Clemens Berger: Rothblog 12 | Chicago, 16. Februar 2010

| mitSprache unterwegs |

Chicago, 16. Februar 2010

Emmerich Koller holt mich kurz vor Mittag vorm Hotel ab; bis dahin hatte ich in seinen Erinnerungen Good Dogs Do Stray weiter gelesen, die hoffentlich bald auf Deutsch vorliegen werden. Ich erzähle, wo ich gerade (mit ihm) bin: kurz nach dem ersten Ausflug in ein kommunistisches Jugendcamp am Balaton, der kleine Emmerich zum ersten Mal von zuhause fort, noch dazu in Lederhosen, was die anderen Kinder sehr erheitert – und die erste scheue Postkarte an ein Mädchen im heimatlichen Pernau oder Pornóapáti.  Wer hätte das gedacht, meint der heutige Emmerich, dass er, der mit fünfzehn sein erstes Buch las, einmal in seiner vierten oder fünften Sprache eines schreiben würde?

Emmerich Koller

Wir fahren in den Süden, wo wir in einer Vorstadt Hans (John) und Pauline Mueller (geb. Knopf) abholen. Sie haben es zu etwas gebracht, ein schmuckes Häuschen, eine ruhige Gegend, obwohl Pauline gern in ein anderes, neues zöge; nur Hans sagt, aus dem Haus werde man ihn hinaustragen. Pauline ist 1930 in Pernau geboren, sie ist Emmerichs Cousine zweiten Grades, was die beiden erst in den Vereinigten Staaten und zufällig herausfanden. Ihre Familie wurde 1946 aus der Volksrepublik Ungarn nach Bayern zwangsübersiedelt, displaced persons, ein kleines Zimmer für fünf Leute. Sie arbeitete auf einem Bauernhof, bis sie Hans kennenlernte, einen Bayern, der Bauer und Schmied war.

Pauline hatte eine Cousine in den USA, aber recht eigentlich wurden die beiden angeworben und mussten einen Vertrag unterschreiben, zumindest ein Jahr lang auf einer Farm in Ohio zu bleiben. Anstatt auf die Farm zu gehen, zogen sie direkt nach Chicago, wo die Cousine für sie bürgte. 1951 kamen sie mit einem Schiff der US-Army nach New York, die Überfahrt hatte Meissner Funeral Homes bezahlt. Sie mussten durch Ellis Island, das ein Jahr später geschlossen wurde, bevor sie drei Tage lang im Zug nach Chicago saßen. Ein Häuschen da, eines dort, ansonsten Felder. Gab es da auch Menschen?

Es gab Menschen. Und es war nicht leicht, sich zurechtfinden. Sie konnten kein Englisch, lernten es durch Zuhören, aus Zeitungen und dem Fernsehen. (Ich muss an Wilma denken, die mir lauthals lachend erzählte, wie sie erstmals Englisch zu sprechen versuchte. Sie kam in eine Fleischhauerei und sagte: I would like to have a piece of beefpork.) Hans fand eine Anstellung bei der Polizei, er beschlug die Hufe der Pferde, was ihm keine große Freude bereitete, weshalb er in eine Fabrik wechselte, die Förderbänder für Metzgereien herstellte. Noch heute scherzt er, Pauline müsse für ihn aufkommen, immerhin habe sie ihn über den großen Teich gebracht. Pauline, die viel und gern lacht, arbeitete in einer großen Bäckerei, einer mittlerrweile riesigen Kette, Nabisco: viele Überstunden, auch sonntags. We came at the right time, sagt sie immer wieder, und dass sie es in Europa nie so weit gebracht hätten. Da stimmt auch Hans zu, der generell äußerst zufrieden zu sein scheint. Die beiden sind viel gereist: Südamerika, Panamakanal, bis Alaska.

Pauline, Hans, Mimi

In der Peace Village, Palos Park, einer weitläufigen Siedlung mit betreutem Wohnen, treffen wir Hermine (Minni) Volkovits. Sie ist sehr witzig, aufgedreht, ungemein lebendig. Minni wuchs in Jabing auf (wir Oberwarter Kinder, aus der großen Stadt, lachten immer über diese kleinen Orte mit den wundersamen Namen), arbeitete später in Wien, unter anderem in einem Hotel auf dem Kahlenberg. Auch sie erzählt vom Oberwarter Mittwochsmarkt, von Würsteln und Kren.

