Documentary Fiction
Documentation of literary Documentary Fiction
Die Europäischen Literaturtage 2013 diskutierten den Bereich des dokumentarischen Romans. Das dazu eröffnete Archiv versammelt Buchempfehlungen von readme.cc Usern. Besprechungen, die unter dem Stichwort "Roman" abgespeichert werden, erweitern das Archiv

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[ Buchtipp von Sonja Eismann ] W. G. Sebald war bis vor wenigen Jahren eines der bestgehüteten Geheimnisse der deutschsprachigen Literatur. Während der in England lebende Deutsche in seiner Wahlheimat, den USA und auch Frankreich beinahe Kultstatus besaß, wurde das deutsche Feuilleton erst durch den als sein Meisterwerk geltenden Roman Austerlitz auf ihn aufmerksam und überschlug sich vor Begeisterung. Von germanistischen Seminaren geliebt, ist der in Wertach geborene und 2001 in East Anglia tödlich verunglückte Autor, der seine Vornamen Winfried Georg angeblich als richtige Nazinamen verabscheute, nicht gerade leichte Kost. Doch die ganz und gar eigentümliche, verschachtelte und anachronistische Sprache, die gerne auch als Sebald-Sound apostrophiert wird, verschlingt die Aufmerksamkeit der LeserInnen schon nach wenigen Sätzen geradezu.
Die Geschichte des titelgebenden Protagonisten Jacques Austerlitz, von einem namenlosen Ich-Erzähler in direkter Rede, also wiederum in Ich-Form, dargeboten, entknotet sich ebenso mäandernd wie die langen, poetischen Sätze Sebalds. Inmitten eines Settings von ausführlichen, kunsthistorischen Architekturbeschreibungen und zahllosen Reflexionen über, beispielsweise, Leben und Sterben von Faltern entsteht bei den LeserInnen jedoch bald ein detektivisches Interesse am Schicksal des einsamen Austerlitz. Dieser wurde als Kind jüdischer Eltern bei Beginn des Zweiten Weltkriegs von Prag nach England verschickt, wo er von einer gestrengen, freudlosen Pfarrersfamilie eine komplett neue Identität verliehen bekommt. Erst nach zähem, jahrelangen Ringen mit den eigenen Verdrängungsmechanismen kommt er seiner schmerzvollen Vergangenheit auf die Spur. Sebald zeichnet diese Ent-hüllung der Auswirkungen des Holocaust als einen parallel zum kollektiven deutschen Vergessen und Verdrängen verlaufenden Prozess, als ein Sterben, das dem Leben unter diesen Voraussetzungen immer schon inhärent sein muss. Nicht die Obszönität eines allumfassenden imaginierten Gräuels, dessen Beschreibung sich Sebald nie anmaßen wollte, steht im Mittelpunkt, sondern das leise, eiskalte und lebenslang alles vergiftende Entsetzen des Einzelschicksals.
Nach dem Besuch des ehemaligen KZ Theresienstadt lässt der Autor Austerlitz die Busfahrt zurück in die Stadt und damit auch das Unsagbare der Gaskammern - folgendermaßen erinnern: "Der Bus war stark überheizt. Ich spürte die Schweißperlen auf meiner Stirn und dass es mir eng wurde in der Brust. Einmal, als ich mich umwandte, sah ich, dass die Fahrgäste in den Schlaf gesunken waren, ausnahmslos. Mit verrenkten Leibern lehnten und hingen sie in ihren Sitzen. Dem einen war der Kopf nach vorn gesunken, dem anderen seitwärts oder in den Nacken gekippt. Mehrere röchelten leise."
In unregelmäßigen Abständen sind zum jeweiligen Text passende schwarz-weiße Fotografien zwischen die Zeilen gesetzt, die der fiktiven und doch so irgendwo sicherlich geschehenen Geschichte den Anstrich des Authentischen und damit umso Rätselhafteren geben. Wenn Sebald Austerlitz sagen lässt "Für mich war die Welt mit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts zu Ende", hört man deutlich den Autor sprechen, denn mit einer ungeheuren Melancholie und poetischen Kraft zaubert er eine versunkene Sprache neu herbei. Das mag befremdlich oder sogar verstörend klingen, ist aber eine der ganz großen Entdeckungen der deutschsprachigen Literatur.
[ Info ] Sebald, W. G.: Austerlitz.
Fischer Taschenbuch,
Frankfurt am Main 2003
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ISBN: 3-596-14864-2.
Dieses Buch ist ...
Genre: Roman
Stichworte: meisterhaft, beeindruckend, ergreifend, ungewöhnlich, interessant
Stil: ernsthaft, lehrreich
Empfohlen für: Bettlektüre, Lehrstück, Lektüre zum Nachdenken, Sprachgenuss
Sprachen (Buchtipp): Deutsch