[ book tip by Beat Mazenauer ] Mit dem Roman „Sittenlehre“ gibt der Argentinier Martin Kohan präzise Einblicke in den Mikrokosmos eines diktatorischen Regimes. Am Vorzeigeinternat Colegio Nacional in Buenos Aires herrscht ein strenges Regime, das den Eliten von morgen die korrekte Gesinnung eintrichtert. Die junge Maria Teresa ist als Aufseherin tätig, mit der Aufgabe betraut, Regelverstösse im Keim zu erkennen. Dabei soll sie durchaus auch kreativen Verdacht schöpfen, denn wer weiss, was in den Köpfen der Schüler vor sich geht. Wie sie dies tut, gerät sie aber selbst in Bedrängnis, denn ihr Vorgesetzter, Herr Biasuto, hat ein Auge auf sie geworfen. Mitläufer(innen) wie Maria Teresa halten repressive Systeme am Laufen, indem sie die Order von oben gehorsam umsetzen. Dafür braucht Maria Teresa kein schlechter Mensch zu sein, bloss ein williger. Sie ist jung und unsicher und will keine Fehler machen. Martin Kohan schildert das mit akribischer Präzision. Er demonstriert dabei eine stupende Ausdruckskraft, die ganz und gar gezügelt der Phantasie freien Lauf lässt und so auf subtilste Weise Spannung schafft. Seine poetische Analyse des argentinischen Sittenregimes überzeugt, gerade weil sie sich auf scheinbar Nebensächliches konzentriert. Im Kleinen beginnt alles Grosse, das gilt ganz besonders auch für dieses glänzende literarische Kammerspiel.

[ Favourite quote ] p { margin-bottom: 0.21cm; } Schamlos üben sich die Schüler in der Kunst der Verstellung... Nicht Capeláns Gesicht erforscht sie nun insgeheim, sondern das von Marré. Und dabei bemerkt sie oder glaubt sie zu bemerken, dass Marré langsam die Augen schliesst – eine Art Blinzeln, aber in Zeitlupe. Sie fasst es so auf...

[ book info ] Kohan, Martín: Sittenlehre. (original language: Deutsch) Suhrkamp Verlag, Berlin, 2010 (2007).
Translated from Spanisch by Peter Kultzen