Sigmund Freud: Die Traumdeutung. In: Literatur um 1900. Zentrale Texte neu gelesen, hg, v. Cornelia Niedermeier u. Karl Wagner. Köln: Böhlau 2001, S. 71-78
Mit der im November 1899 erschienenen, auf das Jahr 1900 vordatierten Traumdeutung gibt Sigmund Freud (1856-1939) dem neuen Jahrhundert ein neues Menschenbild mit auf den Weg.
Von Christiane Zintzen
Ein Buch, ein Buch, ein Jahrhundertbuch: Was wäre ein Buch anderes als eine zwischen die physischen Kartonrechtecke eingebundene Sinn- Schatulle: Eine Passage auf des Autors Weg, dem Leser temporäre Route, Heimat auf Widerruf. Eine Geschichte, die bestenfalls Geschichte macht. Und doch gibt es Bücher, die täuschen: Nur zum Schein sind sie technisch reproduzierte, handhabbare physische Objekte. Nur zum Schein ist ihr Umfang klar bemessen: Hier öffnet sich der Deckel wie eine Falltür, stürzt der Leser am Frontispiz vorbei hinab in eine andere Welt – aus der er als ein anderer zurückkehren wird. Vor das Gelesenhaben führt kein Weg mehr wieder zurück.
“Die Psychoanalyse ist sozusagen mit dem 20. Jahrhundert geboren; die Veröffentlichung, mit welcher sie als etwas Neues vor die Welt tritt, meine Traumdeutung, trägt die Jahreszahl 1900.” Knapp und lakonisch kommentiert Sigmund Freud rückblickend den Rang eines Buches, das zu den einflussreichsten des Jahrhunderts zählt: Wie kaum ein anderer Text hat die Traumdeutung und die in ihrem Sog entwickelte Psychoanalyse das Selbstbild des modernen Menschen beeinflusst und dazu beigetragen, “den viel durchwühlten Boden kennen zu lernen, auf dem unsere Tugenden sich stolz erheben”.
Mit der Lehre von den widerstreitenden, offen und versteckt wirkenden Trieben und Gefühlen schneidert der Arzt und Psychologe Sigmund Freud dem modernen Individuum ein neues Menschenbild auf den Leib und proklamierte die Komplexität und Ambivalenz der menschlichen Psyche als normale und notwendige Eigenschaften “dieses allerwunderbarsten und allergeheimnisvollsten Instruments”. So scheint es historisch bezeichnend, dass schon die Veröffentlichung dieses Jahrhundertwerks von Ambivalenz geprägt ist: Zwar trägt das im Wiener Deuticke-Verlag publizierte Buch die Jahreszahl 1900, doch wurde das Werk schon im November 1899 an die Buchhandlungen ausgeliefert. Wenn sich der Verkauf und die Aufnahme dieses 375 Seiten starken Opus über die folgenden Jahre zunächst nur zögernd anliess (in den ersten sechs Jahren nach der Veröffentlichung werden ganze 351 Exemplare verkauft!), so lag dies – wie sein Autor schon im Dezember 1899 zu Recht vermutete – daran dass es “zuviel des Neuen und Unglaublichen” enthielt und enthüllte.
Erst im Jahr 1909 wurde eine zweite, revidierte und auf knapp 390 Seiten erweitere Auflage nötig: In den acht, zu Lebzeiten Freuds erschienenen Auflagen äussert sich die ständige Weiterentwicklung der psychoanalytischen Theoriebildung in der ständigen Umarbeitung und Erweiterung des Textes. Das Buch, wie es heute in unsere Hände gelangt, hat sich von der Urform der Erstausgabe weit entfernt: Es ist ein Agglutinat von Hinzufügungen, ein Schwemmland von Nachträgen, ein Palimpsest von Überschreibungen und Umarbeitungen. Die Grenzen der kontinuierlichen Abgleichung der Neuauflagen mit dem Stand der psychoanalytischen Theoriebildung scheinen nach 20 Jahren erreicht: “Zu einer gründlichen Umarbeitung dieses Buches”, schreibt Freud im Vorwort zur fünften Auflage 1918, “konnte ich mich nicht entschliessen”: sie würde “seine historische Eigenart vernichten”. 1929 – wir halten bei Ausgabe acht, zugleich der letzten zu Lebzeiten Freuds – spricht der Autor schon von einem “historischen Dokument”.
