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Kindergeschichten

Bichsel, Peter

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[ Buchtipp von Tim Schomacker ] Manchmal, wenn ich einen Text lese, einen Text von mir, ihn wieder lese, bevor ich ihn, zum Beispiel, abschicke, weil ein Redakteur auf ihn wartet, bleibe ich an einem "und" hängen. Dieses "und" ist nicht mein "und". Es ist geklaut. Oder geborgt. Das klingt freundlicher. Geborgt aus einer Art zu erzählen, die ich kannte, bevor ich wusste, dass ich irgendwann selber Texte schreiben würde und bevor ich wusste, dass man über diese Texte nachdenken kann.
Das "und" stammt von einer Schallplatte, auf der ein Mann abgebildet ist, der ein braunes Jackett trägt, der vor einem Eisenbahnwagen steht und der seine "Kindergeschichten" liest. Und in meinem Kopf klingen sie wieder, diese Geschichten, von denen Peter Bichsel behauptet, sie seien für Kinder. Er hat Recht, weil ich sie als Kind mochte, und er hat nicht Recht, weil ich sie immer noch mag. Dass ein Tisch ein Tisch ist, wird da erzählt, dass es Amerika nicht gibt und dass nur Erfinder etwas erfinden können, auch wenn es ihre Erfindung schon gibt. Peter Bichsels "Kindergeschichten" sind traurige Geschichten. Auch das mag ich an ihnen. Vor allem aber mag ich an ihnen, dass sie etwas vom Geschichtenerzählen erzählen. Ohne dass man es merkt. Ich schicke den Text ab. Ich freue mich, dass es Peter Bichsel gibt und seine Geschichten.

Ich habe ihm das alles einmal in einem Brief geschrieben. Vielleicht fragen Sie sich, warum ich Ihnen das schreibe, schrieb ich. Schließlich sind Sie auf dem Bild zu sehen. Und das Bild findet sich auf dem Umschlag einer Schallplatte, auf der Ihre Stimme zu hören ist. Sie lesen Ihre "Kindergeschichten". Sie wissen davon, schrieb ich. Auch wenn Sie auf jüngeren Bildern eine Brille tragen. Und graues Haar haben Sie auf diesen Bildern auch. Ich will nicht Sie an dieses Bild erinnern, sondern ich erinnere mich an die Schallplatte mit Ihrer Stimme darauf. Sie erschien im selben Jahr, in dem ich zur Schule kam. Noch bevor ich lesen und schreiben konnte, versuchte ich mit meinem norddeutschen Mund einen Schweizer Akzent nachzuahmen. Bis die Mutter kam und die Platte abdrehte und sagte, das Essen sei fertig, oder sie sagte, nun ist es aber genug.

Auch das reicht vielleicht nicht aus, notiert zu werden, schrieb ich. Aber man hat mich gebeten, etwas über das Erzählen aufzuschreiben und über Bremen. Oft, wenn ich über das Erzählen nachdenke, fällt mir diese Schallplatte ein. An Bremen denke ich viel seltener. Darum schreibe ich an Sie, auch wenn ich nicht weiß, ob ich diesen Brief je abschicken werde. Denn so etwas ist immer ein wenig peinlich. Und wenn Sie einmal hier wären, zu einer Lesung vielleicht, sicher würde jemand zu mir kommen und sagen, siehst Du, dort, da steht der Bichsel, vielleicht sogar: dort steht Dein Bichsel. Und er würde mich auffordern, zu Ihnen hinüberzugehen und Ihnen all das zu erzählen. Er würde eine Handbewegung machen oder mich an der Schulter fassen und ich müsste wahrheitsgemäß sagen, nein, ich getraue mich nicht.

So stelle ich es mir vor, schrieb ich, doch in dieser Vorstellung liegt auch etwas Unwahres. Denn der Satz "Nein, ich getraue mich nicht" ist nicht mein Satz. Er stammt aus der Geschichte "Amerika gibt es nicht" von Peter Bichsel. Ich habe ihn entwendet, so, wie immer wieder ein Und zu viel da steht, wenn ich etwas aufschreibe. Manchmal geschieht es, dass ich über eine Platte schreibe oder über ein Buch oder über irgendwas, und ich bemerke, wie die Hauptworte dort stehen, ohne viele Worte, die sie genauer beschreiben, der Mann ist nur ein Mann. Vielleicht hat er einen Hut auf und einen Mantel an, vielleicht blättert man um und dort gibt es einen anderen Mann oder eine Frau oder ein Fahrrad, das gerade die Straße entlang fährt, und der Mann mit dem Hut muss ausweichen. Dann erinnere ich mich an jene Schallplatte und bei dem Gedanken, sie kennen die Platte gar nicht, über die ich gerade schreibe, muss ich lächeln. Lächeln, schrieb ich, weil es in diesen Momenten nicht Sie sind, der für diese Wiederholungen verantwortlich ist, sondern tatsächlich mein Bichsel. Und ich bin erleichtert, wenn ich andere Texte lese, die ganz anders klingen.

Den Brief habe ich nie abgeschickt. Denn meinen Bichsel würde ich mit der Post nicht erreichen. Einmal erzählen die Kindergeschichten von einem Erfinder. Der kommt, nachdem er Jahre lang etwas erfunden hat, in die Stadt und sieht, dass es das alles schon gibt. Er kehrt in seine Erfinderwohnung zurück und setzt sich an seinen Erfindertisch: "Er nahm einen Bogen Papier, schrieb darauf 'Das Automobil', rechnete und zeichnete wochenlang und monatelang und erfand das Auto noch einmal, dann erfand er die Rolltreppe, er erfand das Telefon und er erfand den Kühlschrank. Alles, was er in der Stadt gesehen hatte, erfand er noch einmal. Und jedes Mal, wenn er eine Erfindung gemacht hatte, zerriß er die Zeichnungen, warf sie weg und sagte: Das gibt es schon. Doch er blieb sein Leben lang ein richtiger Erfinder, denn auch Sachen, die es gibt, zu erfinden, ist schwer, und nur Erfinder können es." Da ist wieder so ein "und". Und ich bin froh, dass Bichsels Erfinder weiter macht. Denn das macht den Erfinder des Erfinders zu meinem Bichsel.

[ Lieblingszitat ] Die Erde ist rund, das wusste er.
Seit man das weiß, ist sie eine Kugel, und wenn man geradeaus geht, kommt man wieder zurück an den Ort, von dem man ausgegangen ist.

[ Info ] Bichsel, Peter: Kindergeschichten. (original language: Deutsch) Suhrkamp, Frankfurt / Main, 2008 (1969). ISBN: 9783518391426.


Dieses Buch ist ...

Genre: Erzählende Prosa
Sprachen (Buchtipp): Deutsch


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