
Wir schlafen nicht print this book tip
[ book tip by Beat Mazenauer ] Und wieder feiert der ökonomische Jargon Triumphe. In Angesicht der sogenannten "Finanzkrise" werden Milliarden und Floskeln umher geworfen, als ob so die ökonomische Schindluderei wieder ins Lot gebracht werden könnte.
Vor ein paar Jahren hat Kathrin Röggla diesen "Jargon der modernen Eigentlichkeit" im virtuosen Roman "Wir schlafen nicht" veranschaulicht.
Sieben Figuren, die auf einer IT-Messe gemeinsam einen Firmenstand betreiben, sprechen über ihr Metier: Kommunikation ist ihr Business, und zugleich ihr Verhängnis.
Von der Interviewerin angestachelt, reden sie über die Arbeit, deklinieren die Hohlformeln der new economy, brüsten sich, beginnen zu klagen, äussern Daseinsängste und enden in schierer Verzweiflung. Freunde: Fehlanzeige, Familie: kaum möglich, Hobbys: welche denn? Das Leben für die Firma und für die Karriere erlaubt nichts neben sich. Doch irgendwann taucht doch die Frage auf: wozu? Arbeit ist das ganze Leben, heisst die neue Formel; dazu zählt auch die Freizeit. Im Konsumrausch gibt es keine Musse, keine Zeit zum Schlafen. Die tiefere Tragik besteht darin, dass dieser Mangel an Zeit zur heroischen Tugend umgewertet wird, die erst endet, wo der Kollaps zur Ruhe zwingt. Vor solchem Scheitern herrscht die nackte kollektive Angst.
Die Grundlage für ihren Chor der IT-Angestellten bildeten Gespräche, deren Aussagen Kathrin Röggla zerschnippselt und thematisch neu arrangiert hat. Die sieben Protagonisten sind Masken, Rollen in einem grossen Spiel, das new economy heisst. Formal stellt sich Röggla damit in die Tradition der Cut-up-Technik, des Montageromans, der Remix-Kultur. Was “Wir schlafen nicht” aber von andern Texten unterscheidet, sind die subtile Komposition und die rhythmische Geschmeidigkeit, mit der Röggla den O-Ton mimetisch nachstellt. Die Oberflächenrhetorik beginnt zu klirren. Wir alle kennen diese Sprache längst selbst und üben uns tagtäglich darin, indem wir die ökonomischen Leitsätze mitbeten. Rögglas Chor dekonstruiert hinterrücks die eigene zustimmende Euphorie zu dieser Daseinsweise, indem sie den Preis dafür benennt: soziale Verarmung und Unfähigkeit zum kommunikativen Austausch.
[ Favourite quote ] “es gibt verschiedene unwirklichkeitsgrade, die hier friedlich koexistieren”
[ book info ] Röggla, Kathrin: Wir schlafen nicht.
(original language: Deutsch)
S. Fischer,
Frankfurt, 2004
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This book is ...
Genre: novel
Keywords: Wirklichkeit, Gesellschaftskritik, Ökonomie, Ausbeutung, Arbeitswelt
Style: spannend, innovativ, blitzgescheit
Recommended for: Zeitdokument, Reiselektüre, Lektüre zum Nachdenken, Lehrstück, Karrieristen
Languages (book tip): German