Wien, 20. 2. 10
Der Mensch braucht Orientierung, sonst irrt er. Derzeit denke ich an den Monte Cristallo und seinen Symbolwert. Er repräsentierte die stille Macht der Geduld, Dauer und unübersehbaren Präsenz in der dolomitischen Landschaft. Auf Skiern gings über seine Hänge hinab. Natürlich klingt es jetzt eigentümlich zu sagen, der Berg ließ es mit sich geschehen ohne mit der Wimper zu zucken. Er rückte einem nicht zu Leibe, obwohl man auf seiner Haut dahinwedelte und Pulverschnee aufwirbelte, war er einfach nur da und löste das Distanz Nähe Problem, wie fast aller beziehungsgestörter Menschen, durch Erstarrung der Wünsche auf. Ein Erdbeben oder eine Lawine wäre die Katastrophe schlechthin, besonders wenn ich derartiges ausgelöst hätte. Wenn die Natur menschenfeindlich agiert, dann nützen die schönsten Symbole nichts. Auch der Mensch ist Natur und für gilt dasselbe. Mutter Vater Erde. Kein Stein bleibt auf dem anderen, außer die festgewachsenen Riesen ruhen auf verläßlich tragfähigen tektonischen Schichten. Und darunter brodelt trotzdem der Erdkern. Im Grunde kann also alles und jeder hochgehen oder erstarren, wie es die Anlage und Beschaffenheit erlauben im Wandel der Zeit.
Selbst der Monte Christallo ist nichts Fixes. Sub specie aeternitatits, wie auch aus der glühenden Vergangenheit betrachtet, ist mit keiner Identität zu rechnen.
Jetzt, wie lange währt der Augenblick, bin ich in Wien verortet und das war schon gestern so. Da fuhr ich vom Ring mit dem Bus an die Endstelle. Baumgartner Höhe. Rechts, die Baumgartner Höhe bergauf, liegt das psychiatrische Krankenhaus “am Steinhof”. Es gibt einen Reim drauf. Steinhof, Steinhof machs Türl auf, man kommt im Dauerlauf, legt sich in das erste Bett und ruft, ich bin der größte Depp. Psychiatrie ist ein weites Feld für die Vertiefung der Bedeutung des Wortes: Verstehen. Je mehr ich verstehe, um sie weiter rückt das Verstandene ab, weil die unbekannten noch fremden Anteile hervortreten. Wozu also Angst vor zuviel Nähe. Woher kommt die Sehnsucht Distanz zu überwinden und dennoch in der Distanz zu leben? Aus der Angst einsam zu bleiben, obwohl man schon am langen Arm verhungert.
Lieber allein, als schlecht begleitet. Lieber schlecht begleitet, als allein. Wer will was. Natürlich kann ich schlechte Begleitung sein, vor allem, wenn ich Besitz ergreifen möchte. Beispielsweise von persönlichen Geschichten. Eine Frage literarischer Ethik? Verschwiegenheitspflicht.
Bergauf also die Baumgartner Höhe, Steinhof. Der Bus hält vor dem psychiatrischen Krankenhaus. Joseph Roth besuchte Steinhof 1919, nach dem Untergang der österreichischen Monarchie, einer Art Haus Europa, Synonym für viele Völker unter einem Dach. Roth beschreibt in den Gesprächen mit Patienten, die Verzweiflung “letzter Kaiser” über die politische Lage Deutschösterreichs, wie es damals hieß. Schnittige Patienten-Töne, redegewandt und kritisch. Roth wird nicht als Journalist geschätzt, sondern als Vertreter der Papierverwertungsbranche beurteilt. Als einer jener ” freien Berufe”, die sich infolge eines fatalen Versehens der Natur nicht am Strich anbieten können und es infolgedessen über oder unter dem Strich tun! “Dr. Regelrecht” ist der Kunstname als Zuflucht einer Identität, die von Steinhof nicht zurückkehren will in die Alltagswirklichkeit des Nachkriegswiens, ich bin nicht irrsinnig.
Steinhof wurde um die vorletzte Jahrhundertwende gebaut. Die Patientenzahlen stiegen damals, der Bedarf nach Gesundheitseinrichtungen wuchs. Modernisierung und Urbanisierung wurden damals als Ursachen angenommen. Veränderte Familienstrukturen und das Leben in der Stadt erforderten eine Betreuung der psychisch Kranken außerhalb des privaten Kontextes. Am Land in der Großfamilie waren psychisch Kranke leichter zu verbergen, unterzubringen, zu betreuen.
