Documentary Fiction

Documentation of literary Documentary Fiction

Die Europäischen Literaturtage 2013 diskutierten den Bereich des dokumentarischen Romans. Das dazu eröffnete Archiv versammelt Buchempfehlungen von readme.cc Usern. Besprechungen, die unter dem Stichwort "Roman" abgespeichert werden, erweitern das Archiv


BMUK 

Documentary Fiction drucken

Könnte Köln sein

Städte. Baustellen. Roman

Neumeister, Andreas

Bewertung

Buch bewerten:

******

Bild vergrößern

[ Buchtipp von Tim Schomacker ] Welches ist der deutscheste aller deutschen Flüsse? Welches die mexikanischste aller mexikanischen Kirchen? Wie sieht die pornografischste aller Pornofilmhintergrundwohnungen aus? Welches ist das russischste aller russischen Bauwerke? Wie modern kann eine faschistische Parteizentrale aussehen? Wessen Entwürfe wurden 1972 von der Stadt München und den Olympiamachern abgelehnt, um die Zeltdachmoderne im München des Jahres 1972 nicht zu gefährden? Andreas Neumeister als größter Fragezeichensetzer unter den gegenwärtigen deutschsprachigen Schriftstellern. Andreas Neumeisters Texte als Texte mit vielen Fragezeichen und vielen Komparativen.

Ende der 1950er Jahre fuhr Wolfgang Koeppen im Auftrag des Rundfunks nach Russland. Wolfgang Koeppen fuhr auch nach Stalingrad. Er nennt den Aufbau von Stalingrad den "vollkommensten Aufbau, den man sich denken kann". Sagt: "Für mich waren die neuen, die makellosen Tempel die einzigen Ruinen in der Stadt." 1959 fuhr Koeppen in die Vereinigten Staaten. Nach New York und New Orleans, nach Los Angeles und San Francisco. Nach Chicago. Im selben Jahr wurde Neumeister geboren. Beide mit herzlich brüchigem Verhältnis zu München. Beide bereisen (zum größten Teil) die gleichen Städte, ihre Besuche liegen fast fünfzig Jahre auseinander. Koeppen kehrt heim, rearrangiert das Gesehene und Erlebte, gleicht es ab, mit dem, was er davor gewusst hat oder danach erfahren. Er schreibt Rundfunkessays und nennt die Reise nach Russland eine "empfindsame". Andreas Neumeister kehrt heim, rearrangiert das Gesehene (mehr als das Erlebte), er schreibt einen Roman. Auf manche von Neumeisters Fragen gibt es Antworten in Form von anderen Büchern. Mike Davis' "City of Quartz" wäre so eines.

Wenn dieser Roman einen Protagonisten hat, ist es die Architektur. Neumeisters Protagonist existiert an vielen Stellen gleichzeitig. Meist unabhängig von einander. Manchmal auch nicht: Die Stadt München und die Olympiabetreiber lehnten unter anderen einen Entwurf des mexikanischen Architekten Luis Barragán ab. "(Zu zeitgenössische Kunst soll nicht in Konkurrenz zu der gebauten Zeltdach-Moderne treten.)" 1958 markierte Barragán mit seinen fünf "Torres de Satélite" die ultramodernen "Ciudad Satélite" in Mexiko-Stadt. Eine Abbildung dieser Türme findet sich 2008 auf dem Cover von "Könnte Köln sein". "Könnte Köln sein" als neuestes Buch des Wort-Architekten Andreas Neumeister. Das letzte, "Angela Davis löscht ihre Website", erschien 2002. Die Autobahn als roter Faden in den Büchern Andreas Neumeisters. Das Verhältnis von sozialen und städtebaulichen Orten als roter Faden in den Texten Andreas Neumeisters. Die "Empfindsamkeit" Koeppens, der stets dort steht und sitzt und geht und isst, wo er hinfährt, fehlt in Neumeisters architekturfokussiertem Reisebuch. Ist einer Empfindlichkeit gewichen. (Vielleicht hat sich die Empfindsamkeit auch nur verändert in fünfzig Jahren?) Selten lugt das Erzähl-Ich hinter dem essayistisch-brüchigen Gedankenvorhang hervor: "Georg: wäre, hätte, könnte" (in Moskau) oder "Feststellung, praktischer Hinweis: je größer und zahlreicher die Madonnen, desto gefährlicher womöglich der Bus!" (in Mexiko). Meist lässt er viel Luft zwischen seinen Gedanken: Die nach Amerika projizierte Vorstellung von irgendwie Venedig"; hinter seinen Fragen: "Wie lange, das frage ich Georg, muss man an der Macht sein, um einen Architekturstil zu prägen?"

Das irritiert zunächst, weil man sicher in der Fülle der Daten (wie Zeitungsausrisse, Gesprächsfetzen, Notizen flüchtige Blicke beim Surfen im Internet kommen sie daher) kaum zurecht findet. Schnell aber weiß man die Schönheit dieser Lücken zu schätzen, beginnt zu ergänzen, die Lektüre zu wiederholen, zu springen. So ist das Buch selbst ein architektonisches Gebilde, das man ähnlich fragend in der Hand hält, wie man mitunter vor einem Gebäude steht, in einem Stadtteil. Plötzlich ergeben die nur als Text vorhandenen Abbildungen mehr Sinn als ein leibhaftiges Foto. Plötzlich die Wiederbesichtigung jener revolutionären Architektur Moskaus, die nie realisiert wurde, genau das, was man jetzt gerade tun möchte. Und auch kann. Die Skizzen des Nicht-Gebauten (sind es moderne Ruinen?) sind hier genauso verfügbar wie in Moskau. Könnte hilfreich sein.

[ Lieblingszitat ] Fotos, die man selbst machen muss / Fotos, die man nicht selbst machen muss

[ Info ] Neumeister, Andreas: Könnte Köln sein. Städte. Baustellen. Roman. (original language: Deutsch) Suhrkamp, Frankfurt, 2008 . ISBN: 9783518419199.


Dieses Buch ist ...


Du kannst auch ...


Weitere Links


Diesen Buchtipp an einen Freund senden




Kommentare





Wenn du das Wort nicht lesen kannst, klicke hier