
Paradies, aus dem Englischen von Ingo Herzke drucken
[ Buchtipp von Christine Loetscher ] Hannah Luckraft träumte als Kind von einem Zirkus, den es nur in ihrer Fantasie gab: dem "wahren Zirkus" aus lauter Freaks und Ungeheuern, die ideale Familie. Später findet sie diese Familie, die sie mit Werwölfen und anderen Untoten vergleicht, im Pub, unter den Berufsalkoholikern. Beim Lesen von A.L. Kennedys neuem Roman ist man sofort betrunken, jede Seite ein Schluck Whisky. Trunkenheit im Zustand der vollständigen Nüchternheit zu simulieren ist etwas, was nur die Literatur zustande bringt. Hannah stolpert von einem Filmriss zum nächsten, versucht zu rekonstruieren, was dazwischen passiert sein könnte; als Ich-Erzählerin zieht sie uns mit von einem schwankenden Pub zum nächsten, in Flugzeuge, Züge, Autos, Kirchen, die Arme ihres Liebhabers und schliesslich ins Delirium Tremens. Wir sitzen in Hannahs Kopf und es ist wie wenn Kennedy uns die Geschichte ihrer wilden Trinkerin "von innen auf die Schädeldecke" schreiben würde (wie es in einem etwas anderen Zusammenhang einmal heisst).
Wenn Kennedy Hannahs Leidensweg mit den vierzehn Stationen des Kreuzwegs verbindet (das Buch hat vierzehn Kapitel, biblische Motive tauchen systematisch auf) entspricht das der seelischen Verfassung der Protagonistin genau. Kennedy reisst das Feld damit weit auf, und was hereinfliesst wie honigfarbener Whisky ist Transzendenz - und Humor.
[ Info ] Kennedy, A.L.: Paradies, aus dem Englischen von Ingo Herzke.
Wagenbach,
Berlin 2005
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Dieses Buch ist ...
Genre: Roman
Stichworte: innovativ, gewagt, blitzgescheit
Stil: experimentell
Empfohlen für: Sprachgenuss
Sprachen (Buchtipp): Deutsch