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Berlin
Bd. 1 Steinerne Stadt, Bd. 2 Bleierne Stadt (Bd. 3 erscheint 2010)Lutes, Jason (Aus dem Englischen von Silvia Morawetz)
Bild vergrößern[ Buchtipp von Martin Reiterer ] Jason Lutes' Comic-Trilogie „Berlin“ ist ein vielschichtiges Porträt der Metropole der Weimarer Republik kurz vor ihrem langsamen Untergang bis zu ihrem vollkommenen Aus. Band 1 setzt im September 1928 ein, Band 3 (erscheint 2010) endet im Januar 1933, dem Zeitpunkt der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten.
Im Zug Richtung Berlin begegnen sich der Intellektuelle und „Weltbühne“-Journalist Kurt Severing und die Kunststudentin Marthe Müller. Es sind die unterschiedlichen Zugänge, welche die beiden ProtagonistInnen kennzeichnen und verbinden - den erfahrenen, politischen Beobachter und Diagnostiker sowie die entdeckungsfreudige, begeisterungsfähige Zeichnerin und Abenteurerin. Ihre Wahrnehmungen der Stadt Berlin als konzentriertes Abbild oder Epizentrum der Weimarer Republik sind teils komplementär, teils widersprechend und kontrastiv. So erscheint Berlin als „die große, herrlich chaotische Welt“ oder als „der reinste Hexenkessel“, als Arena gebündelter Interessenkonflikte, in der sich „Kommunisten, Sozialisten, Nationalisten, Demokraten, Republikaner, Gauner, Bettler, Diebe...“ tummeln.
Nach Art des klassischen Romans beleuchten sich die Hauptgestalten und ihre Sichtweisen wechselseitig. Wie auch die anderen Figuren des Romans und die Geschichten, die sich um sie herum verzweigen, immer neue Facetten einer chaotisch komplexen Welt aufblitzen lassen. Darin ist auch das tragende Konzept von Lutes' Comicroman erkennbar. In versierten Schnitt- und Verknüpfungstechniken entfaltet sich vor den Augen der LeserInnen ein polyphoner Text-Bild-Roman.
Der historische Rahmen gibt die politisch-sozialen Themen des dreiteiligen Romans vor: Von der Weltwirtschaftskrise massiv betroffen, breitet sich explosionsartig Massenarbeitslosigkeit aus, das Misstrauen in die Demokratie wächst mit der Anhäufung sozialer wie politischer Probleme, die nationalsozialistische Bewegung erstarkt, ihre Hetzkampagnen nehmen zu, die kommunistische Linke sieht ihre Chance, die gescheiterte Revolution von 1918 nachzuholen, und der Sozialdemokratie misslingt es in ihrer Unentschlossenheit mehr und mehr, sowohl die Probleme zu lösen als auch der ansteigenden Radikalisierung der politischen Parteien etwas entgegenzusetzen. Mit dem Tod des Außenministers Stresemann (1929) verliert die Politik der Verständigung als Garantie der Demokratie ihren wichtigsten Proponenten.
Eindrucksvoll setzt Lutes ein breitgefächertes Bild einer Bevölkerung in Szene, deren Elend, und Not ständig zunimmt und deren Verzweiflung darüber sich in gewaltsamen Krawallen auf den Straßen entlädt. Exemplarisch verfolgt der Comickünstler die oft improvisierten Lebenswege einzelner Menschen und Typen und lässt in den Zwischenräumen zwischen Text und Bild deren Sehnsüchte und Träume aufleuchten, unerfüllte Sehnsüchte und geplatzte Träume, offene Enttäuschungen, aber doch auch geheime Hoffnungen.