Neben den anderen sozialmedizinischen Einrichtungen der 60 Pavillons befindet sich die Rothsche “Gartenanstalt der Irrsinnigen”. In einen dieser Pavillons werden mehrfach psychisch Kranke zur Langzeitbetreuung vermittelt. Die Patienten, die mich interessieren, sind jung, durch psychische Erkrankungen in ihrer Ausbildung zurückgeworfen worden, interessant durch die individuellen Herkünfte und Identitätskonstruktionen. Sie erhalten hier Unterstützung aufzuholen und neue Perspektiven zu entwickeln mit der Sucht und/oder Krankheit fertig zu werden. Arbeits, Ergo, Psychotherapien als Bewältigungsstrategien. Die Sucht ist ein Fluch, sehnsüchtigster Ruf nach Schmerzmittel, welches Garant für Verschlechterung des Krankheitsbildes und die Prognose darstellt.
Ich bereite mich auf die Polenreise vor, wende mich ab.
Auf der anderen Straßenseite führt ein betonierter Weg zu den Gründen der Gemeindebauten rund um die Greisingerstraße. In meiner Handtasche transportiere ich ein Notizbuch, den Polen-Reiseführer der Gebiete um Krakow und Nowy Sacz. A. wird mich nach Krakow begleiten. Sie ist in Polen Literarur und Kunstkritikerin, Lyrikerin, und arbeitet in Wien als Augenspezialistin. Sie ist begabt, denn sie betritt Räume und erkennt augenblicklich, wie sie ihnen Stil und Charakter zur Funktionalität geben kann. A. stattet nackte Räume nicht nur aus, die Leere bekommt ihren Platz und schafft Weite in enger Behausung.
A. stammt aus Krakow und aus Zufall, wofür ich unsre gemeinsame Leidenschaft, den Tango, liebe, haben sich unsre Wege im Wiener Palais Palffy gekreuzt, wo wir unsre Körperachsen zu finden lernten, um im Tanz raumgreifend stabil zu bleiben, uns durch keine Führung verbiegen zu lassen.
A.s Strickkleid ist grau. A. liebt aber nicht das Grau der Küchenfliesen. Wochenlang gestaltet sie schon ihre Wohnung, praktisch um kein Geld hat sie mit Beize, Glanzlack, Versatzstücken aus der Krimskramsabteilung Ikeas, ein zu Hause geschaffen, das vor Behagen strotzt. Während sie die im Garten im Schnee hüpfenden und die Bäuche durch den Schnee schleifenden Krähen beobachtet, scheint A. gerührt. Sie liebt die Krähen. Die Vögel sind struppig. Mir sind Krähen nicht geheuer, außer sie sind Dohlen, das heißt auf tschechisch: Kafka. Die Krähen spielen mit einer Nuss. Eine der Krähen hält sie im Schnabel fest gezwickt. Hebt den Kopf, senkt ihn und taucht den Schädel in den Schnee, läßt die Nuss los, zieht den leeren Schnabel hervor,. Das Geflatter wirbelt übers Weiß. A.s Lächeln ist ansteckend. Auch ich denke plötzlich, die Krähen haben Witz. Das Rudel zerpeckt die Scheedecke auf der Suche nach der Nuss. Das Gedränge und Gepluster bis die Nuss endlich gefunden ist, dann beginnt das Spiel wieder von vorn.
Karten für den Nachtzug Wien-Krakow-Wien sind bereits gekauft und liegen auf dem Esstisch. Das Zimmer wird durch das Gestänge eines Paravents gegliedert, nicht bloß unterteilt in Küche und Essraum, sondern logisch in Raum für Zubereitung und Genuss geordnet. Der silberne Löffel liegt bereit und Schokoladeflocken beträufeln die Schaumkrone des Kaffees, dadurch wirkt er geweiht und vollendet.
