Neue Literatur aus Österreich
Incentives - Neue Literatur aus Österreich
readme.cc eröffnet einen mehrsprachigen Zugang zur neuesten österreichischen Literatur. In Kooperation mit dem Literaturhaus in Wien bietet die Leseplattform Einblick in das aktuelle literarische Geschehen des Landes.
LiteraturjournalistInnen und WissenschaftlerInnen stellen aktuelle Neuerscheinungen vor, Leseproben vermitteln kurze Einblicke in die jeweiligen Texte, Kurzporträts der Autorinnen und Autoren ergänzen das Bild.
Das Informationsangebot steht derzeit in fünf Sprachen zur Verfügung: Deutsch, Englisch, Französisch, Tschechisch und Ungarisch.
Das Projekt will zur Internationalisierung österreichischer Literatur beitragen bzw. zur Übersetzung aktueller Texte anregen.
Durchführung: Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur (Rezensionen, Autorenporträts) – Übersetzergemeinschaft (Übersetzungen) – readme.cc (Infrastruktur).

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[ Buchtipp von ] Paulus Hochgatterer ist Jugendpsychiater. Das ist in diesem Fall eine wichtige biografische Anmerkung: erstens weil er zwischen seinen Berufen als Psychiater und als Schriftsteller, was die Behandlung von Menschen angeht, grundsätzliche Parallelen zieht; und zweitens weil das Personal seiner Bücher zu einem großen Teil aus jungen Menschen besteht, die „verhaltensauffällig“, also asozial, psychopathisch, kriminell sind. Was Hochgatterer allerdings auf keinen Fall macht, ist psychiatrische Spartenliteratur. Das „pathologische“ Verhalten seiner Protagonisten ist nichts Anderes als ein zur Kenntlichkeit befreites/gesteigertes Allgemeinverhalten des Menschen: der Kampf um Liebe, die Äußerungsformen des Schmerzes, die bis zur Selbstbeschädigung gehende Not der Selbstbehauptung.
In einem Interview sagte Hochgatterer sinngemäß: Er versuche jeden neuen Patienten zunächst in seiner ganzen Neuheit, in seinem unklassifizierten Eigensein aufzunehmen, also außerhalb seines Fachwissens, um den Kategorien und Rubriken des Bescheidwissens zu entkommen, die die Sicht auf die Verhältnisse durchaus verstellen können. Diese schöne ärztliche Tugend ist zugleich eine schöne poetische Tugend: dem Menschen zu begegnen ohne Diagnoseabsicht, ohne Besserwissen. Soziales Ausgesetztsein, soziale Verletzungen, „das Herzzerreißende der Dinge“ sind am sichtbarsten, bevor sich der Arzt mit Diagnose und Therapie daran macht, den Fall hinter sich (hinter uns) zu bringen. Am radikalsten ist diese „phänomenologische“ Schreibweise in „Über Raben“ durchgezogen: Der Leser wird Zeuge, wie ein Mann und ein Mädchen in eine sibirische Einsamkeit treiben, ohne dass er (der Leser) auch nur einen Zentimeter über das reine Geschehen hinauszublicken Gelegenheit bekommt; er ist der unkommentierten, unzensurierten Wucht des Faktischen ausgeliefert.
Bebenden Realismus könnte man die Fachsprache der Fliegenfischer nennen („Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen“), mit der Hochgatterer drei Männer ihre explosive Empfindsamkeit notdürftig zudecken lässt. Hochgatterer befreit seine Texte vom ganzen Apparat des Verstehens, der die Leiden des Menschen in medizinischen, psychologischen, soziologischen, ideologischen Kategorien aufgreift und in deren Fachsprachen ablegt. Es gibt keine kranken Menschen in seinen Büchern, nur Menschen. Letzten Endes muss man Hochgatterer als Moralisten sehen, aber als Moralisten ohne Moral.
Hochgatterer ist in der österreichischen Gegenwartsliteratur vielleicht der Schriftsteller, der am konsequentesten die allwissende Position des auktorialen Erzählers verweigert, mindestens versteckt, also auf reflexive, moralische, ja emotionale Einmischung verzichtet. „Erklärungen sind langweilig und dumm“, sagt er. Er vergegenwärtigt die Leiden in dem Status, in dem sie Leiden sind: begrifflos. Verstehen beschwichtigt. Obwohl er zum Beispiel in seinem letzten Roman „Die Süße des Lebens“ sowohl einen Psychiater als auch einen Kriminalisten zur Lösung des Falls einsetzt, sitzt er seinen Figuren, hat man den Eindruck, in einer dem Leser und den Figuren wohltuenden Art von Hilflosigkeit gegenüber, angewiesen darauf, sie unter eingehender Beobachtung unbehelligt zu lassen.
Hochgatterers Technik der Aussparung ist wohl die wichtigste narrative Qualität seiner Bücher. Eine andere Qualität ist die bedingungslose, zugleich unsentimentale Empathie für seine Protagonisten. „Was mir an meinen Figuren wichtig ist, ist die Verletzlichkeit“ (Interview). Die Identifizierungen mit seinen Helden (häufig in Ich-Form) erreichen, bis hinein in die Sprache der Jugendlichen, dokumentarische Qualitäten, die abgesichert scheinen durch Hochgatterers berufliche Kompetenz. Die Darstellungen (nur in zweiter Linie Sozial- und Psychodokumente) sind zugleich voll Schlagfertigkeit und lakonischem Witz. Hochgatterers „phänomenologische“ Schreibweise setzt Wirklichkeit frei, statt sie unter dem Gesichtspunkt einer Klage oder Anklage zu arretieren. Er führt auch durchaus affirmativ und spannend vor, was ein Bewusstsein und ein Leben am Rand der Gesellschaft an Abenteuerlichkeit und Vitalität enthalten kann („Wildwasser“, „Caretta Caretta“). Hochgatterers Bücher sind nicht nur Konzentrate menschlicher Not, sondern auch Unterhaltungsliteratur im besten Sinn.
Helmut Gollner
[ Info ] Hochgatterer, Paulus: Die Süße des Lebens.
(original language: German)
Deuticke,
Wien, 2006
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ISBN: 3-552-06027-8.