Schweizer Literaturen
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[ Buchtipp von Beat Mazenauer ] Am 16. April 1942 wird der Berner Viehhändler Arthur Bloch neben dem Markt von Payerne erschlagen, zerstückelt und im Neuenburgersee versenkt. Bloch war bei den Bauern allgemein als fairer Händler geschätzt - und trotzdem wurde an diesem Abend in den Beizen über ihn gelästert. Bloch war nicht nur Viehhändler und Berner, er war auch Jude. Dies genügt, dass ihn eine Gruppe von dumpfen Nazis zur exemplarischen Hinrichtung auserkor. Vier Tage vor Hitlers Geburtstag. Ihr Kopf war der Gelegenheitsarbeiter Fernand Ischi, der sich gerne als künftiger Gauleiter in Postur setzte. Der Fall wurde schnell aufgeklärt, Dilettantismus und Unvorsicht waren daran Schuld - doch auch die feste Überzeugung, dass der Mord den Tätern nichts anhaben konnte, weil die Deutschen sie bald schon raushauen würden.
Der 2009 verstorbene Jacques Chessex - er verstarb während einer Diskussion über sein Aufruhr erzeugendes Buch - war 1934 in Payerne geboren, er kannte diesen historischen Kasus vom Hören her. In seinem letzten Buch hat er diese verdrängte Geschichte aus der Vergessenheit gehoben, um sie wach zu halten. Payerne war und ist noch immer ein behäbiger Marktflecken, dessen Reichtum historisch vom Viehhandel und vom Tabakanbau herrührte. Sein Wahrzeichen ist "das fröhliche, speckige Schwein, das aus voller Schnauze lacht und seinen rosa Bauch ausstellt".
Unter diesem Zeichen vollzieht sich Arthur Blochs "Martyrium", das Chessex eindrucksvoll im Stil eines nüchternen Chronisten erzählt, der im Nachhinein den Fall rapportiert, was in seiner Heimatstadt einst geschehen ist, und unterschwellig danach fragt, ob solches wieder geschehen könnte. Er beschreibt sachlich den Alltag in Payerne, und wie in diesem Umfeld ein latenter Antisemitismus keimt, dessen Spitze die fanatische Verschwörerbande um Ischi bildet. Dahinter stehen freilich andere, klügere und perfider kalkulierende Agitatoren. Jean Oltremare ist einer von ihnen, und in der nördlichen Waadt der ehemalige Pastor Philippe Lugrin. Sein Hass war unbändig und grundsätzlich. Chessex schildert, wie er Lugrin nach verbüsster Haft 1964 zufällig in einem Lausanner Café gesehen und erkannt hat. Er setzte sich ihm gegenüber, nannte ihn beim Namen und wartete ab, stumm beobachtend. Daraus entsteht eine grausliche, kurze Begegnung, die Chessex erkennen lässt: "Es gibt eine absolute Perversion, dreckigste Reinheit, weissglühend über den eigenen Trümmern zum Bösen verdammt."
Der Mord sollte lediglich ein Fanal, ein Exempel darstellen, das Opfer war zufällig ausgewählt, es hätte irgendeinen Juden aus Payerne und Umgebung treffen können. Der dumpfe Hass, die böse Mordgier war blind, einzig auf dieses angeblich böse Jüdische fokussiert. Chessex will diese Geschichte loswerden, aufschreiben, im kollektiven Bewusstsein halten - auch wenn sie in Payerne lieber vergessen würde. Das Buch hat provoziert, vielleicht gerade weil es sachlich, nüchtern nacherzählt, verstehen will und nicht anklagen. Herr erbarme dich des "Schweinemarktfleckens" Payerne, "Herr, erbarme dich unser."
[ Lieblingszitat ] «Das Wahrzeichen des Marktfleckens, das fröhliche, speckige Schwein, das aus voller Schnauze lacht und seinen rosa Bauch ausstellt, dieses Zeichen selbst wird obszön, zynisch, anrüchig durch die Erinnerung an ein anderes Fleisch, das für eine schmutzige Sache geopfert und geschändet worden ist.» (S. 79.)
[ Info ] Chessex, Jacques: Ein Jude als Exempel.
(original language: Deutsch)
Nagel & Kimche,
Zürich, 2010
(2009).
Übersetzt aus Französisch von Grete Osterwald
Dieses Buch ist ...
Genre: Roman
Stichworte: Juden, Nazis, Payerne, Provinz, Schweiz, Antisemitismus
Stil: beeindruckend, biographisch, schmuckklos, sezierend
Empfohlen für: Geschichtsinteressierte, Geschichte des 20. Jahrhunderts
Sprachen (Buchtipp): Deutsch