
Komm zurück, Mutter drucken
[ Buchtipp von Martin Reiterer ] Der Schmerz ist gut verpackt. Gar nicht einmal in Bildern oder in Worten. Nein, eher zwischen den Worten, zwischen den Bildern. In der Poesie der Worte und Bilder. Vor allem aber in Zärtlichkeiten. Versteckt hinter einer Löwenmaske. Darum gibt es hier keine Sentimentalität, nur Trauer. Aber zweifellos eine herzzerreißende Trauer.
In Hornschemeiers grafischer Erzählung geht es um Verlust. Um einen unermesslichen Verlust - den Tod der Frau, der Mutter -, den Vater und Sohn nicht wahrhaben wollen. Aus dieser Haltung des Nicht-wahrhaben-Wollens entspinnt sich eine eigene Welt, ein Reich, das es zu schützen, zu hüten gilt. Es ist ein impliziter Auftrag, den der siebenjährige Sohn ohne Anweisung versteht und auf sich selbst bezieht: So wird der Junge mit der Löwenmaske (ein Geschenk der Mutter, das er mit Vorliebe trägt) zum Hüter ihres Reichs: „Solange sie fort war, war ich der Hüter ihres Reichs: / ihr Garten, ihr Zimmer, ihr Versteck, der Wald dazwischen.“
Doch diese Haltung, die der Vater - unausgesprochen - vorgibt, an die sich der kleine Thomas klammert, treibt jenen in eine zunehmende Verwirrung. Während der Vater nach außen hin versucht, den Lebensrhythmus aufrecht zu erhalten, spürt der Sohn die allmählich um sich greifende Veränderung seines Vaters. Ein Umstand, der den kleinen Thomas immer mehr in die Position des Verantwortlichen rückt. Für die Aufrechterhaltung des Alltags. Der sorgfältige Hüter der geliebten Orte der Mutter, ihres Reichs, wird schließlich auch zum Hüter des Geheimnisses um seinen Vater - nachts sein unverständliches Gemurmel, tagsüber die eigenartige Vergesslichkeit, die Vernachlässigungen. Bis ihm irgendwann „ein Fehler“ unterläuft...
Es ist herausragend, wie subtil und präzise Hornschemeier die Erfahrungswelt und Erlebnisweise des Siebenjähren umreißt. Dieses ständige dumpfe Ertasten und Erspüren der Ereignisse, deren Tragweite er nur auf kindliche Art zu verstehen imstande sein kann. Das Vertrauteste ist ein Geheimnis. Doch in diesem Geheimnis ist sein Zuhause, muss er sich einrichten. Das alles zeigt der Zeichner in wenigen Strichen, in kindlich-einfachen, teilweise fast schematischen Zeichnungen. Die Hintergründe sind flächig und einfärbig. Doch die bildliche Leere schafft gerade Raum für die Dichte und Intensität der Erinnerungen. Die Perspektive des kleinen Jungen mit der Löwenmaske und dem roten Pelzumhang ist gebrochen durch den Blick des Erwachsenen, der diese Erinnerung rekonstruiert. Diese Erinnerung lässt sich nicht einfach heranzoomen, denn sie ist ein Konstrukt, das sich von der Gegenwart aus in die Vergangenheit vortastet. Dort, wo sie verblasst, lässt sie sich auch nicht einfach herbeizaubern, herbeizeichnen. Die gezoomten Details, die manche Panels füllen, bleiben daher flächig, sie zeigen nicht mehr als aus der Distanz bereits sichtbar war. Daran sind die Grenzen der Technik ähnlich spürbar wie in Michelangelo Antonionis Film „Blow Up“. Die Technik ist nur ein Vehikel, die Arbeit der Erinnerung kann sie nicht ersetzen. Die Gegenstände der Erinnerung selbst - aufblitzende Bilder, ob grob oder detailliert, Fragmente, Assoziationen, Orte, Rätselhaftes - erfüllen ihre Funktion vielmehr in einem Kontext: als poetisch-allegorische Verknüpfungen.
Bis ins Detail arrangiert und durchkomponiert allerdings ist Hornschemeiers Bildsprache, sind seine Bildsequenzen und visuellen Pausen ebenso wie seine Sätze, Zitatfragmente, Versatzstücke aus einer Kindheit und Reflexionen darüber. Die Ingredienzien eines Banns, der am Ende doch noch gebrochen wird. Ein Aufatmen als Auftakt nicht zu einer um sich schlagenden Zertrümmerung, sondern zu einer sanften, zärtlichen Beschwörung und Zerpflückung, die sich in diesen unglaublichen Aufzeichnungen, „Mutter, komm zurück“, selbst verkörpert und einlöst - und dennoch als uneinholbar darstellt.
[ Info ] Hornschemeier, Paul: Komm zurück, Mutter.
(original language: Englisch) Aus dem Amerikanischen von Gerlinde Althoff.
Carlsen,
Hamburg, 2007
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ISBN: 978-3-551-74877-5.