
Die Arbeit der Nacht drucken
[ Buchtipp von Pascal Blum ] Der langweilige Jonas wacht eines Morgens in Wien auf und ist alleine. Kein Mensch ist mehr auf der Welt, weder die Nachbarn noch die Stadtgestalten noch seine Freundin Marie. Nur einer leistet Jonas Gesellschaft, während er nach und nach irre wird: der Leser. Er schaut Jonas zu, wie er Wohnungen umstellt, mit geklauten Wagen in die umliegenden Länder fährt und sich, um vollends verrückt zu werden, beim Schlafen selber filmt. Es ist nicht gerade beruhigend, dass dieses Ungeheuer mit den leeren Augen im Fernsehschirm er selber sein soll. Noch weniger hilfreich ist es, dass Jonas an den unpassendsten Momenten einnickt, schlafwandelt, und er sich bald vor seiner eigenen Nachtseite zu fürchten beginnt. Am Schluss unternimmt er, was der vernünftigste Mensch in einer menschenleeren Welt unternehmen würde, doch Jonas gibt dabei den Gedanken nicht auf, dass Liebe möglich ist.
Thomas Glavinics abseitiges Horrorstück fragt nach der Möglichkeit einer Realität, wenn es nur noch einen Menschen auf der Welt gibt. Sind andere Orte, andere Zeiten, andere Bewegungen überhaupt da, wenn sie niemand sieht? Bald überstellt Jonas ganz Österreich mit Kameras, die ihm Gewissheit geben sollen, dass es ausser ihm etwas gibt: Zeitpunkte, registriert durch moderne Technik. Doch was er auf den Aufnahmen sieht, wirft ihn erst recht aus der Bahn.
Der Österreicher Thomas Glavinic hat humorvolle Bücher geschrieben, darunter die Literaturbetriebskomödie "Das bin doch ich" (2007) und den Coming-of-Age-Roman "Wie man leben soll" (2004). Sein Telegrammstil, den er in dem Krimi "Der Kameramörder" von 2001 auf die Spitze trieb, macht ihn aber nicht zum grossen Stilisten. "Die Arbeit der Nacht" ist forciert nüchtern geschrieben. Glavinic haut in seiner Bedienungsanleitungssprache gelegentlich daneben, etwa wenn Jonas' Geist "nicht verfügbar" ist. Doch das macht nichts, denn "Die Arbeit der Nacht" ist, so man sich darauf einlässt, ein sehr spannender postapokalyptischer Roman, der sich eines Science-Fiction-Entwurfs der ausgestorbenen Welt bedient, ohne selbst Science Fiction zu sein. In der Tat passiert Jonas (fast) nichts Unerklärliches oder Übersinnliches. Damit erfüllt Glavinic Dietmar Daths Anspruch an die drastische Kunst: die Buchstäblichkeit.
Weshalb Jonas mutterseelenallein ist, lässt das Buch offen. Aber die Frage verschwindet beim Lesen, da man dem Buch innert Kürze verfällt und mit gesteigerter Spannung eine Geschichte verfolgt, die gegen Ende derart stark wird, dass man meint, sie physisch zu erleben.
[ Lieblingszitat ] "Eine Minute vor vier erklomm er das Dach des Führerhauses. Er verfolgte den Sekundenzeiger seiner Armbanduhr. Um Punkt vier breitete er die Arme aus. Jetzt."
[ Info ] Glavinic, Thomas: Die Arbeit der Nacht.
(original language: Deutsch)
Hanser,
München, 2007
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ISBN: 978-3-446-20762-2.
Dieses Buch ist ...
Genre: Roman
Sprachen (Buchtipp): Deutsch, Ungarisch, Tschechisch, Dänisch, Slowenisch