Documentary Fiction

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Die Europäischen Literaturtage 2013 diskutierten den Bereich des dokumentarischen Romans. Das dazu eröffnete Archiv versammelt Buchempfehlungen von readme.cc Usern. Besprechungen, die unter dem Stichwort "Roman" abgespeichert werden, erweitern das Archiv


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Marat / Sade

Weiss, Peter

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[ Buchtipp von Beat Mazenauer ] Huhn oder Ei? Respektive: Individuum oder Gesellschaft? Die klassische Frage nach dem Hebel, den eine Revolution ansetzen müsse, hat auch heute noch nichts von ihrer Brisanz verloren. Ob erst ein freies Individuum eine bessere Gesellschaft hervorbringt, oder eine freiere Gesellschaft die Voraussetzung für ein gutes Individuum ist, davon handelt Peter Weiss' Bühnenerfolg mit dem unaussprechlich langen Titel: "Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade". Damit landete Weiss 1964 seinen ersten Bühnenerfolg, der durch Peter Brooks Verfilmung 1967 zusätzliche Publizität erhielt.

Dieses vitale, vielschichtige "Weltanschauungstheater" beinhaltet im Kern einen Disput zwischen dem extremen Individualisten de Sade und dem Revolutionär Marat. Die Situation präsentiert sich wie folgt: In der Irrenanstalt zu Charenton, nahe Paris, inszeniert der hier einsitzende Marquis de Sade im Jahre 1808 mit Patienten ein selbstverfasstes Theaterstück, das die Ermordung Marats darstellt. Die Vorführung geht mal schleppend, mal turbulent vonstatten, weil die Spielenden immer wieder aus der Rolle in ihre psychotischen Zustände zurückfallen. Unter den Insassen von Charenton befinden sich allerdings nicht nur Psychoten, sondern auch soziale und politische Aufrührer wie de Sade selbst oder der Agitator Jacques Roux, der in diesem Stück mitspielt.

Der laute Aufruhr der Psychopathen gibt die Szenerie ab, in deren Mitte Weiss die beiden revolutionären Konzepte miteinander verhandelt. De Sade plädiert für die individuelle Revolte, Marat hält ihm mit der sozialen Revolution dagegen. Zwischen den konträren Positionen entspinnt sich eine Diskussion, die ins Herz aller gesellschaftlichen Veränderung zielt. Mag die Gegenwart auch unpolitisch und indifferent erscheinen, dieses Dilemma bleibt uns erhalten.

Weiss' Stück hat nicht nur gesellschaftspolitische Brisanz behalten, es ist auch ein Leckerbissen für die Dramentheorie: Die dramatische Konstruktion ist im Detail von grandioser Subtilität. Beides macht das ausgesprochen vitale Stück (oder Peter Brooks lärmigen Film) noch heute lohnenswert. Also lesen und debattieren!

[ Lieblingszitat ] SADE Du wolltest dich einmengen in die Wirklichkeit und sie hat dich in die Enge gedrängt Ich habe es aufgegeben mich mit ihr zu befassen mein Leben ist die Imagination Die Revolution  interessiert mich nicht mehr
MARAT Falsch Sade falsch mit der Ruhelosigkeit der Gedanken lässt sich keine Mauer durchbrechen Mit der Schreibfeder kannst du keine Ordnungen umwerfen Wie wir uns auch abmühen das Neue zu fassen es entsteht doch erst zwischen ungeschickten Handlungen (MS, 186f.)

[ Info ] Weiss, Peter: Marat / Sade. (original language: Deutsch) Suhrkamp, Frankfurt, 1964 .


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Marat / Sade, Film by Peter Brook, 1967

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