Lydia Mischkulnig: Oswięcim, 4. 4. 2010 | Polnische Passage III

| mitSprache unterwegs |

Oswięcim, 4. April 2010

Meine Freunde verweigern schon in Krakow die Begleitung. Viel zu früh steh ich allein beim Schalter. Spreche das erste Mal im Leben Auschwitz als Oswięcim aus. Mein Schibboleth. Die Dame am Schalter wird gleich aufhorchen und meine Herkunft erahnen. Doch sie guckt nicht einmal auf, achtet nicht auf meine Aussprache. Sie fragt auf polnisch weiter. Ich meine nun auf Englisch, dass ich nur die Hinfahrt nach Auschwitz will. Da ich nicht weiß, wie lange der Besuch in der Stadt am ehemals deutschen KZ dauern wird.

Die Reise mit dem Bummelzug dauert bis zu Mittag. Ich sitze auf knallrotem Plastik und bin allein im Waggon. Draußen ziehen die weißen Stämme der Birkenhaine vorbei. Die Äste sind unbelaubt, die Kronen zerzaust und gestrichelt. Krokusse sprenkeln die noch matten Wiesen, bald gibt es mehr Blüte und Grün. Der Zug rattert durch Vorstadt und Kleinstadt und Dorf. Im Reiseführer wird der Name der zur traurigen Berühmtheit gewordenen Stadt als zentrale Metapher für das Selbstverständnis der deutschen Nachkriegsgeneration beschrieben. Die österreichischen Nachkriegsgenerationen tun sich schwer, die Faktizität des organisierten Massenmordes an jüdischen und anderen Menschen als Abgrund ihrer kulturellen Identität zu begreifen. Die Präsidentschaftskandidatin der freiheitlichen Partei Österreichs kokettiert mit der Auschwitzlüge und betrieb somit eine Verharmlosung der Geschichte, wie ein einst in Villach tätiger Chemieprofessor, der angeblich Witze in Bezug auf Zyklon B im Unterricht mancher Klassen zu machen gewagt hatte. Er war noch im 21. Jahrhundert FPÖ Bezirksobmann Villachs.

Die Empörung darüber, dass ein Völkermord geschehen kann, interessiert mich nicht mehr. Das 20. Jahrhundert hat bewiesen, dass Völkermorde Gang und Gäbe sind. Doch die Frage, wie ein Völkermord und Gesellschaftsmord anzettelbar sind, interessiert mich, denn durch die Analyse lernen wir, welche Indizien heute erkennbar sind. Verhetzung von Menschen und Entmenschlichung der Individuen einer Gemeinschaft sind der Beginn. Ignoranz von historischen Fakten, wider besseres Wissen, ist der Beginn vom Beginn der Vernichtung.

Ich fahre nach Auschwitz um die Stadt zu explorieren, wo einige meiner InterviwepartnerInnen aufgewachsen sind. Und einige meiner bevorzugten Autoren an den Grenzen des Geistes das Sterben in Massen, Selektion und Vernichtung überlebt haben. Während der Fahrt hadere ich mit mir, ob ich wirklich nur die Stadt besuchen will, die am Schreckensort liegt, um “am Heute” dran zu bleiben. Bin ich zu feige zum Lager hinzugehen, bin ich zu feige von ihm fern zu bleiben?

Fahre durch Zafor. Fahre durch Chelmno. Die Schilder der Bahnhöfe. Claude Lanzmanns Film “Shoah” bildet derartige Schilder ab. Er dringt mit der Kamera nicht in die Intimität des Lagers von Auschwitz ein. Er berichtet von der Landschaft ringsum und den Menschen, die dort lebten, und Zeugen sind von der gottlosen Zeit, wo die Massendeportation zur Vernichtung stattfand. Als Claude Lanzmann seinen Film drehte, waren meine Interviewpartnerinnen schon auf der Welt und tobten hier irgendwo draußen auf der polnischen Erde herum. Wuchsen heran. Der polnische Antisemitismus durch die Kirche nicht verhindert tobte 1946.