Dass Freud seiner Traumdeutung – ja, seinem Wirken insgesamt – eine historische Rolle beimisst, belegen seine expliziten autobiographischen Äusserungen wie die 1935 in der Selbstdarstellung bescheiden formulierte “Hoffnung”, “dass ich für einen wichtigen Fortschritt in unserer Erkenntnis den Weg eröffnet habe”. Implizit – und, weil verkleidet, sehr viel direkter – erteilt seine Reflexion Der Mann Moses und die monotheistische Religion darüber Auskunft: Die zwischen 1937 und 1939 erschienene, äusserst verschachtelte Studie befasst sich mit Wesen und Wirken des “Helden”, Befreiers und Religionsstifters. Gefährdete Kindheit, Orakel, Überwindung des Vaters gehören ebenso zum Profil des Traditionsbegründers wie die späteren Schwierigkeiten mit widerborstigen Jüngern und rachedurstigen “Söhnen”. Unschwer lässt sich hier die Geschichte der psychoanalytischen Bewegung erkennen: Vom Wirken des “grossen Mannes” als Initiand einer neuen Idee über den Auszug der neuen Bewegung in Richtung des Gelobten Landes: Die “Wüstenwanderung” ähnelt unübersehbar der Durststrecke der neuen Disziplin, die Rebellion der “Befreiten” an Freuds eigene Konfrontationen mit dissidenten Schülern. Noch des Moses vermeintliche “Volksfremdheit” und der biblisch bezeugte Judenhass bieten sich zur Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Antisemitismus an. Dass sich Freud schon vor der Zeit des Nationalsozialismus mit entsprechenden Fragen befasst, erweist die bereits 1925 in Die Widerstände gegen die Psychoanalyse formulierte Vermutung, es sei “vielleicht auch kein blosser Zufall”, “dass der erste Vertreter der Psychoanalyse ein Jude war. Um sich zu ihr zu bekennen, brauchte es ein ziemliches Mass von Bereitwilligkeit, das Schicksal der Vereinsamung in der Opposition auf sich zu nehmen, ein Schicksal, das dem Juden vertrauter ist als einem anderen.”
Als hätte sich mit der Publikation der Traumdeutung ein gordischer Knoten zerschlagen, beschleunigen sich in der Folge Arbeit und Karriere des Arztes und Seelendoktors, der nach siebzehnjähriger Wartezeit 1902 endlich zum ausserordentlichen Titularprofessor berufen wird. Nicht ohne Bitterkeit merkt der Berufene scherzend an, es dünke ihn, als sei damit “die Rolle der Sexualität plötzlich von Sr. Majestät amtlich anerkannt” worden.
Die Zeit der “splendid isolation” scheint damit vorüber und Freud kann endlich erstmals Schüler (wie Alfred Adler) um sich scharen, die sich jeden Mittwochabend in Freuds Privaträumen in der Wiener Berggasse 19 versammeln, um mit ihm über die revolutionären Theorien zu diskutieren (aus diesem Zirkel wird 1908 die Wiener Psychoanalytische Vereinigung hervorgehen). Auch wenn sich Freud über die schleppende oder “verständnislos[e]” Aufnahme seines Traumbuches enttäuscht zeigt, arbeitet er als “als Robinson auf meiner einsamen Insel” rastlos weiter, beginnt im Oktober 1900 die Analyse der “Dora” (publiziert 1905 als Bruchstück einer Hysterie-Analyse) und sammelt Material für eines seiner bekanntesten Bücher, der Abhandlung Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Zusammen mit der Traumdeutung und dem 1905 erschienenen Buch Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten entfaltet die Psychopathologie – durch die zahlreichen persönlichen Beispiele und Episoden auf nachgerade unterhaltsame Weise – die Einsicht, dass es “zwischen normalem und neurotischem Seelenleben überhaupt keine prinzipiellen, sondern nur quantitative Unterschiede” gebe. Träume, Witze und alltägliche Fehlleistungen wie Vergessen, Versprechen, Verwechseln sind Schlüssel zur Normalpathologie und mittlerweile als “Freud’sche Fehlleistungen” in die Alltagssprache eingegangen.
