Lydia Mischkulnig: Katowice, 7. 4. 2010 | Polnische Passage I (31. März bis 7. April 2010)

| mitSprache unterwegs |

Ich verbrachte vom 31. März bis 7. April 2010 mein Leben in Polen. Zu jener Zeit war das Land nicht im Schatten der Staatstrauer gewesen, sondern im Schein österlicher Feierlichkeit. Ich beginne mit dem Tag meiner Abreise, die Notizen festzuhalten. Beschließe die Chronologie umzukehren und Tag für Tag gegen den Fluss der Zeit niederzuschreiben. Memento mori.

Katowice, 7.4. 2010

Katowice ist die letzte Etappe meiner Joesph-Roth-Polen-Reise. Die Stadt besitzt einen Gefängnischarakter, wie jede Örtlichkeit, von der man augenblicklich wieder weg will, aber nicht kann. In Kilmainham Jail herrschte Disziplinierung durch das Panoptikum. Der Blick des überwachenden Auges  eines Big Brothers sticht bis in den Zellkern der Erde von Katowice. Wikipedia meldet, dass Katowice eine der aufstrebendsten Städte Polens sei, es ziehe viele Investoren an und trage viel zur Kultur und zum universitären Aufbruch der polnischen Intelligenz und Kultur bei. Nur der Universitätsbus zeugt von der Schätzung des intellektuellen Nachwuchses. Die Stadt ansonsten wirkt extrem desolat. Der blaue Bus ist ausschließlich für Lehr- und Studierpersonal verfügbar und verkehrt zwischen Katowice und Krakow. Ansonsten zählt in dieser Stadt  nur der Bodenschatz KOHLE. Die Gruben unterhöhlen das ganze Gebiet. Katowice ist trostlos, vielleicht braucht man hier den direkten Bus um ins aufgeputzte Krakow zu entkommen, um Luft und Flaniermöglichkeiten auszukosten, damit man den Geist für Katowice nicht verliert.  Unter Tag existiert ein mehrschichtiges Labyrinth aus Gängen und Räumen, deren Leere sich in den zahlreich verfallenden, verwaisten mehrstöckigen Wohnhäusern spiegelt. Die Ausbeutung des Bodenschatzes durch das sozialistische System mit dem Raubbau an der Gesundheit der Bevölkerung läßt die Stadt als den zur Normalität erklärten Zustand eines urbanen Arbeitslagers nachempfinden.

(Wenn ich mir gerade vorstelle, wie unterhöhlt Manhattan sein muss, wird mir ganz flau. Denn auch Wien ist unterhöhlt. Der Blick in die Grube des gekillten World Trade Centres ergab ein nüchtern anmutendes Staunen über die dünne Kruste, auf der die idealisierte Wolkenkratzerstadt meiner Jugend einst fußte. Die Grube war groß und tief, und trotzdem verglich ich es verharmlosend mit dem Aushub für ein Manhattan-Schwimmbecken.)

Mehrere Stunden auf dem Bahnhof von Katowice, heißt Tristesse des abgehalfterten Eisenbaus mit den bröckelnden Betonfundamenten und armseligen Verkaufskojen  zu untersuchen, also sich zu fragen, was macht diese Umgebung  mit mir und wie kann man die Affizierung produktiv nützen? Hier möchte ich nicht einmal aufgemalt sein. Die Zunge ist nach einem 20-minütigen Spaziergang durch die Stadt pelzig, als hätte ich Kohlestaub gefressen. Rundum hetzten erschöpft wirkende Menschen, schlecht gekleidet, schlecht frisiert, zu den nicht angekündigten Zügen, in der Hoffnung, den Bahnsteig zum richtigen Zeitpunkt  zu erwischen. Zwei Japanerinnen, die Richtung Prag wollen, schauen ebenso ratlos auf die Anzeigetafel nach der Ankündigung des Zuges suchend. Ein Blinder tastet mit dem Stock den Weg ab, der über Spuren indifferenter Nässe  zu den Treppen hinauf zu den Bahnsteigen führt. Die Bagel verkaufende Dame hinter ihrem die Stadtbilder Polens füllenden Bauchladen auf Rädern, ist unfähig das Chaos auf der Tafel zu interpretieren, da ungeklärt bleibt, ob nun der Zug Warschau Wien oder Wien Warschau angeschrieben steht, mehrere Gleise werden angezeigt und alle Termine zur gleichen Zeit.

Der kurze Weg durch Kattowice führte vom Busbahnhof zum Zug-Bahnhof über holprige Bürgersteige an verfallenden Häuserfassaden vorbei. Die Straßenbahn erinnert an eine rot eiserne bereits ausgediente Seilbahn, wie die Seilbahn in den Dolomiten, die als Skipisten-Bar dient und wo es Glühwein gibt. Der Duft von Glühwein erreicht auch in Katowice die Nase und zwar im Restaurant. Die ruinösen Industrieleichen draußen verstinken und verrosten die Stadt, darin könnte ich bei Schönwetter und trockener Kleidung noch eine Ästhetik der zu verschrottenden Ausbeutungsstätte sehen, doch der  Kohlenstaub in der Luft, lässt  nach dem etwa 20-minütigen Spaziergang lediglich das Ungesunde und schließlich Tod bringende aufdämmern . Waschzwang befällt mich und im nächsten Restaurant, wo die letzte Barscht (rote Rübensuppe) und Glühwein meiner Polenreise genossen wird. Hier schmeckt die Barscht am stärksten nach Knoblauch und Nelke. Ich wasche mir zuvor exzessiv die Hände mit heißem Wasser.

