Documentary Fiction
Documentation of literary Documentary Fiction
Die Europäischen Literaturtage 2013 diskutierten den Bereich des dokumentarischen Romans. Das dazu eröffnete Archiv versammelt Buchempfehlungen von readme.cc Usern. Besprechungen, die unter dem Stichwort "Roman" abgespeichert werden, erweitern das Archiv

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[ Buchtipp von Tim Schomacker ] Im Grunde ist dieses Buch so outstanding - inständig! -, dass es hier alleine stehen müsste. Nur mit einem Bild vom Buchdeckel. Mit blauen und roten Buchstaben. Dieses Buch IST einfach: ALLES ODER NICHTS.
Im Grunde - andererseits - könnte man (könnte ich) Wochen und Monate damit zubringen, es zu beschreiben, zu kopieren, nachzuerzählen, zu imitieren, die passende Musik für es heraussuchen (ja, es wäre eine durchaus angemessene Herangehensweise, die Platten aufzulisten, die man hören kann, wenn man ALLES ODER NICHTS liest; in dem Wissen, dass es ein anderes Buch ist, wenn man andere Platten hört, während man es liest. Aber Platten sind wichtig.), es auszumessen, zu kartografieren, nachzukochen (ja, nachzukochen, denn es geht in dem Buch um Nudeln!), über seinen Einband zu streicheln. Undsoweiter.
Aber jetzt steht ja schon mehr da als nichts. Und darum muss es weiter gehen. Also los: Fangen wir außerhalb des Buches an. Mit einem Haufen Schreibmaschinenseiten. Auf den Schreibmaschinenseiten steht die Idee zu ALLES ODER NICHTS. Fast dreihundert Seiten lang. Das ist das Buch. Die Aufzeichnung der Idee, es zu schreiben. Die Aufzeichnung der Vorbereitungen, die nötig sind, es zu schreiben. Die Aufzeichnung der vielen Möglichkeiten, es zu schreiben. Aus den Schreibmaschinenseiten wurde in der deutschen Version zum ersten Mal ein Buch (der Autor fand die Arbeit des Übersetzers so gut, dass sie die Grundlage der nächsten amerikanischen Buchausgabe bildete - im Original). Ein Buch, bei dem keine Seite so aussieht, wie die andere. Das ist - im Grunde - bei jedem Buch so; aber bei ALLES ODER NICHTS kann man das sehen. Auf den ersten Blick. Die Wörter, die in diesem Buch am Häufigsten auftauchen sind: "vielleicht", "zum Beispiel", "Fragen" - und natürlich "Nudeln". Denn davon handelt das Buch (kann man sagen: es handelt von etwas?): Jedenfalls gibt es Berechnungen darüber, wie viele Packungen Nudeln man braucht, um ein Jahr in einem Zimmer zu bleiben und diese Lebensgeschichte aufzuschreiben (oder, zumindest, eine Vision davon). Und es gibt Listen: von möglichen Namen des Protagonisten und der anderen Figuren. Von Nudelsorten.
ALLES im Leben der Hauptfigur (sie trägt verschiedene Namen) scheint mit den Daten des Lebens jenes Raymond Federman übereinzustimmen, dessen Name auf Buchrücken und Titelblatt steht. ODER NICHTS. Dass er in Frankreich geboren wurde. Dass er die Shoah nur überlebte, weil ihn seine Mutter bei einer Razzia in einen Schrank auf dem Treppenabsatz schob (der Schrank kommt in jedem Buch vor, auf dessen Buchrücken oder Titelblatt der Name Raymond Federman steht), die Zeit während des Krieges auf einem Bauernhof in der französischen Provinz, die Überfahrt nach Amerika, der Onkel, der ihn nach Detroit mitnimmt, die Zeit in der Autofabrik, das Saxofon, das er zu spielen beginnt, New York, die Armee, das Schriftstellersein. Das Vorhaben, die Geschichte seines Lebens aufzuschreiben. Und das Buch, das von diesem Vorhaben erzählt.
[ Lieblingszitat ] "EINIGE LEUTE SIND TRÄUMER / ANDERE SIND REALISTEN / Aber 6 Mäuse für ein Zimmer HEUTZUTAGE wer kriegt denn schon so was"
[ Info ] Federman, Raymond: ALLES ODER NICHTS.
(original language: English)
Greno,
Nördlingen, 1986
(1971).
ISBN: 3891902220.
Übersetzt aus Amerikanischen von Peter Torberg
Dieses Buch ist ...
Genre: Roman
Stichworte: Shoah, Konzentrationslager, Jazz, Intellektuelle, Frankreich, Autobiografie, Amerika
Stil: stilbildend, programmatisch, leicht lesbar, experimentell
Empfohlen für: Zweiflerinnen, Liebhabern langer Romane, Buchmenschen
Sprachen (Buchtipp): Deutsch, Arabisch, Tschechisch, Dänisch, Hebräisch, Ungarisch, Italienisch, Slowenisch