Wo die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts vom Abnormen, vom Kranken und Absonderlichen ausgegangen war, bricht Sigmund Freud mit seiner Trilogie über Traum, Fehlleistung und Witz auf in das Abenteuer der “normalen” Seele: Wo die anerkannten Seelenforscher (wie der französische Neurologe Jean-Martin Charcot, bei dem Freud 1885 an der Pariser Salpêtrière hospitiert hatte) an den oft wehrlosen Patienten psychiatrischer Klinken ihre Experimente durchführten, blieb dem selbständigen Privatdozenten Sigmund Freud nur das ureigene Material – die eigene Person– als Untersuchungs- und Experimentierfeld: Schon zuvor (1884) hatte der junge Mediziner sich mit den Wirkungen des Kokains befasst und diese in systematischen Selbstversuchen am eigenen Leibe erkundet. Nun sind es die eigenen Phantasien, Träume und Unwillkürlichkeiten, die dem Arzt offenbaren, “dass die Grenze zwischen nervöser Norm und Abnormität eine fliessende” sei “und dass wir alle ein wenig nervös seien”.
Das weiss der Arzt aus der entscheidenden biographischen Phase, die der Konzeption und Niederschrift der Traumdeutung vorangegangen war: Vergebliches Hoffen auf universitäre Anerkennung, die Auseinandersetzung mit der Person seines 1896 verstorbenen Vaters Jacob Freud und die allmähliche Ablösung von seinem wichtigen Weggefährten, dem Wiener Internisten Josef Breuer (1842-1925), mit dem gemeinsam Freud 1895 das “Urbuch der Psychoanalyse” (Ilse Grubrich-Simitis), die Studien über Hysterie veröffentlicht hatte, stürzen den knapp Vierzigjährigen in eine tiefe Krise, welche den Impuls für eine schonungslose Selbstanalyse gibt. Im Briefwechsel mit dem Berliner Hals-Nasen-Ohren-Spezialisten Wilhelm Fliess (1858-1828) ergründet Freud die eigenen, teilweise verborgenen Wünsche und Gefühle und entwickelt peu à peu die dann in der Traumdeutung entfalteten Grundgedanken von der Macht der kindlichen Wünsche im Seelenleben des Erwachsenen.
Ob Krankheit oder Traum: Aus der Unvereinbarkeit von Wunsch und Realität, Begehren und Enttäuschung – “aus diesen Gegensätzen”, schreibt Freud im Februar 1899, “spriesst unser psychisches Leben”. Der Traum – jeder Traum – offenbart sich als “Wunscherfüllung des verdrängten Gedankens”. Dass solche Wünsche verkleidet, verschoben und verfremdet aus dem Unbewussten in den Traum sich drängen, liegt daran, dass sich der Träumer die infantilen oder sexuellen Wünsche nicht eingestehen kann oder eben: nicht eingestehen will. Zwischen dem unbewussten (latenten) und dem tatsächlichen (manifesten) Trauminhalt steht, so Freud, eine Zensurinstanz, die das ‘Unerlaubte’ und ‘Peinliche’ in erlaubte und erträgliche Bilder übersetzt und in ein “Bilderrätsel” verwandelt. Entscheidend – für die Traumdeutung und für die Psychoanalyse – ist dabei, dass diese “sekundäre Bearbeitung” nicht zufällig und willkürlich vor sich geht, sondern dass der Wahnsinn auch hier Methode hat und sich die Verfremdung nach ähnlichen Gesetzen wie die Poesie, die Kindersprache oder der Witz “längs einer Assoziationskette” vollzieht. Der Psychoanalytiker spürt dieser – wie Freud in Anlehnung an ein berühmtes Wort Friedrich Nietzsches formuliert – “Umwertung aller psychischen Werte” nach, indem er die Träume des Patienten ernst nimmt und diesen auf dem Wege der freien Assoziation buchstäblich auf den Grund geht. So wird die Methode der Traumdeutung zur “Via regia zur Kenntnis des Unbewussten im Seelenleben” und damit zum ersten Schritt der Selbsterkenntnis. Dass dieser Königsweg in einen recht schlüpfrigen Bereich des menschlichen Sexual- und Trieblebens führt, hat ihn auch für die Psychoanalyse als neue Wissenschaft und für Sigmund Freud als “Doctor Sex” nicht eben einfacher gemacht.
