseur hatte seine Pforten geschlossen, um das Stiegenhaus zu seinem Salon zu renovieren.
In der Auslage eines anderen Salons am Canale Grande sitzend, wartete ich auf Fabrizio. Den Friseur. Während mein Haar unter seiner Schere fiel, schneite es draußen. Die Stirnfransen verhängten mir den Blick auf die Vaporetto Station.
Woher stammt der Spruch: es fällt jemandem wie Schuppen von den Augen? Woher kommen die Schuppen? Handelt es sich um abgestreifte Schlangenhaut? Ist da wer geschlüpft? Saulus Paulus war ein Diasporajude und hat sich, seit er an den Glauben von der Erlösung glaubte, seinem AHA-Erlebnis hingegeben. Verklärter Blick erschien ihm klar. Im Grunde glaubte er an einen Kreis der Errettbaren, der an Jesus Cristus glaubt. Die strenge Einhaltung der jüdischen Gesetze war nicht mehr conditio sine qua non.
Bibel-Wahnsinn. Der Glaube versetzt keine Berge, er schafft Gewalt. Gewalt schafft den Unterschied zwischen dem was ist und dem was nicht ist. Gewalt erzeugt Wirklichkeit. Wie Gewalt sich auswirkt, ist eine Frage des Stils und Erlebens. Die Formen der Gewalt geben uns Gestalt. Ist das nicht beknackt? Alles ist also Gewalt, auch wenn ich mir schräge gegenüber vom Ponte Rialto die Haare abschneiden lasse. Meine Frisur ist das Ergebnis von Gewalt. Mein Haar empfindet keinen Schmerz. Schmerz als Gradmesser von Gewalt. Sehr subjektiv. Und dann gibt es die Lust am Schmerz, oder die Entspannung, wenn das Gefühl, sich selber wahrzunehmen nicht mehr auszuhalten, einen übermannt, so dass man das Messer nehmen muss und sich aus der Haut ritzen.
Nach einer halben Stunde des still Sitzens und geduldigen Zusehens beim Klippklapp des Haarabschneiders wird es heiß vor aufwallender Unlust. Stirnfransengesicht. Als hätte die Stirn eine Schraffur.
Ich zahle und gehe.
Dann fahre ich mit der Gondel zum Supermarkt und kehre in Begleitung mit meiner Freundin nach San Polo in unsre Wohnung zurück. In der Einkaufstasche transportieren wir Frischfleisch.
Am nächsten Tag unternehmen wir Stadt-Wanderung.
Im Ghetto Vechio schweige ich und gebe mich nicht als Österreicherin zu erkennen, als ich in der Scuola Spagnola stehe und die Reiseführerin auf eine Stelle neben der Kanzel zeigt, wo vor etlichen Dekaden eine österreichische Bombe eingeschlagen hat. Die Österreicher hatten die Kanonenkugel an einem Freitag Abend als sich die Gemeinde zum Gottesdienst versammelt hatte abgefeuert. 1848. Die Bombe explodierte nicht, ein Segen für die versammelten Gläubigen
Die Ausstattung der Scuola Spagnola ist prächtig und barock. Levantinische Juden leisteten sich die teuersten Baukünstler der Zeit, Christen, deswegen alles auch ein wenig bebildert,. Der Papst hatte gegen Geld die Erlaubnis erteilt, Marmor zu verwenden.
Der Stein war für Kirchen reserviert und das Material war Juden verboten.
Seinerzeit, als ich noch im Malersaal der Theaterwerkstätten ein Praktikum für mein Studium absolvierte, malte ich auf Press-Span mit langstieligem Pinsel das Geflecht von steinernen Adern . Ich schuf Marmorino für die Kulissen im Palast des Herodes. Mit der Spitze einer Feder zog ich die dünnen Linien durch die feuchte Grundierung und durch stärkeren Druck erzeugte ich Effekte von Farbeinschlüssen, die den Marmor aus Carrara strukturieren. Die Adern verfließen.
Marmorino ist heute bewundert und kein Substitut. Die Spachtelmasse ist eine beliebte Applikation zur Oberflächengestaltung und Glättung von Wänden festlich anmutender Räume. Marmorino ist teurer als Marmor, außerdem: wärmer, zarter und zur Verkleidung gewölbter Flächen, wie Kuppeln und Bögen geeignet.
Marmorino und Marmor- Who is who?
Am Küchentisch in der Wohnung, dessen Platte aus echtem Prolo-Marmor, entsteht aus unserer (scholl/mischkulnig) Feder eine Szene zu einem Western, der im Osten endet. (ich glaube Sabine Scholl schreibt davon im blog, bitte dort weiterlesen)
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Am 31. Jänner, Wien.
Am 1. Februar Reise mit PKW eines Freundes in die Dolomiten nach San Vito di Cadore.
Vacanza an der ehemaligen Frontlinie zwischen Österreichern und Italienern. Verschanzhöhlen, Schießscharten. Laufgänge. Minusgrade. Pulverschnee.
Abends Tango Argentino im Hotel und interessante Dramen zwischenmenschlicher Natur unter Europäern. Identität soll Ursprung sein. Identität ist ein innerfamiliärer Konflikt, und der Rest ist Kunst, ein Prozess aus dem Versuch sich der Gewaltspirale zu entheben, basta.
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Un Venise au Brésil !