Erkenne, dass Oswięcim eher als Stadtname zu begreifen ist und das deutsche Wort Auschwitz “Konzentrationslager” bedeutet. Kann es normal sein, hier in Oswięcim normal zu leben? An dieser Geisterstadt. Wie lebt es sich mit den Trauermärschen der alljährlichen Besucher, die zum Vernichtungslager pilgern um zu trauern oder den Voyeurismus zu befriedigen. Welche anderen Beweggründe gibt es noch? Verpflichtung? Verantwortung? Als lebte ich im Haus des Henkers, so komm ich mir als Österreicherin vor, brech’ ich aus, brech’ ich ein? Wo geschieht denn heute das Verbrechen gegen die Menschheit? Tschtetschenien ist nicht weit. Jugoslawien noch nicht lange her.

Ich schlage den Reiseführer zu, und als wäre er ein Mund, wird es plötzlich stumm in mir. Schlußstrich. Ende. Denn von hier geht es los, ich will wissen, was wo passiert ist, ich hab ein Recht drauf. Deshalb ist zu erinnern, was zu wissen ist, und nicht zu verwässern. Kulturelle Identität als Mitteleuropäerin und Weltbürgerin bedeutet aus Unsäglichem Haltung bilden. Das Gespür fürs Unbegreifbare fassen im Misstrauen.

Schönes Wetter und die Gedenkstätte, die als zentrales Ereignis des 20. Jahrhunderts zur Identitätsstiftung vieler Weltbürger besucht wird, schien bewältigbar und erwanderbar. Der Bahnhof war leer. Nur 2 Italiener standen am Schalter und informierten sich über die Rückreise nach Krakow.

Auf dem Platz vor dem Bahnhof ein Taxistand. Eine Schautafel mit der Wegbeschreibung zu <Auschwitz I und Auschwitz-Birkenau. Birkenau, die Gaskammern. Vor der Schautafel zwei Australier, ein Paar aus Japan, die Italiener und ich. Weit ist es nicht zur Gedenkstätte, zum Museum, wie es hier heißt. Ich verwerfe den Plan nur die Stadt zu besichtigen und die KZs links liegen zu lassen. Ich stiefle los. Mit den Italienern im Gespräch. Mit Fremden so schnell so tief zur Gretchenfrage unserer Existenzen zu kommen, geschieht auf Wegen zu Gedenkstätten, die unsere Schicksale ausmachen, ob so oder so. Die Japaner waren natürlich nicht jüdisch. Und als Kinder der ehemaligen Achsenmacht bereisen sie Auschwitz nicht aus einer näheren Beschäftigung mit Antisemitismus, den begreift man in Japan gar nicht, und Japan hat keine Juden umgebracht. Sie bereisen Auschwitz, weil sie eine ausgedehnte Europatour machen und Auschwitz gehört zu Europa einfach dazu.

Gröbere Selbstzweifel, Mulmigkeit befallen mich, weil das Unvermögen über jedes kriminelle Detail Bescheid zu wissen, eindeutig abweicht vom jüdischen Italiener, der alles weiß, was nicht hätte geschehen dürfen. Geht’s darum? Wozu bin ich hier? Ich habe hier nichts verloren. Schnüfflerin? Wo verläuft die Grenze zwischen Voyeurismus, Neugier und Auseinandersetzung? Der Italiener hat weitschichtig jüdische Verwandte gehabt, die hier umgebracht worden sind. Ich bin auf Reise und schreib nieder, was ich erlebe hier.

Die Vitrinen mit den Überresten der Opfer als pars pro toto für ihre Existenz zu besichtigen, ersparte mir der polnische Katholizismus. Auschwitz I war am Ostersonntag geschlossen. Der Ort der zur Grausamkeit des industrialisierten Massenmordes befähigten Menschen der hauptsächlich deutschsprachigen Kulturvölker Europas, die dem Nazitum zuarbeiteten, war geschlossen. Stein, Ziegel, Draht und Schienen sind besichtigbar, liegen immer offen.