Ihre Eltern waren schon in den Vereinigten Staaten gewesen. Die Mutter hatte anfangs als Dienstmädchen, später in Nachtzügen gearbeitet; am Schluss hatte sie es so weit gebracht, dass sie nur noch die Betten der Liegewagen überzog. Der Vater hatte in einer Fabrik gearbeitet – wie beinahe alle Männer aus dem Südburgenland zu dieser Zeit: vor allem in den stockyards, den riesigen Metzgereien Chicagos. Die ersten beiden Kinder blieben im Burgenland, als Minnis Eltern auf Arbeitssuche in die Neue Welt fuhren. Dann kam der Erste Weltkrieg, Europa war versperrt. Als sie zurückkamen, erkannten die Kinder ihre Eltern nicht mehr. In Jabing gebar Minnis Mutter fünf weitere Kinder. Wenn man sie fragte, warum sie in den USA kinderlos geblieben sei, antwortete sie: Keine Zeit!

Minni wurde 1923 als erste in dem neuen Haus geboren, das ihre Eltern, die Heimkehrer, gebaut hatten. Die Mutter hatte elegante Schuhe mit hohen Absätzen und extravagante Hüte mitgebracht, die in Jabing auf dem Dachboden verschwanden. Minni bringt uns alle, die wir in der Kantine des Altenwohnheims sitzen, Chili und Sandwiches essen, während ein Happy Birthday auf eine der Sekretärinnen angestimmt wird, zum Lachen, als sie erzählt, wie sie die Hüte anprobierte, wenn die Eltern auf dem Feld arbeiteten. Hans isst sein Sandwich, Emmerich fragt bisweilen nach, Pauline und Minni erzählen Geschichten. Und von den Gewerkschaften, die damals stark waren. Und von den guten Pensionen wegen der starken Gewerkschaften. Und von den Aktien und Firmenanteilen. Und von der Krise. Und von Glück und Unglück.

Minni kam 1951 mit ihrem Mann Frank, einem Jabinger, nach Chicago. Regnet es hier Autos?, fragte sie. Zuerst arbeitete sie in einer Steckdosenfabrik, dann, bis zur Pensionierung, in einer Bäckerei. Die gehörte drei Brüdern, welche allesamt Millionäre wurden. Als sie zur Bewerbung erschien, sagte einer der drei, sie sehe einer gewissen Mitzi ähnlich, die mit seinem Neffen verheiratet sei. Aber das war doch ihre Cousine! Statt ganz unten im Bewerbungsstapel zu landen, landete sie obenauf. Ihr Mann erlitt früh einen Herzinfarkt; hätte er nicht jemanden bei einer Wach- und Schließgesellschaft gekannt, hätte er keinen Job mehr bekommen. Frank und Minni kauften ein Haus, das sie später mit Gewinn weiterverkauften, zogen in ein größeres, das sie später mit Gewinn weiterverkauften, bis Frank starb und sich Minni allein in einem sehr großen Haus fand, von dem sie in ein kleineres zog, bevor sie in die Peace Village übersiedelte. Aus diesen Zimmern, sagt sie, ziehe sie nur mehr nach oben – ins Mausoleum, wo Frank auf sie warte.

Nach dem Essen sitzen wir in Minnis Appartement – vor dem Backrohr hängt ein weißes Geschirrtuch, auf das in blauen Lettern BURGENLAND u gestickt ist. Minni hat für uns alle Faschingskrapfen gekauft. Es ist Fat Tuesday, Faschingsdienstag, ich hätte es nicht gewusst (am nächsten Tag, als ich durch Chicago gehe, dauert es ein wenig, bis ich verstehe, warum so viele Menschen mit riesigen grauen Kreuzen auf der Stirn durch die Gegend laufen: Ash Wednesday). Bei der Verabschiedung sagte Minni, man sähe einander im Himmel wieder, wenn dort noch Platz sei

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One Response to Clemens Berger: Rothblog 12 | Chicago, 16. Februar 2010
  1. Emmerich Koller
    March 1, 2010 | 06h52

    What patience you had with us old immigrants! I am sure you noticed that under a thin American layer, there lurks a Burgenländer. To quote an old English proverb, “You can take the farmer (Burgenländer) out of the country but not the country out of the farmer (Burgenländer).” I will send Pauline, Hans, and Minni a printed copy of this blog. They would want to read it, I know.
    Gee,I should have posed for that picture! No wonder my students were at times afraid of me.
    Emmerich
    Emmerich

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