Katowice bietet auf den ersten Blick keinen Chique, und so wie es von Limerick in Irland geheißen hat, die Stadt entwickle auf den zweiten Blick erst ihren Charme, kann man vermutlich von  Kattowice nicht Selbiges behaupten, um nicht sofort eines wishfull thinkings überführt zu sein. Hier sehen alle Frauen aus, wie unterbezahlte Putzfrauen, die in Wien allzu billig zu haben sind. Sechs Sloti verdient man hier pro Stunde, als Ukrainer auch in Krakow. Das heißt 1,50 Euro pro Stunde. Die Männer sehen aus wie graue Waschlappen ihrer Frauen, abgenutzt, ausgewrungen und wieder und wieder verwendet, noch immer nicht weggeworfen, bis zum letzten aufschrubbaren Faden im Einsatz, aber nicht fertig gemacht von den Frauen sondern den Systemen. Arbeitslosigkeit ist unter Männern besonders hoch.

Katowice ist schlesisch. Eine Polin erklärt, das Schlesier sich per Plebiszit weder zu den deutschen noch zu den Polen zählen, sondern als autochthone Minderheit gelten und daher von hier nicht nach dem zweiten Weltkrieg vertrieben wurden. Etwa 8000 Juden wurden nach Hitlers Annexion deportiert und ermordet. Schlesier sind eine Minderheit wie die Slowenen in Kärnten, meint meine Freundin. Die Schlesier kochen gut und schwer. Die Slowenen in Kärnten nicht. Saubohnen und Zwetschgenröster, ein Gericht des Verlegers Lojze Wieser, zeugen von Nahrhaftigkeit. Bis auf Sasaka, einem Speck-Aufstrich, ist nichts fett. Katowice’sche Schlesierinnen sind angeblich notorische Sauberkeitsfanatiker, die die Sisyphos-Arbeit des Saubermachens gegen die verdreckte Luft und die zerstörte Natur und die zerfressene Stadt betreiben. Man putzt hier also pausenlos und züchtet gerne im Schrebergarten Rassetauben. Was zeichnet ihr Geblüt aus? Ersetzen sie Postboten? Sind zum Fressen geeignet?  Der Blick aus dem Zugfenster läßt einen Taubenschlag erhaschen, wo die feisten Braten gurren.

Die wenigen Meter die mich über die kurze Fußgängerzone leiteten, bewirkten ein mir sehr positiv anmutendes Urteil: Katowice ist  belebt. Die Riesenkraken der Grubengerüste und Kräne sind das Gerüst der Verarschung.  In Katowice werden Häuser renoviert, Tropfen auf den heißen Stein, in meinen Augen. Aus Katowice läßt sich kein Krakow machen, welches ein Unesco Welterbe darstellt. Die Unterhöhlung der Stadt stellt in manchen Gebieten Einsturzgefahr dar, da die Erde zu wurmstichig geworden, nur mehr dünne, schrumplige und rissige Haut ist, über die, die Fahrzeuge rollen und den Boden zum Schwingen bringen, sich daher nur im Schritttempo über die Oberfläche fortbewegen dürfen, um keine Erschütterung zu bewirken, die wiederum die Haut einreißen ließe und den Einsturz der Straße und Gebäude verursachte. Reißt der Boden von Katowice, löste dieser Bruch eine  Kettenreaktionen aus und weitere Bauten sänken ein, bis Katowice verschwunden, vom Erdboden verschluckt wäre.

Selbstredend, dass dann die Hohlräume als Endlagerung der einstigen Stadt dienten. Eine Mülldeponie. Wachstum durch Krieg, ersetzt durch friedliche Zerstörung für neuen Aufbau. Jetzt mal eine Utopie: Selbstredend, dass die Bewohner rechtzeitig evakuiert werden müßten, bevor Katowice versinkt. Auf den Trümmern könnte ein neues Katowice errichtet werden, mit Jugendlichenbeschäftigung, die die derzeitige polnische Gesellschaft mit Hoffnung aufladen könnte.  Zumindest könnte das untergegangene Katowice die größte Baustelle Polens werden und internationale Immobilienhaie anlocken. Doch dazu braucht Katowice eine Hoffnung und die Idee, dass es ohne Haie mal klappen könnte, um aufzuatmen.

Das Essen im Restaurant war vorzüglich. Wir bezahlten und beim Verlassen des Restaurants wurde mir bewußt, dass ich nur in Katowice Schwarze gesehen hatte. Die einzigen ersichtlich außereuropäischen Ursprungs entstammenden Menschen während  meines einwöchigen Aufenthaltes. Katowice gewann den Europapreis 2008 für Integration, nicht für außereuropäische Mitmenschen, sondern europäische Wirtschaftsbeziehungen. Es ist an der Zeit den Europapreis der Integration außereuropäischer Einwanderer einzuführen.

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