Wir laufen die Front entlang, lesen die Schautafeln und in den Reiseführern nach, was wir am Ostersonntag nicht besichtigen können. Schlechtwetter wird angesagt. Bei Regen träte die Tristesse der Lagerüberreste stärker zu Tage. Das Schönwetter ist ein Bruch zur geschichtlichen Belastetheit. Die Sonne scheint auf den Pelz. Meine Schultern sind heiß unter der Strickjacke. Ich ziehe die Jacke aus und lege sie wie einen Schal um den Hals. Wir treten schon den Rückweg zum Taxistand an, um nach Birkenau zu fahren. Der Blick fällt auf die Neubauten von Auschwitz, Pastellfarben. Die Fenster sind nach Westen, auf die Oberfläche der Dächer der Baracken gerichtet. Wie kann man hier leben? Dumme Frage. Man lebt. Das habe ich oft genug gehört. Und es ist so. Der Taxifahrer fährt Auschwitzbesucher herum. Natürlich. Wieso nicht. Wie kann ich weiterleben, wenn ich hier gewesen war? Wieso nicht den Besuch aus meinem Bewußtsein brennen, schneiden, ritzen? Ich halte das Wissen aus und beschäftige mich mit dem unmenschlichen Makel, ohne psychische Ausfälligkeit zu zeigen.

Der Italiener ebenso. Er war auch in Ebensee und Mauthausen. Ich besuchte Breendonk, doch davon erzähle ich nicht, da ich darüber schrieb und der Chemieprofessor in Villach einen Prozess gegen das meinen Essay veröffentlichende Medium angezettelt hatte, um hinterrücks Zensur auszuüben, weil er Witze in Bezug auf Zyklon B gemacht hatte, wie ehemalige Schüler aussagten. Er hatte nach 4 Verhandlungen die Klage zurückgezogen und alle Rechnungen beglichen. Es ist mir zu kompliziert meine Erfahrung mit meiner Geschichte in der Geschichte anzufangen. Wieso ist die Frage? Ich muss weiter.

Mein Besuch im Konzentrationslager von Breendonk ließ das feuchte Gemäuer des Bunkers spüren und im Dubliner Kilmainham Gefängnis bewirkte der Limestone die ähnliche Feucht-Kalte Behauchung meiner Haut. Laryngitis und Entzündungen und Tuberkulose und Typhus. Tödliche Erkrankungen. “Es wurde in Massen gestorben”, wird mir kurzfristig in seiner Bedeutung bewußt, weil mir die Empfindlichkeit meiner Physis erschütternder Anknüpfungspunkt wird, die Bedeutung der Worte einzusehen.

Bewohner von Oswięcim begegnen uns, verstehen kein Englisch. Wieso nicht? Sind doch Millionen Besucher übers Jahr hier, die Englisch sprechen können. Wir suchen den Bahnhof, hätten wir links oder rechts abbiegen müssen? Nach wenigen Metern sehen wir schon den unscheinbaren sozialistisch plattenhaften Bau. Dagegen erscheint die Gedenkstätte Auschwitz I auf Hochglanz poliert.

Das Taxi bringt uns nach Auschwitz-Birkenau. Vernichtungslager. Die Schienen. Das Tor. Der Taxifahrer sagt mit ernster Miene: here was the selection. Go to the right meant Gaschamber. Wir steigen aus. Zücken jeder das Handy. Schießen Fotos. Die Schautafel mit den Symbolen, die Anleitung zu pietätsvollem Verhalten geben, ist ein Hieroglyphen Text dum die Ruhe der Toten zu wahren. Wir richten die Kameras ein. Objektive Blicke zwischen den Zeilen gespannten Stacheldrahtes durch. Wachturmreihe im Visier. Ein Römer grüßt uns und fotografiert die Baracken links im Hintergrund. Die Schwellen unter den Geleisen sind echt. Die Geleise sind echt. Der Taxifahrer steigt ebenfalls aus. Unterhält sich mit einem anderen Taxifahrer. Sie sind Auschwitzer. Bringen Touristen hierher. 10 Sloti. Bringen sie wieder zurück. Wir fahren um Birkenau herum. Der Römer hat sich uns angeschlossen. Schnurgerade Umzäunungen. Hin und wieder die stille Frage, wann werden die Eindrücke wirken, wie eine Krankheit ausschlagen. Ich habe natürlich Angst vor Auschwitz, als könnte ich mich mit einem Horror anstecken. Als könnt ich mir hier einen Spuk wach rufen, der mich auf psychosomatischer Ebene quält, vielleicht in Form einer Depression oder eines psychotischen Schubs. Ich will nicht einmal traurig sein.

