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Die Heilige Krankheit

Bd. 1 Geister, Bd. 2 Schatten

B., David (Aus dem Französischen von Kai Wilksen)

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[ Buchtipp von Martin Reiterer ] David B. - eigentlich Pierre-François Beauchard - gehört zu den hervorragenden Comicautoren der jüngeren Generation. 1990 beteiligte er sich an der Gründung des französischen Verlags L’Association, der heute oft als der Autorencomicverlag par excellence zitiert wird. Hier wurden in den neunziger Jahren neue Maßstäbe im Bereich Comic (bzw. Graphic Novel) etabliert, ästhetisch wie thematisch wurden die Grenzen des bis in die 1970er Jahre hinein auf Superhelden verzauberten Mediums gesprengt, durch bahnbrechende Werke erweitert. Der Comic ist seitdem ein anderer.

David B. hat sich der Autobiografie angenommen, und was dabei herausgekommen ist, ist aufsehenerregend und erschütternd: Wie der Zufall bricht der epileptische Anfall des neunjährigen Jean-Christophes in das gewöhnliche Alltagsleben einer ganz gewöhnlichen Familie ein, als eine Störung, die alles umkrempeln wird. Alle Orientierungspunkte in der Familie werden sich verschieben. Nichts wird mehr unabhängig von dieser Krankheit geschehen, die sich nur in einem eingeschränkten Maße als "Heilige" erweist, vielleicht nicht am wenigsten in der Hinsicht, dass sie gesellschaftlich ein Tabu ist. Sie irritiert, provoziert Fassungslosigkeit, Ablehnung und Abscheu. Dagegen versucht die Familie mit diesem Phänomen umzugehen und Jean-Christophes Eltern lassen, wahrlich zu allem bereit, keine Möglichkeit aus, um ihren Sohn von seiner Krankheit zu heilen. Die immer heftiger um sich greift. Der zwei Jahre jüngere Pierre-François, Fafou, erlebt die Geschichte aus seinem Augenwinkel heraus, doch der Beobachter ist mitten drin. Erst Jahre, Jahrzehnte später wird es David B. gelingen, diese aufrührende und beklemmende Familiengeschichte Bild für Bild, Strich für Strich aufzuzeichnen und aufzuarbeiten.

Zwischen 1996 und 2004 ist die sechsteilige Originalausgabe von "L’Ascension du Haut Mal" (wörtlich: Der Anstieg des Großen Übels) in Frankreich erschienen. 2006/07 wurde der autobiografische Comicroman ins Deutsche übersetzt. Der deutsche Titel „Die Heilige Krankheit“ wirkt (wie im Vorwort angemerkt) tatsächlich etwas irreführend, umso wichtiger sind die Zwischentitel der beiden Bände: „Geister“, „Schatten“. Sie sind nämlich die geheimen Protagonisten dieses außerordentlich bildlichen Comicromans. Bemerkenswert an B.s Comicautobiografie ist, wie der kleine Fafou mit diesen überfallsartigen epileptischen Anfällen umgeht. Der Coup der Überraschung löst Wehrlosigkeit aus, Verunsicherung und Hilflosigkeit. Die Gewalt, die sich darin offenbart, erinnert ihn an die Schilderungen von Schlachten und Kriegen, von Dschingis Khan und anderen mongolischen Kämpfern. Schlachten, Gemetzel, Massaker sind es denn auch, die nun zu den Hauptsujets des kleinen Zeichners & Geschichtenschreibers werden. Aber auch umgekehrt, die Kriege, von denen seine Großeltern oder Bekannte aus Erfahrungen erzählen, die Weltkriege, der Algerienkrieg, der Indochinakrieg, korrespondieren mit den außer Kontrolle geratenen gewaltsamen Bewegungen der Epilepsie.

Während für die ganze Familie der "große Reigen der Ärzte" und Kuren aller Art beginnt und dabei die Heftigkeit und Häufigkeit der epileptischen Anfälle des Bruders nicht nachlässt, vielmehr zunimmt, wird das Zeichnen, das Erfinden von Figuren und Gestalten für Fafou zur Überlebensübung. Neben Kriegern und Kämpfern sind es mit Vorliebe Monster und Geister, Tiergestalten, Vogelmenschen, die nun zu seinen Begleitern, seinen "Gefährten" werden. Die Epilepsie dagegen tritt als krokodil- und schlangenförmiger Drache auf, der als Schatten seinem Bruder auf dem Fuß folgt, ihm auflauert und sich seines Körpers bemächtigt, von allen Seiten. Das Ungeheuer dringt selbst in die Eingeweide seines Bruders ein, doch dem Röntgenblick des Beobachters - oder ist es dessen Fantasie? - entkommt es nicht. Schließlich durchzieht der Drache als kompositorisches Motiv die gesamte Lebens- und Familiengeschichte.

Doch auch die Zugriffe der Medizin sind erbarmungslos, von grausamen Maschinen bis hin zu abstrusen Methoden, die sich ihrer Versuchsobjekte sogar erfreuen, ungeachtet der Erfolgsaussichten, so scheint es. Doch die Position des Zeichnenden ist immer wieder auch voller Zweideutigkeit und Ambivalenz. Plötzlich erscheinen die epileptischen Anfälle ihrerseits wie Zeichen und Zeichnungen. In dieser Wiedererkennung deutet sich ein prekärer Bann an, der zwischen der Epilepsie als unausweichlichem Ereignis und dem Zeichnen als Methode der Verarbeitung und Befreiung ins Werk tritt. Die Geister, die sich Pierre-François ersinnt, um die Macht der Epilepsie zu bannen, entfalten ein Eigenleben, und werden selbst bedrohlich. Im Spiegel erscheint das Zeichnen, inzwischen zur Obsession geworden, zugespitzt als seine "Form der Epilepsie". Daran sichtbar ist die Anstrengung und spürbar zweifellos der Schmerz, der in die Zeichenarbeit des Autors geflossen ist. Die surrealistischen Traum- und Schattengestalten zeugen davon, melancholisch und in üppigem Schwarz auf Weiß.

Ästhetisch kommt die Gratwanderung in dem begrenzenden Prinzip der Comic-Panels zum Ausdruck. Die kleinen gerahmten Bildchen bilden die adäquate Struktur, um den paradoxen Zeichenkampf, die "rasende Schreib- und Zeichenwut" Pierre-François darzustellen. Immer wieder scheint es, als ob sie jeden Augenblick zerplatzen, auseinander bersten würden, derart sind sie mit Gestalten und Figuren, Fantasie- und Zwischenwesen bis an ihre Ränder vollbepackt. Dann wieder lösen sich die Figuren in Zeichen und Ornamente auf, verrätseln sich zu Vexierbildern oder verdoppeln sich in Überblendungen. Unfassbar, die Wucht der Bilder, die unablässig auf den Zeichner niederprasseln, die auch nachts nicht ablassen und maskiert in Träumen herumgeistern, bevor sie in monadenhafte Panels Eingang finden.

[ Info ] B., David: Die Heilige Krankheit. Bd. 1 Geister, Bd. 2 Schatten. (original language: Französisch) Aus dem Französischen von Kai Wilksen. Edition Moderne, Zürich, 2006/2007 . ISBN: 978-3-03731-007-6 und 978-3-03731-022-9.


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