Gegen Ende von Band 1 kulminieren die Auseinandersetzungen in den blutigen Maiunruhen 1929. Während KPD-Kommunisten und Nationalsozialisten um die Herrschaft der Straße kämpfen, eröffnet der Polizeipräsident das Feuer auf die Demonstranten. Die Folge ist neben zahlreichen Verletzten auch eine erschreckend hohe Zahl an Toten. Die Spaltung der Republik ist unübersehbar. Während eine staatliche Untersuchung der Vorfälle ausbleibt, unternehmen die Mitarbeiter der „Weltbühne“ eigenständig ausführliche Befragungen von DemonstrantInnen und Augenzeugen des ersten Mai.
Mit der „Weltbühne“ nimmt Lutes Bezug auf die deutsche Wochenzeitschrift für Politik, Kunst, Wirtschaft, die gleichsam als kritisches Gewissen der Weimarer Republik gilt. Berühmte Namen werden mit ihr in Verbindung gebracht, die wie Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky auch in dem Comicroman auftreten. Bei seinen Interviews begleitet Marthe Kurt, beide inzwischen durch eine Liebesgeschichte miteinander verbunden. Während Kurt seine Informationen über die Demonstration sammelt und notiert, porträtiert Marthe die Interviewten. Wenn die Porträtierten sich auf den Zeichnungen wiedererkennen, scheint plötzlich für einen Moment eine Identität wieder hergestellt, die durch die gesellschaftlichen Ereignisse gefährdet, zerrüttet oder gar zerfetzt war.
Mit der Gestalt Marthes dringt Lutes abseits der prekären politischen Entwicklungen zudem in den zwielichtigen Untergrund der Stadt vor, in die Clubs und Bars. Das macht aus „Berlin“ ein schillerndes Ereignis voller Kontraste und Gegenlichter. Ein solches Licht stellt auch die schwarz-amerikanische Jazzband „Cocoa Kids“ dar, die im zweiten Band eine zentrale Rolle spielt. Wenngleich sich die schwarzen Musiker aufgrund stereotyper wie rassistischer Darstellung auf den Ankündigungsplakaten ihrer Konzerte nicht wiedererkennen, ziehen sie andererseits mit ihrer Musik die Stadt in den Bann. Bemerkenswert ist, wie Lutes das Paradox gelingt, diese Musik zeichnerisch darzustellen: als eine neue Sprache der Körper, der Bewegungen, des Tanzes. Jazz steht dabei für eine Gegenkultur, deren Stimmung in einer erstaunlichen Sequenz als Symbol einer neuen Freiheit zum Ausdruck kommt: Während anlässlich der Trauerfeierlichkeiten für Stresemann aus dem Radio Brahms’ „Deutsches Requiem“ erklingt, improvisiert der Klarinettist der Band seine eigene Stimme dazu. Die Noten strömen ins Freie, umtanzen jene des Orchesterwerks, durchbrechen ihre starre Ordnung und verweben sich mit den Flugzeichen der Vögel.
Es ist auch die Freiheit, die Marthe in den unterbeleuchteten Orten der Stadt für sich entdeckt. Neben Jazzkellern und Kabaretts sind es die Treffpunkte für Lesben, an deren „prickelnde[r] Exklusivität“ sie sich berauscht. So wird schließlich die sexuelle Vielfalt der Stadt, das bunte Spektrum an Liebesbeziehungen, das sich entlang der einzelnen Geschichten entwirft, zu einem bedeutsamen Aspekt dieses vielstimmigen Romans der Großstadt, dieses bilderreichen Zeichenromans in Schwarzweiß.
[ Info ] Lutes, Jason: Berlin.
Bd. 1 Steinerne Stadt, Bd. 2 Bleierne Stadt (Bd. 3 erscheint 2010). (original language: Englisch) Aus dem Englischen von Silvia Morawetz.
Carlsen,
Hamburg, 2008/2009
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ISBN: 978-3-551-76674-8 und 978-3-551-76676-2.
Dieses Buch ist ...
Genre: Comic
Stichworte: Weimarer Republik, Jazz, Graphic Novel, Comicroman
Sprachen (Buchtipp): Deutsch