Die Italiener wirkten überhaupt nicht traurig. Obwohl sie sich hier im Taxi befinden, plaudern sie über die Größe des KZ und die Stacheldrahtmeter. Wir fragen einander nach Herkunft, Beruf und Familienstand aus. Aber das Warum? Wieso sind wir hier, umkreisen wir mit Achsel zucken. Antisemitismus in Italien, Österreich und Polen wird nicht angesprochen. Als Österreicherin, dank der Waldheim Affäre, bin ich für einen Augenblick dankbar, dass Trotteltum zu meiner Klarheit von Geschichtsbewußtsein und Selbstverständnis beitrug, angesichts der vertrottelten Chemie- und Geschichtslehrer kein Wunder. Freilich wird mir die Scham bewußt, Trotteltum aushalten zu müssen, um Österreicher zu bleiben. Wie macht man einer gebärfreudigen Präsidentenkandidatin klar, dass ihr Mann ein rechtsradikaler Aktivist ist, dass sie den Holocaust verharmlost und dass das sehr schlecht für ihre zahlreichen Kinder und die ganze Gesellschaft der Nachkommen ist.

Das Schönwetter hält an. Die Strickjacke ist zu dick, lege sie um die Hüften. Wir bewegen uns wieder um einen Wachturm herum und schauen Mauerstümpfe an, fahren zum Bahnhof. Die Italiener beschließen, gleich wieder zurück nach Krakow zu fahren. Ich bleibe im Taxi und fahre allein weiter in die an der Hauptstraße sich entlang ziehende Stadt Oswięcim, weg vom Lager. Ich suche ein Cafe. Alles geschlossen. Die Stadt ist hübsch. Eine Synagoge fungiert als Museum für die ehemalige jüdische Bevölkerung von Auschwitz, die bürgerlich lebten. Fotos dokumentieren die stattlich gekleideten und würdevoll posierenden Personen, als Kontrast zu den entsetzenden Dokumenten im Museum von Auschwitz I, Zebranzug, Hohlwangigkeit, Ausgezehrtheit, angstvoller Blick, Leere zum Tode Gestempelter.

Der kurze Weg über den Marktplatz. Langweilige Sonntagsstimmung. Kein Mensch auf der Straße. Alle Kaffees geschlossen. Ein Autofahrer zeigt mir den Weg zum nächsten Taxistand. Ich fahre zum Bahnhof und vorbei am leerstehenden Hotel Globe, einem Bau aus den 70iger Jahren. Vor Schmutz blinde Fenster. Es scheint einmal bessere Zeiten gesehen zu haben. Die Italiener sind schon fort. Eine Dame aus Argentinien mit einer professionell großen und schweren Videokamera filmt meinen Eintritt in die Halle, schwenkt ab. Ich kaufe meine Rückfahrkarte. Da ich Zeit habe suche ich einen Kiosk. Tatsächlich hat ein kleines Geschäft am Ostersonntag offen. Kaufe Kekse und Wasser. Gehe über die Gleise zum Bahnsteig 3. Steige ein und bemerke, dass ich wieder gefilmt werde. Mit einem Bummelzug wieder zurück nach Krakow. Die Filmerin nimmt mich auch ins Visier, als ich in Krakow den Bahnsteig betrete. Ich winke ihr zu. Sie filmt und vielleicht filmt sie nur meine bunten Schuhe. Ich gehe aus dem Bild ins OFF des Gebäudeschattens.

Abends Besprechung mit meiner Freundin. Sie meint, der Besuch habe mich nicht so tief bewegt, wie ich befürchtet hatte, weil ich nicht im Inneren war, nicht die Haare sah, aus denen Kleiderstoffe gewoben hätten werden sollen, nicht die Berge Brillen und Kinderschuhe und so weiter. In diesem Augenblick berührte ich tastend meine Schulter. Meine Strickjacke war weg. Na, bitte, sagte meine Freundin, nun wird sich jemand über deine Jacke freuen. Spürte ich eine Überflutung von Trauer? Über verschüttete Milch, wie man sagt, um heutige Verantwortung einzumahnen.

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