Peter Rosei: Reisen, ein Argwohn 3 | Wien, Februar 2010: Kollektive Prägungen

| mitSprache unterwegs |

Wien, Februar 2010

Kann denn überhaupt eine Begegnung zwischen autochthonen Subjekten und Reisenden jenseits der Rituale und sozialen, historisch gewachsenen Verhaltenscodizes stattfinden ? – die Frage bleibt rhetorisch und wenn, dann nur in trauriger Weise beantwortbar: dieses Korsett zu sprengen, kommt einer akrobatischen Übung gleich.

Aufgewachsen in einer Welt, wo in den Kirchen “Negerfiguren” (ich gebrauche das Wort mit Absicht) standen, die mit den Köpfen nickten, wenn man einen Schilling “für die armen Negerkinder“ eingeworfen hat. Das war der allgegenwärtige Mohr der “Mission”.

Selbstredend konnte man sich per Intellekt von solchen Prägungen emanzipieren. Zum Glück. Aber dass man dieses “Vorwissen” der Klischees und kulturellen Vorurteilen völlig auszublenden könnte, redet man sich im Grunde nur ein.

Es gibt ja auch das zynische Argument, man solle die Schmeicheleien von bettelnder Kindern, von “Massage-Mädchen” oder sogar Prostituierten annehmen, damit sie wenigstens ein bisschen Geld verdienen. In Russland traf ich eine bürgerliche Frau, die – Diplomatin – mir ganz offen sagte: “Geht’s doch zu den Huren, die brauchen das Geld”. Als ich widersprach und wütend die Verhältnisse anprangerte, gab sie mir schlicht zurück: “Nein, Sie verstehen das ganz falsch. gehen Sie hin, liefern Sie einfach Ihr Geld ab, dann ist es zumindest zu etwas nütze.”

Wenn man nicht gerade Arzt ist, bewegt man sich in Indien ja schon durch die blosse Tatsache, dass man Weisser ist, in der Sphäre der “Upper Class” – gar nicht zu reden vom zusätzlichen System des indischen Kastenwesens. So hat es mich doch sehr berührt, dass ein indischer Universitätsprofessor so stolz war, einen Europäer zu kennen, dass er mir seine gesamte Grossfamilie vorgestellt hat: seine sieben Brüder, einige Schwestern und wiederum deren Kinder. Diese Elterngeneration hat mich derart an meine eigenen Grosseltern erinnert, dass ich annahm, sie seien sämtlich wesentlich älter als ich selbst und war entsprechend schockiert, als sich herausstellte, dass sie durchwegs um die 20 Jahre jünger waren. Sie waren unter den herrschenden schlechten Lebensbedingungen viel rascher gealtert, als dies bei uns üblicherweise der Fall ist. Auch in diesem Moment musste ich feststellen, wie völlig “daneben” ich mit meinen kulturellen Annahmen und Unterstellungen lag.

Auch was den sozialen Aufstieg anbelangt, ist es im Grunde beim alten System geblieben: Wie bei uns früher das aufstrebende Bürgertum die Aristokratie und die Aristokratie den Hof nachgeahmt hat, so ahmen die Inder, die etwas auf sich halten, den westlichen Lebensstil nach, egal, wie laut sie sonst auf die Engländer schimpfen. Aber gleichzeitig kopieren sie deren Habitus, wo immer dies möglich ist.

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