In Krakow erwartet uns Sightseeing. Auschwitz werde ich nicht besuchen. Ich will mir nicht die Stimmung verderben und Polen unter dem Aspekt Auschwitz sehen. Ich werde die Landschaft um Krakow betrachten und was sie mir erzählt berichten. In “Shoah” wird das Gesicht der Landschaft um die Vernichtungslager Auschwitz, AuschwitzII-Birkenau gefilmt. Dazu kommt der Ton der Erinnerung. Die Kamera sichtet Zeugen, Täter, Opfer, Mitläufer, Einwohner, Bauern aus der Gegend. Von damals bis zum Jahre 1985. Heute. Immer. Was möglich war, ist ab seinem Geschehen möglich. Vernichtung. Die Unfassbarkeit von Unvorstellbarkeit blitzt während der ruhig geführten Interviews im Betrachter und Zuhörer auf. Claude Lanzmann bohrt in bis zu traumatisierender oder den Schrei lösender Gewalt in der verdrängten Erinnerung und im Denken der Interviewpartner, läßt die Bodenlosigkeit von Gewalt spüren, die die Perversion allen Vertrauens in Menschheit ad absurdum geführt hat. Was bedeutet es, wenn man im Raum zur Gaskammer den zu Vergasenden die Haare schneidet, weil das Haar als Ressource gesehen wird, auszubeutende Biomasse. Das Grauen bricht aus und es bricht ab. Die Fassungslosigkeit im Gesicht des Friseurs in Jerusalem, die Verzweiflung über die Verzweiflung der Ohnmacht. Völkermorde sind schlimmer als Kriege. Verhetzung und Dehumanisierung sind tödlicher als Waffenhandel.
Und schon verwirft sich der Plan. B. kommt vorbei. Wir haben uns Jahre nicht gesehen. Jetzt kann ich mir ihre Arbeit wieder leisten. Ich erzähle von meiner Polenreise. Und B. erweitert meine Unternehmungen: Auch sie wird zu Ostern in Polen sein, Familienbesuch. Am Ostermontag wird eine Reise durch Geisterstädte geplant. Welcher Genius Loci wohnt inne, wie fühlt er sich an? Wadowice. Zator. Oswiecim. Katowice. Also doch Auschwitz auch. Am frühen Morgen wird die Reise auf der Reise gestartet. B. wird mich mit dem Auto abholen.
Übers Jahr lebt B. in Wien. Zu Ostern schwärme ich in den Osten. Agathe besucht die Familie in Zalo. Im Krankenhaus zu Wadowice kam sie zur Welt. Die Geburtsstadt von Johannes Paul II. 38 km von Oswiecim entfernt wuchs sie auf. Die Kinderfantasie dass die Vernichtung der Juden auf Knopfdruck jederzeit wieder anlaufen könne, gehörte zum Schrecken der Kindheit. Die Fabrik steht, die Gaskammer ist rekonstruiert. In letzter Konsequenz geht der Schrecken durch Mark und Bein, weil es auch das Kind erwischen könnte. Mit 10 Jahren war sie das erste Mal dort. Agathe spricht ohne Umschweife von Auschwitz. Sie antwortet schnell und die Schuld Zuweisung an die Deutschen war dem Kind zu durchschauen erst möglich, als ihr die Möglichkeit zum Mord in der Gemeinschaft aus perverser Rachlust in Neid und Zorn aufflammt. Sündenbock. Affekt. Aber eiskalte Planung, vorstellbar?
Nowy Sacz wird am Dienstag bereist werden. Dort wurde die Mutter meiner langjährigsten Putzfrau geboren. Sie hatte zwei Töchter. Eine ist in Polen geblieben und verbringt ihr Leben in Sicherheit eines städtischen Büroalltags. Die andere Tochter zog es nach Wien, aus Liebe zu einem Mann. Die Verbindung zerschlug sich. Eine Rückkehr wäre dem Eingeständnis des Scheiterns gleich gekommen. Also blieb C. in Wien, und wollte es schaffen. Heute betreut sie Hochbetagte. Fehlende Arbeits und Aufenthaltsgenehmigung verdammten sie zur Illegalität und Schwarzarbeit. Sie bekam ein Kind, konnte dessen Vater nicht heiraten. Zu arm. Sie bezahlte 20.000 Schilling für eine österreichische Hochzeit. Das Fest liegt in der Legitimation für die Anwesenheit in Österreich und für das Kind als österreichischer Staatsbürger. Kindergarten, Schule, Gymnasium. Die Scheidung vom Alkohol kranken Österreicher erfolgte bald. Traurigkeit über die vertanen Chancen in seinem Leben beeindruckten C. und den Richter. Der neue Mann ist auch der Vater des Kindes. Moslem. Seine Ausbildung als Verkäufer im Süden Montenegros hat ihm in Wien nichts genützt. Jahre der Schwarzarbeit. Möbel schleppen. Schwarzarbeit am Bau. Mit 45 erkrankt er an Magenkrebs. Gesundheit ist seitdem höchstes Gut. Mit dem Taxi vom Diagnostiker ins Krankenhaus. Eine teure Fahrt. Als hätte diese Investition in Geschwindigkeit den Erfolg begründet, überlebt er nach den genaueren Untersuchungen seine Krenkheit. Die Operation wurde in Belgrad durchgeführt. Dort wird auch geheiratet.
