Chicago, 14. Februar 2010
Dana Reed hat es nicht nach Chicago geschafft, aber seine Bekannten in Alarmbereitschaft versetzt: Kelly Brouwers, die für Microsoft Anzeigen um mehrere Millionen Dollar keilt, zeigt mir abends die Gegend, Essen und Wein und schöne Aussichten. Samstag, ein Tag vor Valentinstag, überall Schlangen – bis wir in Gino’s East of Chicago sind, der Pizzeria, in die uns Dana zu gehen befahl, dauert es eine halbe Stunde.
kalt ist es
Es ist sehr kalt, Schneeflocken fallen. Drinnen wird uns befohlen, auf Lederstühlen Platz zu nehmen, bevor uns befohlen wird, auf die gegenüberliegende Seite zu wechseln (immerhin: es geht voran!), bevor man uns in das erste Stockwerk schickt. Die Pizza wird (Chicago style) in der Pfanne gemacht, sie schmeckt leidlich, der Wein ist entsetzlich. Genau aus diesem Grund suchen wir, nachdem auch im John Hancock Center Schlange gestanden wird und ich nur aus den Fenstern blicke, eine elegante Hotelbar auf, trinken guten Wein aus dem Napa Valley, landen in noch einem Lokal, scherzen mit dem schwulen Kellner aus Brooklyn, der Larry King nicht unähnlich sieht, es wird immer später, und auf einmal stehen wir in einem 7/11-Laden, der – nomen est omen – rund um die Uhr offen hat, und erspähen den grauenhaften Chianti, den wir für $26 bei Gino’s getrunken hatten – hier, wo alles teurer ist, kostet er $5.50! Ich muss ins Hotel, am nächsten Tag treffe ich erstmals meine Verwandten: Betty, die Cousine meines Vaters, ihren Mann Bob, sowie Tante Wilma, die Schwester meiner Großmutter väterlicherseits.
Betty und Bob Bergeron
Betty und Bob warten in der Hotellobby, als ich aus dem Lift komme. Wir haben viel von einander gehört, einander aber noch nie gesehen. Um die Ecke ist ein Steaklokal, Valentinstag, Bob hat einen Tisch reserviert. Der Kellner hält eine viertelstündige Ansprache, in der unter anderem Haltung, Pflege, Schlachtung und Zubereitung der Rinder thematisiert werden, die Marmorierung des Fleisches, das tagelange Trocknen, wobei er nicht darauf hinzuweisen vergisst, dass diese a) glücklich seien, weil für sie b) sogar musiziert werde. Es liegt nicht an mir; auch Bob und Betty, die beide in den Vereinigten Staaten geboren wurden, haben so gut wie nichts verstanden. Wir essen, plaudern, lachen. Betty erzählt von Wilma, ich erzähle, was Wilmas Schwester, Oma Anna, über ihre Schwester erzählt habe, es geht einmal um den, einmal um die – Familiengeschichten. (Ich verwende bisweilen das Wort Familiengeheimdienst, weil manchmal sogar das, was man selbst kaum weiß, von anderen gewusst wird. – Kelly hatte mich am Abend zuvor leicht erschrocken angesehen, als ich das Wort verwendet hatte, das ich schnell zu erklären versuchte.)
Wir fahren in den Norden, nach Glenview, die suburb, in der Bob und Wilma Bergeron leben. Ich finde es lustig, dass sie Bergeron heißen: Meine Großmutter väterlicherseits heißt Berger, Mädchenname Grosinger, Bobs Familie stammt aus Frankreich, dem Libanon und vielen anderen Ländern. Schnee liegt auf den Straßen, es ist sehr ruhig, ein schöner schwarzer Hund begrüßt uns. Betty zeigt mir das Hochzeitsfoto ihrer Eltern. Hans (John) Baumgartner wanderte in der Zwischenkriegszeit in die Vereinigten Staaten aus, kämpfte als GI in der Normandie, bevor er zur Befreiung Österreichs nach Salzburg kam. Wilma hatte ihn, bis sie in die Vereinigten Staaten zur Hochzeit kam, nie gesehen. A warbride, sagt ihre Tochter dazu. Und trotzdem: ein schönes Paar.
Betty und ich holen ihre Mutter ab, die in einem riesigen Veranstaltungsgebäude mit Restaurants, Kaffee, Bankettsälen bei einem fundraising ist. Wilma, die Tante, die nicht meine Tante ist – sie bestand in erster Linie aus Geschichten, meiner Eltern, meines Bruders, meiner Verwandten, ihrer Schwester. Der Zehndollarschein zu Weihnachten, der mich jede Weihnachten den Wechselkurs studieren ließ. Die reichen Verwandten in den Staaten, die meinen Vater und seine Geschwister mit Süßigkeiten und Ausflügen in den Prater verwöhnten, wenn auf Besuch.