Schon in der Traumdeutung (und zuvor in seinen Briefen an Wilhelm Fliess) entfaltet Freud jene berüchtigte Theorie über den “Ödipus”-Komplex, welche die Illusion einer “unschuldigen” Kindheit radikal untergräbt: Bereits in der frühesten Kinderzeit – so die 1905 in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie ausführlich dargelegte These – ist das Individuum von starken und sexuell motivierten Liebes- und Hassgefühlen beherrscht. Hier wurzeln die Anfänge für spätere neurotische Störungen, die so stark sein können, dass sie “die wichtigsten individuellen und sozialen Leistungen”, etwa “Nahrungsaufnahme und Sexualverkehr, Berufsarbeit und Geselligkeit zu stören vermögen”.
Dass damit die Idee des bewussten und selbstbestimmten, mündigen Individuums (man erinnere sich: das allgemeine Wahlrecht wurde in Österreich im Jahre 1907 eingeführt!) untergraben wird, hat man Freud und seiner unbequemen Wissenschaft nachhaltig übel genommen. Auch Sigmund Freud ist sich bewusst, “dass durch den Inhalt der Lehre starke Gefühle der Menschheit verletzt worden sind”: Die “psychoanalytische Auffassung vom Verhältnis des bewussten Ichs zum übermächtigen Unbewussten” bedeute, so Freud 1925, “eine schwere Kränkung der menschlichen Eigenliebe”. Wo Nikolaus Kopernikus im 16. Jahrhundert die Illusion vom Menschen als Mittelpunkt des Universums entkräftet und Charles Darwin das selbstgewisse Bild der “Krone der Schöpfung” erschüttert hatten, da unterminiert Sigmund Freud mit Traumdeutung und Psychoanalyse das angeblich souveräne Subjekt und behauptet gar, “dass das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus”.
Berühmt geworden ist das aus Vergils Äneis (VII, 312) entlehnte Motto “Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo.” (“Kann ich die höheren Mächte nicht beugen, bewege ich doch die Unterwelt.”). Der Vers, der, so Freud, einen “Hinweis auf die Verdrängung” geben soll, taucht freilich nicht erst auf dem Titelblatt der Traumdeutung auf, sondern begleitet den humanistisch gebildeten und äusserst belesenen Arzt bereits geraumer Zeit: Das lateinische Zitat weist auch in die Richtung des Altertums, welches der passionierte Antikenliebhaber Sigmund Freud gerne als Metapher für seine neue Wissenschaft heranzieht: Psychoanalyse wird so zur “Archäologie der Seele” und das Verdrängte harrt wie die verschüttete Stadt Pompeji seiner Ausgrabung durch die Analyse: Traum und Neurose erzählen allerdings nicht nur von den “seelischen Altertümern” der Kindheit, sondern erlauben vielleicht sogar einen Blick in die “wilde Seele” früherer Menschheitsepochen, so “dass die Psychoanalyse einen hohen Rang unter den Wissenschaften beanspruchen darf, die sich bemühen, die ältesten und dunkelsten Phasen des Menschheitsbeginnes zu rekonstruieren”.
Die jüngste und dunkelste Epoche menschlicher Barbarei blieb freilich auch diesem Jahrhundertbuch und seinem Autor nicht erspart: Im Mai 1933 lodert die Traumdeutung zusammen mit den Werken Heinrich Heines, Karl Marx’, Heinrich Manns, Kurt Tucholskys, Franz Kafkas auf den Scheiterhaufen der von den Nationalsozialisten entfachten öffentlichen Bücherverbrennungen. Nach dem Einmarsch der Hitlertruppen in Wien und dem Finis Austriae wird es für den Arzt, der, wie er 1925 geschrieben hatte, “sein Judentum nie verbergen wollte”, Zeit, die Wiener Bühne zu verlassen. Im Juni 1938 ermöglichen Schüler, Freunde und Kollegen die Ausreise für Sigmund Freud und seine Familie über Paris nach London, wo der schwer Krebskranke am 23. September 1939 dreiundachtzigjährig stirbt.
“Ich meine also”, hatte dieser Entdecker der menschlichen Seele am Beginn des Jahrhunderts geschrieben, “am besten gibt man die Träume frei”.
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Literatur
- Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Reprint der Erstausgabe. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1999
- Sigmund Freud: Gesammelte Werke. 19 Bde. Fischer Taschenbuch-Verlag 1999
- Sigmund Freud: Briefe an Wilhelm Fliess 1887-1904. Ungekürzte Ausgabe, hg. v. Jeffrey Moussaieff Masson, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1986
- Die Lesbarkeit der Träume. Zur Geschichte von Freuds Traumdeutung, hg. v. Lydia Marinelli u. Andreas Mayer. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch-Verlag 2000
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