Die serbische Hochzeit verlief nüchtern, Standesamt. C. grinst. Ein lächerlicher Beamter, in saloppen Pulli und schlampigen Hosen traute das Paar, als handelte es sich um einen Nebenbei-Akt, nicht um erkämpfte Liebe, wie ich gern romantisieren möchte, weil mir Durchhaltevermögen so wertvoll vorkommt. Feierlich war nur die Nationale Note, die dem Beamten die serbische Schleife verlieh. Das Brautpaar war herausgeputzt und wartete auf den Kick des Ehegefühls. Natürlich blieb die Sensation aus. Kirchliche Hochzeit wird nicht durchgezogen. Er ist Moslem, sie ist Christin. Das Kind wird in Polen getauft. Es lebt mit beiden Elternteilen in Wien. Religion heißt Rituale feiern. Weihnachten also. Ostern. Das Ende vom Ramadan. Dann kommen die moslemischen Verwandten. Sonst nie. Wien ist das zu Hause. Und weil Wien die Heimat der Tochter dieses Paares ist, nahmen die Eltern die österreichische Staatsbürgerschaft an und legten die herkünftige zurück.
Ex-yugoslawischer Migrationshintergrund ohne erlebte Kriegserfahrung, ein Glück. Man traf sich in der Armut, Illegalität. Ein Myzel aus privaten, ziwschenmenschlichen Hilfestellungen von dort und da, kleinen Tricks das Überleben zu meistern und Fuss zu fassen in einem Ausländer nicht gerade willkommen heißenden Land, gelang schließlich. Eine Erfolgsstory. Was die Putzfrau für die Gesellschaft leistet ist unbedankt. Sie erzieht ein Kind, pflegt Greise und integrierte einen schlecht ausgebildeten Mann, europäisiert Wien durch Geduld und Leistungsbereitschaft, Einfühlungsvermögen. Sie ist das ultimative Gegenteil zu Werten vernichtenden Dealern der Banken und Politik.
Kaum vorzustellen, dass in den siebziger Jahren die ersten Gastarbeiter mit Blasmusik am Südbahnhof empfangen wurden. Oder wann war das? Wer in seiner sprachlichen Ausdrucksfähigkeit gehemmt wird, wie es den Gastarbeitern geschah, durch den Mangel an Kommunikationsmöglichkeiten mit der Familie im Herkunftsland, kann auch eine neue Sprache nicht erwerben. Das Gehirn baut Strukturen durch die Praxis auf. Sprache entsteht durch sprechen.
C. legte für die Österreicherisierung 2008 die Prüfung ab. Monatelanges Lernen, Grammatik, Vokabel, Geografie, Geschichte. Das war nicht schlecht, sagt C. Sie lernt gern. Eine Phrase, die zu ihrer Kennmelodie geworden ist. Das guturale CH und das Deutsch mit dem Akzent und den klugen Konstruktionen um komplizierte Grammatik zu umgehen. Eva liebt Breslau, ihre Heimatstatt. Ob ich ich auch dorthin komme? Sicher fahre ich nach Nowi Sacz, wo ihre Mutter herstammt. Eine duldsame Frau. Dauern diese Duldsamkeit. Verstorben vor einigen Jahren im polnischen Krankenhaus während des Osterurlaubs der Tochter. Die Gesundheitsversorgung sei eine Katastrophe gewesen.
D. wuchs auch in Nowy Sacz auf. Ob schon das Kind psychisch krank war? Die affektive Störung wurde in Wien diagnostiziert. Auch ihre Mutter Putzfrau aus Polen. Typische Geschichte. Verschwiegenheitspflicht. Was kann Verschweigen hervorbringen?
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