Tante Wilma
Und da kommen sie schon auf mich zu, Wilma ist noch ganz außer sich von einer Versteigerung, I raised my flag, and I raised it again, and they told me you already got it. Ein herzliches Willkommen, sie zieht mich mit sich in den Saal und stellt mich ihren Bekannten vor, he’s from Austria. Dann zeigt sie mir die koreanische Decke, handgestickt, die sie ersteigert hat.
Wir fahren zu Jolane’s, einem Wiener Kaffeehaus, in dem es Meinl Kaffe gibt. Ich freue mich aufrichtig, echten Kaffee zu bekommen – auf einem Tablett. Jolane kam 1913 aus Ungarn, eine bald sehr emanzipierte Frau, die die Welt bereiste und mit ihrem Mann ein Elektrogeschäft eröffnete, das neben dem Kaffeehaus liegt, welches sie nicht mehr kannte. Wilma ist Ende 80, sie sprüht vor Leben und Energie. Auf der Speisekarte steht, Kinder äßen gratis. I’m a child, sagt sie zum Kellner und lacht lauthals.
Ihr Gedächtnis ist unglaublich, ich muss sie gar nichts fragen, sie erzählt eine Geschichte nach der anderen – vom Burgenland, von Wien, von den Männern, von ihrer Emigration, von Chicago, vom Aufwachsen auf dem Bauernhof in Bergwerk. Sie wechselt vom amerikanischen Englisch, das eine merklich deutsche Färbung hat, ins Deutsche, you know, und hin und her. Ob sie Chicago beeindruckt habe? Aber wo! Schmutzig sei es gewesen, man habe kaum die Wäsche nach draußen hängen können. Außerdem habe sie vorher in Wien gelebt! Wie es mir gefalle? Als mein Vater auf Besuch und mit Betty in der Brauerei Goose Island gewesen und viel zu spät nachhause gekommen sei, habe sie den Rosenkranz gebetet. Sie könnten schon auf sich aufpassen, meint Betty, trotzdem, sagt Wilma, sie habe Angst um die beiden gehabt. Die Zeit vergeht schnell, wir statten Jolane’s Elektrogeschäft, das mittlerweile riesig ist, noch einen kleinen Besuch ab.
Betty fährt mich durch die Lincoln Avenue Richtung Loop – das war die deutsche, österreichische, burgenländische Gegend, die in den 70ern, 80er heruntergekommen ist, jetzt gentrifiziert wird. Betty zeigt mir, wo sie zur Schule ging (bis zum Eintritt hatte sie kein Wort Englisch gesprochen), welches ihre Kirche war, welche Lokale sie besuchten, in welchen Bäckereien die Bekannten arbeiteten, wo das deutschsprachige Kino war. Wilma hat es sich nicht nehmen lassen, ihren Großenenkel (sagt man so?) nach Downtown zu begleiten, wir fahren kurz an ihrem Haus vorbei, sie erzählt, wer wo wohnt, scheint die ganze Nachbarschaft zu kennen.
Als wir an den Wolkenkratzern vorbeifahren, meint Wilma, da würde sie nicht wohnen wollen, man stelle sich vor, der Strom falle aus oder es beginne zu brennen. Betty lacht: Das seien die wohl sichersten Gebäude! Trotzdem, meint ihre Mutter. Wir fahren noch ein wenig durch die Gegend, zum Lake Michigan, zum Planetarium, vorbei an Navy Pier, bevor mich die beiden vor meinem Hotel aussteigen lassen. Wir vereinbaren, einander mittwochs wieder zu sehen.
Cloud Gate – “the bean” by Anish Kapoor
Millennium Park , Chicago
Auf der Website von Ellis Island finde ich den Eintrag zu Rosalia Fuith, geboren 1896, die jüngere der beiden Tanten Wilmas, die beide in die USA auswanderten und später eine gut gehende Bäckerei führten. Und viel reisten. Und große Hüte trugen. Und deutsche Männer hatten: einer, Gust(av), ging sehr aus dem Leim und soll die Frauen geliebt haben, der andere, Reinhold, Rosas Mann, trug später eine Kappe, wenn er mit seinem Schlitten unterwegs war, damit niemand dächte, er sei der Besitzer dieses Wagens.
Passenger Record Rosalie Fuith | Ellis Island
Rosalia Fuith, Ethnicity: Austria, Last Place of Residence: Bergwerk, Com. Eisenberg, West Hungary, Date of Arrival: Sep 17, 1921, Age at Arrival: 25, etc. Ich finde auch ein Foto der Noordam, mit der sie gekommen war. Ihre Schwester Resi (Theresia) war 1898, im Alter von 16 Jahren, in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Zu ihr finde ich keinen Eintrag.
Transatlantik- Linie Noordam
Rotterdam – New York
Ich lege mich aufs Bett und mache Notizen. Ich habe, sage ich mir wieder einmal, ein schönes Leben. Auch wenn ich mich bisweilen, wie ein gelernter Österreicher, beklage.
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..Großneffe!
Die eigene Erfahrung von bloß 2 Tagen Chicago wird hier wunderbar lebendig, Geschichten von Menschen mit Geschichte. Und der “Geheimdienst” legt dankenswerter Weise alle seine Akten offen…